Titelthema
"Ich habe was zu sagen und werde gehört"
Was sind eigentlich Beschwerden der Kinder? Worüber beschweren sie sich? Und wie und warum sollen sich die Fachkräfte mit diesen Anliegen auseinandersetzen? Müssen die Fachkräfte jetzt nur noch den Wünschen der Kinder entsprechen? Genau diese Fragestellungen standen im Mittelpunkt unserer Diskussion über den Passus des Bundeskinderschutzgesetzes, der Anfang 2012 die Einrichtung eines Beschwerdeverfahrens zur Verpflichtung für jede Kindertageseinrichtung (von der Krippe bis zum Hort) machte.
Antworten auf diese Fragen zu finden, ist das Anliegen unseres Modellprojekts "Ich habe was zu sagen und werde gehört - Beschwerdeverfahren für und mit Kita-Kindern entwickeln", das von Januar 2014 bis Februar 2015 lief und vom Ministerium für Soziales, Gesundheit, Wissenschaft und Gleichstellung des Landes Schleswig-Holstein unterstützt wurde. In fünf Kitas des Evangelisch-Lutherischen Kindertagesstättenwerks Lübeck haben wir mit den pädagogischen Fachkräften Verfahren für den Umgang mit den Beschwerden der Kinder erarbeitet. Das vom Verband Evangelischer Kindertageseinrichtungen in Schleswig-Holstein e. V. und den "Bildungslotsen" verantwortete Projekt will gangbare Wege aufzeigen und Anregungen zur Umsetzung auch für andere Einrichtungen liefern.
Was sind eigentlich Beschwerden?
Lotta (knapp 3 Jahre alt) steht morgens weinend im Gruppenraum. Beim Trösten fragt die Fachkraft sie, was denn passiert sei. "Ich bin gerade um die Ecke gelaufen zu Frau Bäcker, und dann war der Papa weg." Im weiteren Gespräch macht Lotta deutlich, dass sie traurig ist, weil sie sich gar nicht von ihrem Papa verabschieden konnte.
Beschwerden im Bereich von Erwachsenen werden unter anderem als Äußerungen von Unzufriedenheit verstanden, die gegenüber einem Unternehmen oder dessen Vertreter mit der Absicht geäußert werden, auf ein als schädigend empfundenes Verhalten hinzuweisen und eine Verbesserung der Situation, die Beseitigung der Beschwerdeursache oder eine Wiedergutmachung zu erreichen. (vgl. Stauss 2007, S. 49 ff.)
Diese Definition beinhaltet drei Kriterien:
- die Äußerung eines als schädigend empfundenen Verhaltens
- gegenüber der verursachenden Stelle
- mit der Absicht, eine Verbesserung der Situation, die Beseitigung der Beschwerdeursache oder eine Wiedergutmachung zu erreichen
Eine Beschwerde in diesem Sinn wird an den Be-schwerdeverursachenden gerichtet und hat das Ziel, eine Veränderung zu bewirken. Damit unterscheiden sich Beschwerden vom Petzen, Lästern oder Maulen.
Auch Lotta macht auf ein "als schädigend empfundenes Verhalten aufmerksam" und möchte für sich eine Verbesserung der Situation erreichen. Bei der Äußerung gegenüber der verursachenden Stelle (Papa) braucht sie Unterstützung und Begleitung durch die pädagogische Fachkraft. Gemeinsam mit ihr entwickelt Lotta die Idee, mit dem Papa zu "schimpfen" und ihm dann ein Bild zu malen, zur Erinnerung daran, nicht ohne Verabschiedung zu gehen.
In der Praxis machen Kita-Kinder ein "als schädigend empfundenes Verhalten" häufig nicht so direkt deutlich wie Lotta. Sie signalisieren ihre Beschwerde in vielen Fällen eher als ein (allgemeines) Unwohlsein ("Mir ist langweilig!") oder nonverbal, indem sie sich beispielsweise zurückziehen, weinen, zuschlagen oder sich anderweitig körperlich ausagieren. Diese Äuße-rungen beziehungsweise dieses Verhalten muss in einem dialogischen Prozess zwischen Kindern und Erwachsenen erst "ausgepackt" und konkretisiert werden, um daran weiterarbeiten zu können. Ein Beschwerdeverfahren sollte genau hier seinen Schwerpunkt setzen. Das heißt, es muss so strukturiert sein, dass nicht vom Kind "erwartet" wird, sich in einem vorgegebenen Rahmen zu beschweren, sondern dass jedem die individuelle Äußerung seiner Bedürfnisse und ein "Gehört-Werden" ermöglicht werden kann. Dies ist angesichts der stetig steigenden Anforderungen an die Fachkräfte im Kita-Alltag, der oft nur wenig Zeit lässt, um sich auf einzelne Situationen einzulassen und genau hinzuhören, eine große Herausforderung.
