Titelthema
Den eigenen Blick entdecken
Ich sehe was, was du nicht siehst ist ein Kinderspiel, das uns den Eigensinn des Sehens vor Augen führt. Das Spiel lädt ein, den Blick durch den Raum wandern zu lassen und zum Beispiel alles, was die Farbe »Gelb« trägt, zu suchen. Man schaut mal dahin, mal dorthin, ertastet mit den Augen Formen von Gegenständen, die alle gelb sind. Diese aktive Tätigkeit ist Sehen im eigentlichen Sinne. Es ist eine Form der Selbstbewegung. Wir erblicken Ausschnitte einer sichtbaren Welt und beziehen alle Dinge, die in dem Raum ihren Platz haben, mit ein. Anders ist es, wenn wir die Form einer Banane erkennen wollen. Dann ertasten unsere Augen Schritt für Schritt die Form und wir erkennen, ob eine Banane krumm oder gerade ist. Beim genauen Hinschauen werden eventuell grüne, gelbe oder braune Schattierungen auf der Schale sichtbar. Alles, was wir sehen, unterliegt einer ständigen Nachprüfung, ob das, was man sieht, wirklich so ist.
Das leibliche Erinnern
Im Heft sehen Sie Johannes, im Alter von 18 Monaten. Er vermag beim Betrachter Gefühle auszulösen. Auffallend ist, wie sein Blick versucht, mit dem Betrachter eine Beziehung aufzunehmen. »Guck mal! Siehst du, was ich kann?« Wir haben die Gewohnheit, Bilder intuitiv wahrzunehmen und uns einen Reim darauf zu machen, was wir in Gesichtern lesen und sehen. Ein Bild repräsentiert weniger die Wirklichkeit, sondern mehr die Wahrnehmungen, Fantasien, Erwartungen und Erinnerungen der Betrachter. Man erlebt die einem Bild innewohnende Mehrdeutigkeit. Diese Fähigkeit entdeckte bereits Leonardo da Vinci (1452 - 1519) zu seiner Zeit in der Kunst der Malerei. Beim Malen bediente er sich der Emotionen der gemalten Menschen, die er am eigenen Körper miterleben konnte. Daraus hat er ein eigenes Werk geschaffen (vgl. Klein 2008).
Die Neurowissenschaft belegt heute, dass Lächeln und Gähnen ansteckt. Sogenannte Spiegelzellen können die Planung und Ausführung zielgerichteter Handlungen steuern. Wir imitieren unbewusst Regungen unseres Gegenübers und lächeln zurück, wenn wir angelächelt werden. Freude und Nöte von Menschen können wir miterleben, wenn wir sie sehen und hören, und an ihrer Körpersprache können wir ablesen, was sie bewegt. Das ist ein kreativer Prozess des bewussten Erkennens und der Aufdeckung von Empfindungen. Sie vollziehen sich in Verbindung mit dem leiblichen Miterleben und Erinnern. Wir erspüren eine leibliche Resonanz. Es kommt etwas zurück. Das heißt: »Nicht nur die Beobachtung, jede Wahrnehmung eines Vorgangs, der bei anderen abläuft, kann im Gehirn des Beobachters Spiegelneuronen zum Feuern bringen.« (Bauer 2006) Wir werden vom anderen angesteckt.
Vorsicht, nicht kaputt machen!
Woher nehmen wir die Gewissheit, dass das beobachtbare Verhalten anderer uns ein sofort verfügbares, intuitives Wissen über den weiteren Ablauf eines Geschehens vermittelt? Auf einem zweiten Bild beispielsweise glauben wir intuitiv zu sehen, was zu erwarten ist. Doch das Phänomen der Beobachtung ist, dass wir in Bruchteilen von Sekunden neue Eindrücke mit unseren eigenen Erfahrungen abgleichen, die in unserem Gedächtnis gespeichert sind und an die wir unbewusst erinnert werden. So kann die Wahrheit über das, was wir sehen, mehrdeutig sein. Um eine Ahnung von dem zu bekommen, was ein Kind bewegt, müssen wir es aus mehreren Perspektiven beobachten. Auch Worte wie »Vorsicht, nicht kaputt machen!« gehören dazu und hinterlassen Spuren im Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen von Kindern. Sie erzeugen bei ihnen eine Resonanz und werden unbewusst gespeichert. Sie prägen spätere Verhaltensweisen der Kinder. Die Wirkung der Worte liegt meistens auf der Betonung, es ist wichtig, wie etwas gesagt wird. Im Vergleich dazu wirkt die Körpersprache am stärksten. Augen, Mund und Hände, die Mimik und Gestik, sagen viel mehr aus über die Haltung und das Verhalten des Menschen. Wie der Mensch sich im Raum bewegt, wo er steht oder sitzt, hinterlässt Eindrücke beim Beobachter.
