Titelthema
Ziellos durch die Gegend streifen
Christa Preissing vom Berliner Institut für Qualitätsentwicklung (BeKi) erläutert im Gespräch mit Thomas Thiel, wie wichtig Erkundungen außerhalb der Kita für Kinder sind und welche Erfahrungen sie dabei machen können.
In den 80er Jahren gab es die negative Einschätzung, Kita sei eher ein Hochsicherheitstrakt, in dem das Leben draußen ausgeblendet werde. Gilt das immer noch?
Zu unserem pädagogischen Blick auf das Kind, basierend auf dem Situationsansatz, gehört - nach meiner Überzeugung - nicht nur die Sicht aufs Kind als Kita-Kind, sondern als Kind, das in seiner Welt lebt, sie aktiv erkundet und ein Interesse daran hat, sie auch gestalten zu können. Ich denke da an die frühen Studien von Martha Muchow und ihrem Mann, die schon in den 30er Jahren untersucht haben, wie Großstadtkinder ihre Umwelt erforschen und erobern. Sie haben herausgefunden, dass sich diese Erkundungen spiralförmig erweitert haben - was im Übrigen durch neuere Forschungen auch bestätigt wird. Der Radius, in dem Kinder sich bewegen, wird immer größer und hat viele Schlenker.
Wir haben in den 80er Jahren in Berlin mit mehreren Kitas erprobt, was denn passiert, wenn pädagogische Fachkräfte mit jungen Kindern nach draußen gehen und das Ziel der Exkursion vorher nicht feststeht, wenn sie ziellos durch die Gegend streifen und die Fachkräfte schauen, wo bleiben die Kinder hängen, was interessiert sie. Dazu ist es erforderlich, dass die Erwachsenen hinter den Kindern hergehen und nicht die Richtung vorgeben, es zulassen, ob sie an der nächsten Ecke abbiegen oder auch nicht. Plötzlich steht da ein Tor offen und sie wollen nachschauen, was sich dahinter verbirgt. Dann gibt es oft Erstaunliches zu entdecken. Wir haben eine alte Gipserei in einem zweiten Hinterhof gefunden, von der wir auch als Erwachsene gar nicht wussten, dass es sie gibt. Da waren Arbeiter, die den Kindern zeigen wollten, was sie tun, und es dauerte nicht lange, da hatte jedes Kind Gips, um selbst Skulpturen herzustellen. Alles ungeplant und eine wunderbare Erfahrung! Wir waren überrascht, wie kinderfreundlich die Menschen waren.
Ist dieses ziellose Umherstreifen typisch für Kinder?
Nein, das machen wir ja auch als Erwachsene gerne, aber eher, wenn wir in fremden Gegenden sind, wo wir uns einfach treiben lassen und staunend überraschende Entdeckungen machen. Dieses Herumtreiben ist aber etwas, was den Kindern sehr entspricht. Ich habe selbst erlebt, wie Kinder, kaum waren sie aus der Kita, einen Gully entdeckten, der enorm gluckste. Das war spannend und die Kinder wollten herausfinden, wie tief dieser Gully wohl ist. Sie suchten in der Umgebung nach Stöcken in unterschiedlicher Länge und testeten, wie tief es da wohl nach unten geht. Daraus entwickelte sich dann ein geplantes Projekt, bei dem die Erwachsenen auch eine Rolle hatten und Fragen mit den Kindern erarbeitet haben: »Wo geht das Wasser aus unserer Toilette hin?«, »Wo landet unser Pipi und Kaka?« - Fragen, die für Kinder von großem Interesse sind. Es wurde die Funktion der Klospülung untersucht, ein Toilettenkasten auseinandergebaut. Daraus entwickelten sich Experimente mit Schwimmern und Hebeln, Zu- und Abläufe von Wasser wurden untersucht und schließlich landeten die Kinder im Wasserwerk, wo Experten befragt werden konnten. Das Spannende an solchen Projekten, die an der Lebenserfahrung der Kinder angedockt sind, ist, dass sie diese Themen auch nach Hause tragen. Auch der Spülkasten zu Hause ist interessant, und schon sind die Eltern oder Großeltern im Boot. In diesem Sommer wäre sicher auch über Wassermangel und seine Auswirkungen gesprochen worden: »Was ist, wenn es so lange nicht regnet?«, »Wie kommt es, dass in großen Städten kaum Wassermangel herrscht, aber in anderen Regionen das Wasser knapp ist?« Und schon sind wir bei Themen zur Bildung für nachhaltige Entwicklung.
Gibt es noch weitere Beispiele?
