Titelthema
Armutssensibles Handeln in der Kita
Armut betrifft viele Kinder - laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung1 wachsen in
Deutschland mehr als 17 Prozent der unter Dreijährigen in Familien auf, die von staatlicher Grundsicherung leben. Für über die Hälfte der Kinder ist Armut keine vorübergehende Episode in ihrem Leben, sondern ein anhaltender Lebenszustand. Armut hat viele Gesichter - auch in der Kita. Beim Spielzeugtag kommentiert Noah Tims mitgebrachtes Star-Wars-Schwert: »Äh, das ist ja gar nicht cool, meins ist das neue, hat mir meine Mama gestern gekauft.« Oder: Kim ist traurig. Er kann nicht mit den anderen Kindern zum Eislaufen gehen, weil seine Eltern diesen Zusatzbeitrag nicht bezahlen können. Welche Eltern zahlen immer spät oder gar nicht in die Geburtstagskasse ein? Welche Eltern bringen nie Taschentücher oder Windeln mit? Pädagogische Fachkräfte kennen solche oder ähnliche Situationen aus der Arbeit mit Kindern und ihren Familien, weil die unterschiedlichen sozioökonomischen Verhältnisse, in denen Kinder aufwachsen, auch in den Kita-Alltag hineinwirken. Auch Kinder selbst nehmen diese Unterschiede wahr. Sie registrieren genau: Wer hat Turnschuhe der angesagten Marke? Wessen Familie verreist nie?
Entgegen der weit verbreiteten Meinung ist Armut in der Regel nicht selbst verschuldet, sondern vielmehr das Ergebnis daraus, dass Ressourcen und Rechte in unserer Gesellschaft ungleich verteilt werden. Bestimmte Gruppen von Menschen haben leichter Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe als andere.
Die ungleiche Verteilung und die Ungleichbehandlung werden mit ideologischen Denkmustern gerechtfertigt: Klassismus ist die diskriminierende Ideologie, die glauben lässt, dass die Menschen ihre Benachteiligung »selbst verschuldet« hätten. Klassismus beruht auf der Idee der »Meritokratie«, die besagt, dass alleine die persönliche Leistung eines Menschen seinen gesellschaftlichen Status bewirkt und dass strukturelle Benachteiligungen keine Rolle spielen. Dies führt dazu, dass Menschen, die über ein geringes Einkommen verfügen, auf Transferleistungen angewiesen sind oder einen niedrigen Bildungsabschluss haben, zusätzlich Stigmatisierung, Herabwürdigung und Diskriminierung erleben. Klassistische Überzeugungen werden von den Einzelnen verinnerlicht, sie gelten als »normal« und »selbstverständlich« und sind deshalb besonders wirkmächtig: »Die Klasse, in die jemand geboren wird, prägt das Verständnis für die Welt und die Zugehörigkeit. Die Klasse bestimmt die Ideen, das Verhalten, Einstellung, Wertigkeiten und Sprache. Sie bestimmt, wie jemand denkt, fühlt, handelt, aussieht, spricht, sich bewegt, (…) sie bestimmt die Arbeit, die wir als Erwachsene machen (…). Klasse betrifft alle Bereiche unseres Lebens (…). In anderen Worten: Klasse ist ein soziales Konstrukt und allumfassend.«2
Ein diskriminierungskritischer Blick auf Armut und klassistische Machtverhältnisse erfährt in der Kita sowie gesamtgesellschaftlich zu wenig Aufmerksamkeit. Dieser Blick ist jedoch wichtig, um soziale Ausgrenzung nicht zu reproduzieren. Welche Auswirkungen haben klassistische Machtverhältnisse auf die Identitätsentwicklung sowie die Bildungsprozesse von Kindern? Wie sind Klassismus und andere Diskriminierungsformen dabei miteinander verstrickt? Welche Barrieren müssen abgebaut werden? Wie können pädagogische Fachkräfte den Auswirkungen von Klassismus und Armut begegnen und Kinder in ihren Identitäten und ihrer Entwicklung stärken?
Um diesem Handlungsbedarf zu begegnen, stellten wir, die Fachstelle Kinderwelten, unsere alljährliche Tagung, die Baustelle Inklusion, im Jahr 2018 unter das Motto »Armut ist Diskriminierung! - Klassistische Barrieren in Kita und Grundschule erkennen und abbauen«. Die Ergebnisse dieser Tagung fließen in diesen Artikel ein.3
Vorurteile gegenüber Menschen in Armutslagen - »Haste nix, biste nix«
Ohne Geld kann in unserer Gesellschaft niemand (über-)leben. Geld zu haben oder nicht ist in unserer Gesellschaft mit Werten verbunden. So bedeutet ausreichend Geld zu haben gleichzeitig kompetent, verantwortungsvoll, fleißig und »richtig und gut« zu sein. Im Umkehrschluss ist zu wenig Geld zu haben verbunden mit Unfähigkeit, Verantwortungslosigkeit, Faulheit und Fehlerhaftigkeit. Der Blick fällt so nicht auf die gesellschaftlichen Strukturen, die Armut produzieren und bestimmten Gruppen von Menschen Zugänge zu finanziellen Ressourcen erleichtern oder erschweren. Dazu zählt, dass es für Alleinerziehende zu wenig Kinderbetreuungsmöglichkeiten gibt, dass Neuzugewanderte keine ausreichenden Möglichkeiten haben, ihre Bildungsund Berufsabschlüsse in Deutschland anerkennen zu lassen, dass Kinder von Studierten bei gleichen Leistungen leichter eine Gymnasialempfehlung erhalten als Kinder von Nicht-Studierten, um nur einige Beispiele für strukturelle Benachteiligungen zu nennen, die bestimmte gesellschaftliche Gruppen besonders treffen.