Jeder Mensch hat ein individuelles und besonderes Feingefühl, auf andere zu reagieren. Kinder haben sensible Antennen. Sie prüfen auf ihre Weise immer wieder, ob noch Vertrauen herrscht oder Angst bei ihrem Gegenüber wahrnehmbar wird. Dieses intuitive Erspüren einer Atmosphäre oder das Enträtseln von Botschaften setzen ein ständiges Beobachten und Lauschen voraus. Je schärfer der Blick ist, desto besser kann man Resonanz erspüren, kann man spüren, was zwischen dem Kind und dem Erziehenden zum Klingen kommt. Es gilt immer wieder Augenblicke zu erkennen, wann das Kind eine empathische Zuwendung benötigt und wann es eine warme Führung der Hand braucht. Kinder stellen uns immer wieder auf eine mentale Probebühne eigener Selbstkontrolle.
Der eigene blinde Fleck
Gewohnheiten haben uns in gewisser Weise darauf konditioniert, aus dem was wir sehen, etwa aus körperlichen Bewegungen anderer Menschen, Schlüsse zu ziehen. Dieses »Schnellerkennungsverfahren« (Bauer 2006) arbeitet spontan und vor allem unabhängig davon, ob wir unseren analytischen Verstand nutzen oder nicht. Dazu reichen erstaunlich wenige Merkmale, zum Beispiel für die Erkenntnis, dass »Gelb« und »Banane« zusammengehören. Oder dass »Glas« und »Kind« ein Indiz dafür sein kann, zu sagen: »Vorsicht, nicht kaputt machen!« Die Frage bleibt offen, was das Kind tatsächlich beabsichtigt mit seinem Tun. Wie wir auf den Bildern im Heft sehen, ist Johannes selbst in der Lage, seiner Neugierde planvoll nachzugehen. Diese Steuerung und Kontrolle obliegen dem Menschen selbst und erfordern Übung und Wiederholung.
Ein feinsinniges rationales Denken ist ein wesentlicher Bestandteil eigener Wahrnehmung. Das Sehen ist ein komplexer Vorgang, bei dem Aufmerksamkeit und Bewusstheit, Selbststeuerung und Selbstkontrolle sich gegenseitig beeinflussen. Das heißt, zum Sehen gehört auch die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und abwarten zu können. Man muss Dinge einblenden, ausblenden und das Wesentliche scharf fokussieren. Es ist ein stiller Dialog zwischen einem selbst und dem Auslöser - hier das Kind. Ein Kind zu beobachten und diesem stillen Dialog zu lauschen ist als pädagogische Leistung anzuerkennen. Zugleich ist es auch ein wichtiges Übungsfeld, immer wieder den eigenen Blick zu schärfen und zu wissen: Auch ein Kind weiß, was es tun will. Es will seine Selbstwirksamkeit erleben und diese mit anderen teilen.
Beim Lauschen öffnet sich ein zwischenmenschlicher Raum, um sich selbst und das Tun des Kindes wahrzunehmen und zu verstehen. Wir schaffen uns einen eigenen Raum, entdecken schöpferische Impulse von Wahlmöglichkeiten im Denken und Handeln. Je länger man bewusst und konzentriert seine Gedanken auf den gegenwärtigen Prozess des Geschehens richten kann, desto eher bemerkt man, wie sich die Wahrnehmung verändert. Man wird sensibler und entdeckt feine Unterschiede. Es wird einem bewusst, dass das, was wir sehen und hören, wir schon in Beziehung mit anderen erlebt haben. Die Frage ist: »Wer bist du?« Sie öffnet den Blick und das Interesse, anders sehen, hören, fühlen und handeln zu wollen. Jeder Blick trägt eine Vorgeschichte mit sich und ist in gewisser Weise eingefärbt oder unscharf, weil man eben oft das sieht, was man sehen will.
