Vom Sputnik-Schock zum Situationsansatz
Im Juni 2012 feiert der Verband Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder (KTK) - Bundesverband e. V. sein 100-jähriges Jubiläum. In unserer Serie wollen wir zurückblicken auf einschneidende Ereignisse in der Geschichte des Verbands. In dieser Ausgabe nimmt Marianne Krug das Reformgeschehen im Elementarbereich ab den späten 60er Jahren in den Blick.
Seit Beginn seiner Entwicklung in der ersten Generation der Kindergarten-Modellversuche (1969 bis 1973) kann man den Situationsansatz als eine Antwort auf die Bildungsfrage im Elementarbereich sehen. Das Besondere seiner Konzeptentwicklung bestand in der diskursiven Auseinandersetzung mit jeweils aktuellen Fragestellungen in der Lebenswelt von Kindern. Mit seinem institutionenskeptischen, dynamischen und entwicklungsoffenen Charakter besitzt er auch nach 40 Jahren Anregungspotenzial. Exemplarisch lässt sich dies am "Projekt Landkindergärten" zeigen, das vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) initiiert zusammen mit 29 Kindergärten aus fünf Diözesan-Caritasverbänden in drei westlichen Bundesländern 1987 bis 1990 durchgeführt wurde.
Ausgangspunkt: Kritik am traditionellen Kindergarten
Zum Ende der 60er Jahre sah sich der bundesdeutsche Kindergarten vielfacher Kritik von den unterschiedlichsten Seiten ausgesetzt. Abgesehen davon, dass damals in der Bundesrepublik nur für weniger als ein Drittel der drei- bis sechsjährigen Kinder überhaupt ein Platz in einer Einrichtung vorhanden war und von Chancengerechtigkeit in der vorschulischen Bildung nicht die Rede sein konnte, ist Dokumenten kirchlicher Trägerverbände wie auch von Pädagogen aus diesen Jahren anzumerken, wie schwer sich die angestammten Verantwortungsträger - zu einem großen Teil in kirchlichen Verbänden organisiert - damit taten, plötzlich in den Fokus bildungspolitischer Auseinandersetzungen geraten zu sein: In der Kritik standen die tradierten religionspädagogischen Praktiken ebenso wie die ritualisierte Pädagogik, die vielerorts aus vereinfachten Formen Fröbelscher Spielpflege, inhaltsarmer beschäftigungspädagogischer Angebotspraxis, musischen Elementen und viel Regelwerk (um den "letzten Schliff" für die bevorstehende Einschulung zu bekommen) bestand.
Aus der Rückschau fällt auf, dass zu Beginn der Reformphase die organisatorische Verfasstheit der Kindergartenlandschaft kaum wahrgenommen wurde: Die beiden vielbeachteten Publikationen des Deutschen Bildungsrats von 1970 und 1973 lassen die jugendhilfespezifische, trägerplurale Struktur der Kindergartenlandschaft unerwähnt; kirchliche und andere subsidiäre Träger kommen, wenn überhaupt, dann eher als Beleg für das strukturelle reformbehindernde Chaos des bundesdeutschen Kindergartens vor. Mit dem Vorschlag zur Zuordnung der Fünfjährigen zum Schulsystem wäre den angestammten Trägern vorschulischer Erziehung lediglich eine Art Restkindergarten verblieben, was vermutlich den endgültigen Entzug bildungspolitischer Aufmerksamkeit bedeutet hätte.
Es war wohl ein mühsamer Prozess, bis sich die freien Trägerverbände schließlich dazu bereitfanden, selbst eine aktive Rolle im Reformgeschehen des Elementarbereichs mitzuspielen, trägereigene Kindergärten an Modellversuchen teilhaben zu lassen und deren Diskussionen in die eigenen verbandlichen Reihen hineinzutragen. Ein wichtiges Forum dafür war für die freien Träger der Fachausschuss frühkindliche Erziehung der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ). Auf katholischer Seite spielte der diskussionsfreudige und allzeit innovationsinteressierte Heribert Mörsberger vom damaligen Zentralverband katholischer Kindergärten und Kinderhorte Deutschlands e. V. eine wichtige Rolle.
Wurzeln und Flügel des Situationsansatzes
Um ein bekanntes Goethe-Wort zur Kindererziehung abzuwandeln: Die Wurzeln des Situationsansatzes gründeten neben den kindergartentypischen Strukturmerkmalen (Familiennähe und Einbindung ins Gemeinwesen, Lernen in altersgemischten Gruppen, Alltagsorientierung und Spielpflege) im Diskurs mit den beteiligten Praktikerinnen. Es galt, das Arrangement des Kindergartens bewusst nicht als Reformhindernis zu begreifen, sondern als Qualitätsrahmen für eine andere - die informellen Alltagskontexte erschließende - Bildung zu begreifen.