Was können pädagogische Fachkräfte tun?
Die Koppelung von »Geld haben« mit Kompetenz und »kein Geld haben« mit Inkompetenz kann dazu beitragen, dass es pädagogischen Fachkräften schwerfällt, in der Kita das Thema Armut auf die Tagesordnung zu setzen. Sie möchten die Kinder und ihre Familien nicht beschämen: »Über Geld spricht man nicht!« Wie lässt sich aber beispielsweise das Sommerfest in der Kita so gestalten, dass alle Familien unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen daran teilhaben können? Hier ein Beispiel:
Das Team einer Kita in Kreuzberg diskutierte heftig darüber, wie viel ein Stück Kuchen kosten solle. Eine Erzieherin meinte, dass 20 Cent pro Stück wohl für alle leistbar wären, während eine andere einwandte, dass das schon viel Geld sein könne, wenn Eltern gerade gar kein Geld hätten, das Kind mehr als ein Stück Kuchen essen wolle oder es mehr Kinder in der Familie gäbe. Es gab auch die Meinung, dass man halt lernen müsse, mit dem auszukommen, was man habe, »so wie man selbst ja auch damals, als man alleinerziehend war und mit dem bisschen Erzieherinnengehalt klarkommen musste …« Schließlich einigten sich die pädagogischen Fachkräfte darauf, den Versuch zu wagen und den Essensverkauf über Spenden zu regeln, also freiwillig und nach Selbsteinschätzung. Sollte auf diese Weise nicht genügend Geld eingenommen werden, um die Unkosten zu begleichen, wollten sie dies auf der nächsten Elternversammlung ansprechen. Am Ende des Festes stellten sie fest, dass sie entgegen aller Erwartungen mehr Geld eingenommen hatten als all die Jahre davor mit einem festgesetzten Preis für das Essen.
Die Vorbehalte, die eine der Berliner Erzieherinnen äußerte, dass sie selbst eben auch mit wenig Geld auskommen musste und ihr das auch gelungen sei - im Gegensatz zu anderen Eltern heutzutage in der Kita -, zeigen, wie wichtig es ist, eigene stereotype Vorstellungen in Bezug auf Geld und Armut in den Blick zu nehmen, ihre Konsequenzen für das pädagogische Handeln kritisch zu reflektieren und gemeinsam eine konstruktive Praxis zu entwickeln. Hilfreiche Fragen können dabei sein: Was hat mir geholfen, mit dieser schwierigen Situation gut umzugehen? Welche Ressourcen habe ich mitgebracht? Was hat es mir schwer gemacht? Was war für mich förderlich? Wer hat mich unterstützt? Wenn diese Aspekte reflektiert sind, kann es gelingen, mit mehr Verständnis auf die jeweiligen Familien in der Kita zu schauen: Was sind die Bedingungen, unter denen die einzelnen Familien leben? Was ist vergleichbar mit meiner Situation, wo sind Unterschiede?
Stolpersteine
Werden die eigenen Bilder in Bezug auf Armut nicht reflektiert, besteht die Gefahr, mit paternalistischem Blick auf Familien in Armutslagen zu schauen. Auch diese Eltern haben das Recht, selbst zu entscheiden, wofür sie ihr Geld ausgeben, solange das Wohl des Kindes gesichert ist. Eine Mutter, die staatliche Leistungen bezieht, hat sehr wohl das Recht, einen Teil des Geldes zum Beispiel für Haar-Extensions auszugeben, auch wenn nach Einschätzung der pädagogischen Fachkräfte das Geld besser in Kinderbüchern angelegt wäre. Wenn dann dieses Kind in Schuhen läuft, die viel zu klein sind, müssten die Eltern allerdings in einem einfühlsamen Elterngespräch von den pädagogischen Fachkräften darauf aufmerksam gemacht werden, dass zu kleine Schuhe schädlich für das Kind sind. Gemeinsam mit den Eltern gilt dann herauszufinden, woran das liegt, dass das Kind keine passenden Schuhe trägt, und wie dem abgeholfen werden kann. Im Übrigen bemühen sich, entgegen dem landläufigen Vorurteil, sehr viele einkommensschwache Eltern nach Kräften ihre Kinder gut zu versorgen. Sie verfügen oft über ein ausgeprägtes Wissen, wo es günstig Kinderkleidung, Möbel oder Essen gibt oder auf welche staatlichen Leistungen sie ein Anrecht haben, wie Gerda Holz in ihrer Studie zu Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche darlegt.4 Sich dieses Wissen anzueignen ist eine Kompetenz, die für arme Familien überlebenswichtig ist. Häufig wird diese Kompetenz abwertend kommentiert, »diese Familien wissen immer, wo etwas umsonst zu holen ist«.