"Lisa und Emma sind gemein. Nie darf ich bestim-men", berichtet Emilia (4,5 Jahre). Die Fachkraft wendet sich ihr zu und fragt, was passiert sei. "Wir haben gespielt, und ich wollte die Mutter sein. Das wollten die beiden nicht. Nie kann ich bestimmen", erklärt Emilia. In dieser Situation kann leicht der Gedanke auftauchen, dass Emilias "Bestimmungsanspruch" ungerechtfertigt ist. Sätze wie: "Man kann halt nicht immer bestimmen" oder "Du musst ja auch nicht mit Lisa und Emma spielen. Dann spielst du eben mit anderen", könnten die Reaktion sein.
Die Fachkraft entscheidet sich in dieser Situation aber bewusst anders. Sie lässt Emilias Bedürfnis, zu bestimmen, als berechtigt stehen und versucht zu verstehen, worum es Emma geht.
"Dir ist es wichtig, zu bestimmen?", fragt sie nach. "Ja, weil ich jetzt dran bin. Vorhin durfte Lisa und dann Emma, und jetzt bin ich dran!", erklärt Emilia. "Und dass du jetzt nicht dran sein darfst, findest du nicht in Ordnung?", fragt die Fachkraft. "Ja, das ist voll gemein. Alle waren ja mal dran", sagt Emilia.
Im Dialog zwischen Kind und Fachkraft geht es zunächst darum, die Beschwerde des Kindes bewusst wahrzunehmen und als eine berechtigte Äußerung stehenzulassen. Oft ist es dabei schwierig, eigene Bewertungen ("Man kann halt nicht immer bestimmen"), die die Berechtigung der Beschwerde anzweifeln, zurückzuhalten. Auch Äußerungen, die von der Beschwerde ablenken ("Dann spielst du eben mit den anderen Kindern"), sie "kleinreden" oder negativ bewerten ("So schlimm ist das nun auch wieder nicht"), sorgen nicht für ein Annehmen der Beschwerde.
Bei der Entwicklung eines Beschwerdeverfahrens hat die Reflexion eigener Sozialisationserfahrungen und von konkreten Dialogsituationen eine hohe Bedeutung. Denn entsprechend dem Reaktionsmuster, das die Kinder vonseiten der Erwachsenen erleben, bewerten sie schließlich ihre eigenen Bedürfnisse. Die Form des Antwortverhaltens der Erwachsenen hat damit erheblichen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung jedes einzelnen Kindes und auf das Bild, das es sich von sich selbst macht. Hinter jeder Beschwerde steckt ein unerfülltes Bedürfnis. Ein glaubwürdiges Interesse und eine wertschätzende Reaktion vonseiten der Erwachsenen unterstützen die Kinder dabei, dieses Bedürfnis wahrzunehmen, es zu äußern und mit anderen Lösungen auszuhandeln.
Eigene Lösungen finden
Wenn für das Kind selbst und für den Erwachsenen klar ist, worum es geht, können im zweiten Schritt Lösungen entwickelt werden.
Die Fachkraft fragt im Gespräch mit Emilia nach: "Hast du eine Idee, was jetzt passieren soll?" "Ja, du sollst denen sagen, dass ich jetzt dran bin", äußert Emilia entschieden. "Ich war aber nicht dabei, als ihr das verabredet habt, und habe ja auch nicht mitgespielt, als Emma und Lisa bestimmen durften, deshalb kann ich das nicht einfach bestimmen. Aber wenn du möchtest, kann ich mit dir kommen und dir helfen, es selbst zu sagen", bietet die Fachkraft daraufhin an.
Im Dialog mit den Kindern ist die Versuchung, einen schnellen Lösungsvorschlag zu bieten, in vielen Fällen groß. Diese Form der Reaktion kennen viele Erwachsene aus eigener Erfahrung "Mach das doch so ... oder so ...". Aus dem eigenen Erleben kennen sie aber auch das Gefühl, dass diese Vorschläge beziehungsweise Ratschläge nur sehr selten hilfreich sind. Das Gleiche gilt für die Dialoge mit Kindern. Die Aufgabe der Fachkraft besteht hier vielmehr darin, zu moderieren. Welche Lösungsidee hat das Kind? Was braucht es zur Umsetzung? Diese Fragen stehen im Vordergrund. Dabei geht es nicht so sehr um das eigentliche Lösungs-Ergebnis. Oft steht für die Kinder der Prozess und die Erfahrung, kompetent zu sein und eigene Lösungen gefunden zu haben, im Vordergrund. Erwachsene haben dabei die Aufgabe, zuzuhören, nachzufragen und die eigenen Lösungsideen zurückzuhalten.
Die strukturelle Ebene
"Die Regenhose ist doof, die will ich nicht anziehen müssen." Was passiert mit Beschwerden, wenn sie beispielsweise Gruppen- oder Hausregeln betreffen? Diese können oft von der einzelnen Fachkraft und dem Kind nicht ohne Rücksprache mit den Team-Kolleginnen oder der Leitung geklärt werden. Für solche Beschwerden muss ein Verfahren entwickelt werden, das die Anliegen der Kinder aufnimmt und verlässlich weiterbearbeitet.