Gefühlsansteckung, Empathie und Perspektivenübernahme
Der Ausdruck »Wahrnehmung« beschreibt einen Vorgang, bei dem unvorhersehbare Impulse wachgerufen werden. Es wird spürbar, wie Emotionen erlebt werden. Gefühlsansteckungen sind ein Ausdruck emotionaler Mitschwingungsfähigkeit. Bei Kleinkindern erlebt man sie im ersten Lebensjahr als Einfühlungsvermögen und Einsichtsfähigkeit in die subjektive Verfassung einer Person (vgl. Stern 1991). Wissenschaftlich ist belegt, dass Kleinkinder bereits ab dem dritten Monat Gefühlsunterschiede zwischen Angst und Freude in Gesichtern anderer lesen können. Dieses Phänomen der Gefühlsansteckung kann als Stimmungsübertragung beschrieben werden.
Im zweiten Lebensjahr tritt Empathie als erster Mechanismus auf, eine Einsicht in die subjektive Verfassung einer anderen Person zu gewinnen. Das geschieht aufgrund der Teilhabe an der Emotion oder auch Intention des anderen. Die Reaktion wird durch das Ausdrucksverhalten eines anderen hervorgerufen oder auch durch eine Situation (vgl. Bischof-Köhler 2010). Die Erkenntnis liegt in der Qualität des empathischen Empfindens. Dieses mitempfundene Gefühl bezieht sich auf den anderen. Ein Beispiel: Emma ärgert sich, weil Luca auf der Schaukel ist. Sie zieht ihn an den Haaren und er schreit. Dann lässt sie ihn los und probiert etwas anderes aus, ihm ihren Willen mitzuteilen. Bei der hier beschriebenen Filmsequenz aus dem Film »Lass mich spielen« kann man beobachten, wie die beiden Kinder im Alter von zweieinhalb Jahren sich gegenseitig ihre Gefühle mitteilen.
Empathie unterscheidet sich wiederum von der Perspektivenübernahme. Es gilt klar zu trennen zwischen »Ich« und »Du«. Jeder kann nur selbst mitteilen, was er fühlt. Bei der Perspektivenübernahme spricht man von einer sensiblen Rationalität. Man kann sich in die Lage des anderen hineindenken, ohne davon emotional berührt zu sein. Denn, wenn wir nur Gefühl oder Intellekt benutzen, kann es einen in die Irre führen (vgl. Bauer 2006). In der kindlichen Entwicklung tritt diese Perspektivenübernahme erst im vierten Lebensjahr auf (vgl. Bischof-Köhler 2010).
Guck mal!
Jedes Detail, jede Bewegung spricht. Auf den Bildern können wir die Körpersprache des Kindes lesen. Wir erleben die Vieldeutigkeit der Wahrnehmung. Und diese lehrt uns den psychischen Effekt der autonomen Blickweise. Diese Kunst der Beobachtung kann man auch im Team erleben, wenn Sie zum Beispiel gemeinsam eine Filmsequenz anschauen. Jedes Teammitglied wird etwas anderes sehen. Beim Zuhören erlebt man, wie jeder Beitrag eine Nuance der Veränderung oder etwas Neues ans Licht bringt. Der Blick öffnet sich, Dinge auch anders zu sehen. »Die wahre Entdeckung besteht nicht im Finden von neuen Ufern, sondern im Sehen mit anderen Augen.« (Marcel Proust)
Auf Signale von Kindern reagieren
Eine Hospitantin hat mir mal gesagt: »Es ist interessant zu beobachten, wie unterschiedlich Sie auf Signale von Kindern reagieren.« Ist das eine Aussage darüber, wie ich mich im Raum bewege? Lauschen ist der Beginn einer Entdeckungsreise, sich selbst und die Kinder neu kennenzulernen. Man übt sich in der Offenheit für das, was in der Begegnung mit dem Kind zu Wort kommen will. Man bemerkt zum Beispiel, wie jedes Kind auf unterschiedliche Art und Weise unsere Aufmerksamkeit einfordert. Und man erlebt Grenzen eigener Wahrnehmung. Wenn man mit einer Gruppe von zwölf Kindern zusammen ist, kann man nicht alle Kinder auf einmal sehen und jedes mit gleicher Aufmerksamkeit im Blick haben. Unser Blick wandert durch den Raum, mal hierhin, mal dorthin, er ist ständig in Bewegung. Dabei kann man erstaunliche Entdeckungen machen.