Dieser Weg der partnerschaftlich organisierten, fördernden Begleitung von Sozialisationsprozessen entsprach den Arbeitsweisen in der Jugendhilfe und war eine markante Alternative zum vorgezogenen Fächertraining. Wir fragten: Was von eurer Arbeit seht ihr als zukunftsfähig an und was wollt ihr in die Kindergartenreform einbringen? Wo erlebt ihr die aktuelle Debatte als produktive Provokation und was weist ihr zurück? Wie könnt ihr euer Wissen um die Lebenssituationen von Kindern noch stärker in die Erziehung, Bildung und Betreuung einbringen, wie die Zusammenarbeit mit Eltern verbessern?
Der Erfahrungsaustausch der Modellkindergärten untereinander und das Interesse der wissenschaftlichen Begleitgruppe führte bei den beteiligten Erzieherinnen zu Professionalisierungsschüben. "Weil ihr uns ernst genommen habt, begannen wir uns selbst ernster zu nehmen und unser Handeln zu betrachten", meinte die Leiterin eines Landkindergartens im gleichnamigen Projekt bei der Abschlusstagung.
Die Flügel: Sie bestanden bei allen Projekten rund um Entwicklung, Erprobung und Weiterdenken des Situationsansatzes im Anspruch, das Lernen im Kindergarten unter curricularen Aspekten als Grundlage einer lebenslangen Bildungsbiografie zu begreifen, die zum selbstbewussten, kreativen Bewältigen des Lebens befähigen sollte.1 Anregend wirkten der Anspruch, die Erziehungsziele Autonomie, Kompetenz und Solidarität in lebendige Zusammenhänge "herunter in die Lebenswelt zu übersetzen" und das Geschehen im Kindergarten mit instutionenkritischem Blick zu betrachten: Könnte das Lernen noch mehr ins Leben der Kinder verlagert und durch "Elterntalente", zusätzliches bürgerschaftliches Engagement und die Ressourcen anderer Lernorte noch reichhaltiger gestaltet werden?
Zu Beginn der 80er Jahre kamen neben den Reformkonzepten und -inhalten die Rahmenbedingungen stärker in den Blick: Personalbesetzung und
-qualifikation, Berufsverweildauer und Weiterbildungsmöglichkeiten, räumliche Bedingungen, Fachberatung, Trägerqualität und anderes mehr. Besonders in der Auswertungsphase des überregionalen "Erprobungsprogramms", an dem immerhin 210 Einrichtungen, darunter 32 katholische, in neun Bundesländern beteiligt waren, wurde klar, dass die Frage nach einem guten vorschulischen Angebot nicht alleine mit Konzepten zu beantworten war. Die Bedarfe von Familien wurden nun differenzierter wahrgenommen. Außerdem verlangte eine ökologische Sozialisationsperspektive weiteres Nachdenken über regionale Unterschiede in der Infrastruktur für Kinder und einzugsgebietsspezifische Zuschnitte von Kitas.
Nun verlangten die mittlerweile erstarkten Wohlfahrtsverbände mehr Beteiligung an der Anlage und Implementation künftiger Reformen. Ihr Interesse war auch, die im Aufbau befindlichen verbandseigenen Fachberatungsstrukturen in das Reformgeschehen aktiv einzuflechten. Als die Bundesländer in ihrer Reformbereitschaft erlahmten, erwiesen sich Trägerverbände der freien Wohlfahrtspflege als fantasievolle Reformmotoren und wandelten das Instrument Bund-Länder-Modellversuche ab: Gemeinsam mit dem DJI kam es in der Folge zu zwei von Bund und Trägern finanziell getragenen Modellprojekten, die allen Sparauflagen der Bundesländer zum Trotz neue Fragestellungen zum Zusammenhang von Einzugsgebiet, Bedarf und Konzept verfolgten. Dass davon auch die Weiterentwicklung des Situationsansatzes profitierte, war einerseits Anliegen des DJI, wurde aber auch von der Praxis und den verbandlichen Strukturen mit Interesse vorangebracht. Mit Verbandsgliederungen der Arbeiterwohlfahrt wurde an Fragen der Ganztagsbetreuung im Bildungskontext gearbeitet und danach mit Einrichtungen des Caritasverbands schließlich das Projekt "Landkindergärten" in Angriff genommen.