Die folgenden drei grundsätzlichen Schritte erleichtern es Kindern und Erwachsenen, das Beschwerdeverfahren im Alltag zu verankern und auch langfristigere Lösungswege im Auge zu behalten. Dabei geht es nicht darum, in jedem Fall eine ideale Lösung zu finden, die die Beschwerdeursache komplett beseitigt. Entschei-dend ist, dass das Anliegen des Kindes gesehen und gemeinsam, verlässlich und transparent an einer Lösung gearbeitet wird.
1. Aufnehmen der Beschwerden
Wenn nicht unmittelbar eine Lösung gefunden werden kann, ist es notwendig, die Beschwerden der Kinder in irgendeiner Weise festzuhalten und sichtbar zu machen. In der Praxis hat es sich zum Beispiel bewährt, eine Beschwerdewand oder einen Beschwerdekasten einzurichten. Hier können die Kinder ein Symbol für ihr Anliegen anpinnen oder hineinlegen. Dabei ist es sinnvoll, den Kindern die Möglichkeit zu geben, ein Foto von sich selbst hinzuzufügen. So wird für alle deutlich, um wessen Anliegen es geht.
2. Bearbeiten der Beschwerden
Bei einem Teil der Kinderbeschwerden ist es erforderlich, dass sich alle Fachkräfte der Kita auf eine gemeinsame Linie verständigen. Für die Bearbeitung dieser Beschwerden müssen sich alle pädagogischen Fachkräfte zunächst darauf einigen, welchen konkreten "Spielraum" die Kinder in diesem Bereich haben sollen. Gerade bei Beschwerden, die die Kita-Regeln oder die Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Kindern betreffen, gehen die Meinungen der Fachkräfte häufig auseinander.
Um eine tragfähige Regelung zu finden, ist es notwendig, die Diskussion über einzelne Aspekte so lange zu führen, bis über die jeweiligen Beschwerderechte der Kinder ein Teamkonsens erreicht wird. (vgl. Regner/Schubert-Suffrian 2013, S. 63 f.)
3. Rückversichern und den Prozess reflektieren
Ob eine Beschwerde erfolgreich bearbeitet wurde, hängt letztlich von der Beurteilung des Beschwerdeführers ab. In der Praxis heißt dies, dass das jeweilige Kind entscheidet, ob das Bild oder Symbol von der Beschwerdewand abgenommen werden kann.
Neben dieser Rückversicherung bietet dieser Pro-jektschritt aber auch die Möglichkeit, noch einmal gemeinsam mit den Kindern einen bewussten Blick auf den Prozess zu richten. "Was war der Ausgangspunkt? Welche Wege sind wir gegangen? Wie können wir beim nächsten Mal vorgehen?" So wird der Prozess allen noch einmal bewusst, und das Gelernte kann sich verfestigen. Die Reflexion ermöglicht es den Kindern, den unmittelbaren Sinnzusammenhang zwischen ihrer Beschwerde, dem Prozess der Bearbeitung und der Problemlösung noch einmal selbst herzustellen.
Besonders heikel: Beschwerden über Fachkräfte
Eine besondere Herausforderung stellen Situationen dar, in denen sich Kinder bei der Kita-Leitung (oder einer Erzieherin) über eine Fachkraft beschweren. Hier ist es die Aufgabe der Leitung, weitere Informationen zu sammeln und je nach Situation - gegebenenfalls zusammen mit dem Träger - über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Wenn es sich bei dem Beschwerdeanlass nicht um einen Übergriff oder eine strafrechtlich relevante Form von Gewalt handelt, sondern um eine unabsichtliche Grenzverletzung, geht es zunächst darum, auf der Team-/Leitungsebene nach Lösungen zu suchen. Hier ist besonderes Feingefühl gefordert, um einerseits die Interessen der Kinder im Blick zu behalten und andererseits der Kollegin ohne Gesichtsverlust eine Chance zur Verhaltensänderung zu ermöglichen.
Weitere Informationen:
www.bildungslotsen.de
Franziska Schubert-Suffrian
Erzieherin, Heilpädagogin, Dipl.-Sozialpädagogin, stellvertretende Geschäftsführerin und koordinierende Fachberaterin im Verband Evangelischer Kindertageseinrichtungen in Schleswig-Holstein e. V. und freiberuflich in der Fort- und Weiterbildung, als Coach und zertifizierte Mediatorin tätig.
Michael Regner
Ausbildung zum professionellen Coach und zertifizierten Mediator, freiberuflich in der Fort- und Weiterbildung, Organi-sationsentwicklung und als Coach tätig. Langjährige Berufserfahrung in der Kinder- und Jugendarbeit.
Literatur
- Stauss, Bernd/Seidel, Wolfgang (2007): Beschwerdemanagement. Unzufriedene Kunden als profitable Zielgruppe; München: Hanser
- Regner, Michael/Schubert-Suffrian, Franziska (2013): Partizipation in der Kita. Projekte mit Kindern gestalten; Freiburg: Herder