Was ist zu beachten?
Bei der Arbeit mit Familien darf finanzielle Armut kein Tabu sein. Vertrauensvolle Beziehungen ermöglichen es pädagogischen Fachkräften, Unterstützungsbedarfe frühzeitig zu identifizieren und den pädagogischen Alltag so zu konzipieren, dass alle Kinder gleichberechtigt teilhaben können. Hierzu kann der Ansatz der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung einen entscheidenden Beitrag leisten. Ein grundlegender Aspekt lautet dabei, diese Kinder und ihre Familien nicht als einzige »herauszustellen« und so zu stigmatisieren. Um zu verhindern, dass sich einkommensschwache Familien »outen« müssen, hat sich beispielsweise ein Kita-Team dazu entschieden, eine Ecke mit gebrauchter Kinderkleidung und Spielsachen einzurichten, so dass alle dazu Zugang haben, im Vertrauen darauf, dass sich niemand mehr nimmt als nötig. Zusätzliche Angebote wie Kinderturnen oder Theaterbesuche sollten grundsätzlich für alle kostenfrei sein. Ist dies nicht wie in einigen Bundesländern gesetzlich vorgeschrieben, können solche Angebote beispielsweise über freiwillige und anonyme Spenden der Eltern oder von Menschen aus dem Stadtviertel finanziert werden.
Die Vorurteile, die es in unserer Gesellschaft gegenüber armen Menschen gibt, beeinflussen auch Kinder. Mit den Worten »Schau mal, der ist faul, der arbeitet nicht«, weist die fünfjährige Luisa ihren Kindergartenfreund Issam beim Kita-Ausflug auf den Obdachlosen am Supermarkteingang hin. Wie können pädagogische Fachkräfte Kinder darin unterstützen, Vorurteile gegenüber Menschen, die in Armut leben, abzubauen, Wertschätzung für Vielfalt zu fördern und Ausgrenzung zu widerstehen? Hilfreich können dabei Kinderbücher sein, die Armut und Klassismus thematisieren. Anregungen dazu finden Sie in der Liste der Fachstelle Kinderwelten.5
Des Weiteren gilt es, einen kritischen Blick auf Strukturen und Aktivitäten dahingehend zu richten, ob sie (ungewollt) Kinder aufgrund ihrer sozioökonomischen Situation ausgrenzen, wie zum Beispiel der Spielzeugtag. Auch die Interaktion mit Kindern gilt es zu reflektieren. Beziehen sich positive Kommentare von pädagogischen Fachkräften eher auf neue Kleidungsstücke von Kindern, so kann das schmerzlich für diejenigen Kinder sein, die die Kleidung von älteren Kindern auftragen oder auf die Spenden der Kleiderkammer angewiesen sind. Und die Frage am ersten Kitatag nach der Schließzeit im Sommer: »Und wo warst du im Urlaub?« kann es Kindern schwer machen, zu sagen, dass sie zu Hause waren..
Klassistische Strukturen im eigenen professionellen Handeln zu hinterfragen ist ein Prozess. Er lohnt sich, weil er zu mehr Gerechtigkeit beiträgt.
Gabriele Koné
Dipl.- Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für den Situationsansatz (ISTA)/Fachstelle Kinderwelten im Bereich Entwicklung vorurteilsbewusster Medien und Materialien, Fortbildnerin für den Ansatz vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung.
Anmerkungen
1 www.bertelsmann-stiftung.de/es/publikationen/publikation/did/armutsmuster-in-kindheit-und-jugend/
(Zugriff am 05. 11. 2018)
2 Langston, Donna (2000): Tired of Playing Monopoly?, in: Adams, M. (Hrsg.): Readings for diversity and social justice, New York [u. a.]: Routledge.
3 Dokumentation der Tagung demnächst unter https:// situationsansatz.de/fachstelle-kinderwelten.html
4 www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Studie_WB_Armutsfolgen_fuer_Kinder_und_Jugendliche_2016.pdf (Zugriff am 05. 11. 2018)
5 https://situationsansatz.de/files/texte%20ista/fachstelle%20kinderwelten/kiwe%20pdf/B%C3%9CCHERLISTE_ARMUT_2018.pdf
Weiterführende Literatur:
• Dermans-Sparks, Louise/Olsen-Edwards, Julie (2010): Lernen über sozioökonomischen Status & Gerechtigkeit; Quelle: https://situationsansatz.de/files/texte%20ista/fachstelle%20kinderwelten/kiwe%20pdf/Lernen%20%C3%BCber%20sozio%C3%B6konomischen%20Status%20&%20
Gerechtigkeit.pdf
• Wagner, Petra (2006): »Warum sagt Aschenputtel denn nichts?« Soziale Ungleichheit und vorurteilsbewusste Bildung in Kindertageseinrichtungen; Quelle: www.kindergartenpaedagogik.de/1679.html