Projekt Landkindergärten: Bildung und Erziehung mit bewusstem Regionalbezug
In vielen ursprünglich konfessionell geprägten Landstrichen gibt es heute noch den kirchlichen Kindergarten als einzigen im Dorf. Oft ist er die letzte Infrastruktureinrichtung, die dem Ort geblieben ist, nachdem Schulen zentralisiert, Tante-Emma-Läden aufgegeben wurden, Pfarrer und Doktor schon längst in die benachbarte Stadt gezogen sind. Die Einwohnerschaft der modernen Landgemeinden ist allerdings pluraler geworden, und längst durchziehen verkehrsreiche Straßen die Dörfer mit ihren Neubaugebieten, Industrieansiedlungen und aussterbenden Bauernhöfen. Dennoch: Aufwachsen "im Grünen" gilt als besonders kinderfreundlich; hartnäckig hält sich die Meinung, Kinder in der Landwirtschaft lebten ohnehin im Naturparadies mit ständig verfügbaren Eltern und lebendigen Lerngelegenheiten im Überfluss ... So zieht das Land auch heute viele junge Familien an; Eltern werden zu Pendlern, Betreuungsprobleme für Kinder gibt es mindestens so viele wie in der Stadt.
Der sozialökologische Blick auf den Kindergarten lässt dann sogleich die Frage aufkommen, wie (unterschiedlich) die Familien am Ort tatsächlich leben und wie weit her es mit Chancen für Kinder ist. Die Frage nach sozialen Netzwerken und naturwüchsigen, lebendigen Bildungsgelegenheiten schließt sich an. Natürlich ist die Stellung der Pädagoginnen im Dorf ein Thema, denn nur selten sind sie ortsangestammt und stehen den örtlichen Traditionen wie "die Zugezogenen" als Außenstehende gegenüber.
In Begriffen des Situationsansatzes: Wie können Landkindergärten das Umfeld der Kinder als Lernfeld nutzen, wie können die Pädagoginnen den Kindergarten ins Gespräch bringen? Und wie kann es gelingen, ihn schrittweise in ein Zentrum für Kinder und Eltern zu verwandeln und den Blick auf Bedürfnisse der nachwachsenden Generation im Dorf zu lenken?
Das Projekt Landkindergärten zielte also auf Gemeindeentwicklung vom Kindergarten aus. Denn: Was Kindern guttut, ist eng verbunden mit der Frage nach kultureller Befindlichkeit, Lebensqualität und sozialer Integration.
Projekte wie diese veranlassten schließlich den Caritasverband, Aufgaben der Qualitätsentwicklung vor Ort in seinem Fachberatungskonzept weiter zu fassen und um gemeindeorientierte Organisations- und Trägerberatung zu ergänzen:
· Kinder verfolgten den Dorfbach von seiner Quelle bis zu seiner Mündung in ein größeres Gewässer.
· Landwirtseltern luden den Kindergarten immer wieder ein, wenn es Interessantes auf dem Hof zu sehen gab.
· Als eine ortsbildprägende Pappel gefällt werden musste, erlebten die Kinder alle Phasen dieses Unterfangens mit; der Kindergarten bekam eine Baumscheibe als Tisch mit Asthockern für sein Freigelände, und im kommenden Frühjahr waren es die Kinder, die einen Baum in der Ortsmitte pflanzten.
· Alte Menschen wurden eingeladen, mit den Kindern Kochrezepte von früher auszuprobieren und aus ihrem Leben zu erzählen.
· Der tragische Unfalltod von zwei Kindern führte zu tiefschürfenden religionspädagogischen Beschäftigungen und bei den Eltern schließlich zu einer Bürgerinitiative für mehr Sicherheit an der vielbefahrenen Durchfahrtsstraße.
· Befragungen zur Lebensqualität für Familien wurden mit Eltern konzipiert, ihre Ergebnisse in den Kirchengemeinden diskutiert und in die Bedarfsplanung des Jugendamts eingebracht.
Die beteiligten Landkindergärten beschäftigten sich nicht mehr nur mit sich selbst, sondern wirkten in ihr Umfeld hinein. So war es nur konsequent, dass zum Projektende Gesichtspunkte der Kinderfreundlichkeit als Kriterien in den alljährlichen Bundes-Wettbewerb "Unser Dorf soll schöner werden" eingebracht wurden und außerdem andere Diözesen ihrerseits "Landkindergartenprojekte" initiierten.
Marianne Krug
M. A. Päd., 1973 - 1991 wissenschaftliche Mitarbeiterin am DJI in München, später freiberuflich tätig in der Fortbildung und für Fachzeitschriften des Elementarbereichs.
Anmerkung
1 s. hierzu die Artikel von Rita Haberkorn, Christa Preissing und Jürgen Zimmer in "Welt des Kindes" 2/2012.