Zum Beispiel habe ich gesehen, wie Martin, fünf Jahre alt, mit nacktem Oberkörper am Tisch steht. Ein Handtuch liegt ausgebreitet auf dem Tisch, eine weiße Emailschüssel und eine Gießkanne stehen daneben. Was bewegt Martin? Bereitet er eine Wasserschlacht vor? Er bemerkt, dass ich ihn aus der Ferne beobachte, dann sagt er: »Ich tue mein Gesicht ins Wasser und schaue, wie lange ich unter Wasser bleiben kann.« Das hat mich überrascht und ich konnte den Sinn seiner Übung teilen und verstehen.
Sehenlernen heißt für den Erwachsenen: beobachten, innehalten und sich zurücknehmen können. Nur so kann man eigene »Stolpersteine« erkennen. Man entwickelt ein Vertrauen, spontan auf Äußerungen von Kindern zu reagieren. Kinder haben viele verschiedene Sprachen, wie sie uns ihre Bedürfnisse mitteilen. Ihr »magisches Denken« ist die schöpferische Kraft der Kinder und ein Denken in Bildern.
Fazit
Eindrücke, Erlebnisse, Wiederholungen und Reflexionen sind Erfahrungen im Umgang mit Menschen. Sie entwickeln sich im Zusammenspiel immerfort aus der Wiederholung, Variation und Gewissheit, was man selbst tut. Dieses Lernen und Üben ist ein aktives (Ver-)Suchen und anderes Sehen. Jeder entdeckt den eigenen Blick in Bewegung, nämlich »einen Störenfried nicht als Störenfried zu sehen, sondern als einen Menschen, der uns auf besondere Weise seine Bedürfnisse mitteilt« (Fuchs 2004). Wenn wir uns selbst bewegen, »lesen« wir Kinder anders und entdecken Merkmale, die uns vielleicht bisher bedeutungslos erschienen oder uns erst gar nicht aufgefallen sind.
Gerburg Fuchs
Seit 1990 freischaffende Bewegungstherapeutin, Pädagogin und Künstlerin in der Arbeit mit verhaltens originellen Kindern; European Master of childhood and childrenrights, Freie Universität Berlin.
Literatur
Bauer, Joachim (2006): Warum ich fühle, was du
fühlst; München: Wilhelm Heyne Verlag
Bischof-Köhler, Doris (2010): Zusammenhang von
Empathie und Selbsterkennen bei Kleinkindern, in:
Damman, Gerhard/Meng, Thomas (Hrsg.), Spiegelprozesse
in Psychotherapie und Kunsttherapie;
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Fuchs, Gerburg (2004): Die Pädagogik des Lauschens;
Weilheim: Edition Zwischentöne
Fuchs, Gerburg (2011): Wer bist du? Blickschulung
für die frühkindliche Entwicklung; mit Lehrfi lm; Köln:
Carl Link Verlag
Klein, Stefan (2008): Da Vincis Vermächtnis oder
Wie Leonardo die Welt neu erfand; Frankfurt:
S. Fischer Verlag
Stern, Daniel N. (1991): Tagebuch eines Babys. Was
ein Kind sieht, spürt, fühlt und denkt; München:
Piper Verlag
Zulliger, Hans (1963): Heilende Kräfte im kindlichen
Spiel; Stuttgart: Klett Verlag