Ein anderes Beispiel, wie sich in spiralförmigen Kreisen ein Projekt von der Kita nach draußen entwickelt hat, kenne ich aus einer Kreuzberger Kita. Ausgangspunkt waren die Berufe der Eltern und die Frage, was die Kinder selbst gerne werden wollten. Noah, ein fünfjähriger Junge, hatte den Wunsch, Fahrer eines Doppeldeckerbusses oder einer U-Bahn zu werden. Gegenüber der Erzieherin sagte er aber bedauernd, dass dies wohl nicht möglich sei, weil er noch nie einen dunkelhäutigen Fahrer gesehen habe. Klugerweise hat die Erzieherin es dabei nicht bewenden lassen, sondern vorgeschlagen: »Lass uns doch mal schauen, ob wir nicht jemanden entdecken können?« Also sind sie mit der Kindergruppe zur nächsten Bushaltestelle gegangen, an der sich gleich mehrere Buslinien kreuzten. Sie haben aufmerksam geschaut, wer da denn so am Steuer sitzt. Sie konnten keinen dunkelhäutigen Fahrer entdecken, dafür aber viele Frauen, die solche großen Busse steuerten. Darüber waren einige doch sehr erstaunt! Aber die eigentliche Frage war noch nicht beantwortet, also gingen sie diesmal zur nahe gelegenen U-Bahn-Station. Die Kindergruppe hat sich geteilt, die einen beobachteten die Bahnen in der einen Fahrtrichtung, die anderen schauten in die Fahrerkabinen der Bahnen, die in der anderen Richtung unterwegs waren. Allerdings war das Ergebnis wieder das gleiche: Niemand mit einer dunklen Hautfarbe saß am Steuer, dafür wieder viele weibliche Fahrerinnen. Die Erzieherin machte den Vorschlag: »Lasst uns doch an die Berliner Verkehrsbetriebe schreiben und einfach mal nachfragen.«.
Die Kinder haben einen Brief formuliert, die Erzieherin die entsprechende Adresse rausgesucht und der Brief wurde abgeschickt an die Personalstelle der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), zusammen mit einem Foto der Kindergruppe und von Noah. Und in der Tat: Nach einer Woche kam eine erste Antwort, adressiert an Noah. Darin stand, dass die BVG angestellte Bus- und U-Bahnfahrerinnen und -fahrer aus über 100 unterschiedlichen Herkunftsländern haben, diese aber nicht nach ihrer Hautfarbe sortieren. Deswegen können sie so schnell keine befriedigende Antwort geben, aber sie werden weiter recherchieren. Nach zehn Tagen kam ein weiterer Brief mit einem Foto eines dunkelhäutigen U-Bahnfahrers in entsprechender BVG-Uniform, zusammen mit einer Einladung an Noah, mit ihm in der Fahrerkabine der U-Bahn mitzufahren und alle Fragen los zu werden, was er braucht, um einmal U-Bahnfahrer zu werden.
Warum werden so selten solche lebensweltorientierten Projekte umgesetzt?
Die Kinder werden immer jünger, und in altersgemischten Gruppen ist die Scheu groß, die Kleinsten schon auf solche ziellosen oder auch zielgerichteten Exkursionen mitzunehmen. Wir haben allerdings sehr positive Erfahrungen gemacht, dass schon mit ein- bis zweijährigen Kindern spannende Stadtteilerkundungen gemacht werden können und sie viel dabei lernen. Auch aufgrund meiner privaten Erfahrungen würde ich sagen: gerade mit ihnen, weil sie noch nicht diesen zielorientierten Blick haben und an allem interessiert sind, was ihnen begegnet.
Natürlich hat es auch mit der Fachkräftesituation zu tun, weil es bei angespannter Situation sehr aufwendig erscheint nach draußen zu gehen.
... erscheint es nur so?
Es muss nicht aufwendig und gefährlich sein, das ist auch abhängig davon, wie gelassen ich als Fachkraft bin und wie viel Zutrauen ich in die Kinder habe. Unsere Erfahrungen aus Projekten sind, dass gerade dann, wenn kritische Situationen draußen entstehen, die Kinder ungeheuer aufmerksam sind und aufeinander achten, die älteren Verantwortung für die jüngeren übernehmen und an der Seite der Fachkräfte stehen.
Natürlich machen es auch die Veränderungen in der Elternschaft schwerer, wenn schon beim geringsten Kratzer mit dem Anwalt gedroht wird. Die vielbeschworenen Helikoptereltern, die gar nicht wollen, dass solche abenteuerlichen Unternehmungen Platz in der Kita haben. Nach meiner Auffassung gehört es aber unbedingt dazu, dass Kinder die Welt in immer differenzierteren Bezügen erleben und sie sich aneignen, um sie auch gestalten zu können - auch außerhalb der Kita. Das gehört unbedingt zu ihrem Entwicklungsprozess dazu.
Gibt es denn Empfehlungen, die du aussprechen würdest an die Fachkräfte, sich auf solche ziellosen Erkundungen einzulassen?
Wir haben immer mehr Kitas, wo die Teamarbeit gut entwickelt und ein gut entwickeltes kollegiales Unterstützungssystem vorhanden ist. Dies kann es ermöglichen, dass jede Fachkraft auch mal mit einer kleineren Kindergruppe nach draußen geht und ziellos die Welt erkundet. Das geht nicht mit 15 bis 20 Kindern, aber mit fünf oder sechs Kindern ist es gut zu machen. Das sollte dann im Dienstplan auch allen anderen ermöglicht werden. Es lassen sich bestimmt auch Eltern als Begleitpersonen einbinden. Dadurch bekommen Eltern auch etwas mit von den Erfahrungen, die Kinder machen. Die Haltung, Neugier zu entwickeln und sich selbst überraschen zu lassen von Dingen, die außerhalb der Kita zu entdecken sind, sollte im Team unbedingt reflektiert werden. Einfach rumzustreunen, das eigene Staunen wiederzuentdecken ist eine wertvolle Erfahrung für Erwachsene und für Kinder.
Dr. Christa Preissing ist Direktorin des Berliner Kita-Instituts für Qualitätsentwicklung (BeKi) und Vizepräsidentin der Internationalen Akademie (INA) gGmbH an der Freien Universität Berlin.