Titelthema
Abenteuer im Winterwald
Ein Sonnenstrahl blinzelt durch die Wolken und lässt die bereiften Zweige glitzern, die Baumwipfel sind wie mit Puderzucker bestäubt. Genau das richtige Wetter für einen Winterspaziergang! Das haben sich wohl die zahlreichen Spaziergänger gedacht, die uns an diesem klaren, kalten Wintertag im Sulzbacher Wald begegnen. Dick eingemummelt geht es raus - ein Traum, dieses Wetter! An einem der folgenden Tage sieht die Sache ganz anders aus. Es ist diesig und nieselt, die Temperatur knapp über dem Gefrierpunkt. Nur wenige Spaziergänger treffen wir nun. Alle haben den Mantelkragen aufgestellt, einige tragen einen Schirm. Ein älterer Herr ruft uns im Vorübergehen zu: »Was macht ihr denn den ganzen Tag, wenn das Wetter jetzt so unangenehm ist? Seid ihr dann hauptsächlich drin im Häuschen?«
Leider besteht der Winter nicht nur aus den sonnigen, klaren Tagen. Meist überwiegt trübes Matschwetter, bei dem die Kälte »in einen hineinkriecht« und das die wenigsten Erwachsenen hinauslockt. Und ein Spaziergang lässt sich kaum vergleichen mit einem Kindergartentag im Wald. Täglich fünf bis sechs Stunden draußen sein, das fordert Kinder und pädagogische Fachkräfte heraus.
Seit nunmehr sechs Jahren trifft sich die Waldkindergartengruppe »Spessartfüchse« täglich am Waldrand von Sulzbach. Gemeinsam mit ihren Erzieherinnen marschieren die 26 Kinder im Alter von knapp drei bis sechs Jahren in der Frühe los und gehen auf Entdeckungstour in »ihren« Wald. Egal, zu welcher Jahreszeit und bei welchem Wetter. Was sich mittlerweile im Ort herumgesprochen hat, war zur Entstehungszeit dieser Gruppe vielen unverständlich. Und so fragte uns so mancher: »Ja, seid ihr denn das ganze Jahr draußen? Was macht ihr denn im Winter? Das ist doch viel zu kalt, friert denn da keiner?«
Zwar haben wir unser kleines Häuschen (ein Container, der mit Elternunterstützung hergerichtet und mit Holz verkleidet wurde), doch bei einer Gruppengröße von bis zu 26 Kindern ist es für einen längeren Aufenthalt drinnen ungeeignet. Aber das ist auch nicht Sinn der Sache. Draußen sein, toben im Freien, auch bei Kälte und Regen Spaß in der Natur haben - das ist das, was unsere Waldkindergartenkinder lieben.
Zugegeben, ohne die richtige Kleidung geht nichts. Warm eingepackt müssen die Kleinen schon sein, doch sollte die Bewegungsfreiheit nicht zu stark eingeschränkt werden. Denn das ist das Erste, was man lernt: Bewegung ist das A und O! Um gegen die Kälte bestehen zu können, muss man sich bewegen. nicht.
Deshalb fällt im Winter die Begrüßungsrunde im Morgenkreis etwas kürzer aus, damit wir nicht schon kalte Füße haben, bevor der Waldtag richtig beginnt. Wir marschieren los, häufig laufen wir uns erst einmal warm, »stiefeln« querfeldein, krabbeln eine Anhöhe hinauf. Die ersten Kinder entdecken kleine gefrorene Pfützen und schlittern darauf herum. Zum Leidwesen der Kinder schneit es am Untermain eher selten, wenn doch einmal Schnee fällt, wird jedes Flöckchen genutzt, um damit zu spielen oder den »Poporutscher« auszuprobieren.
Das Winterhalbjahr hat andere Schwerpunkte und auch andere Aufenthaltsorte als die warme Jahreshälfte. Kann man im Sommer draußen (vor-)lesen, kreativ mit Farben gestalten oder bei einer Fantasiereise den Waldgeräuschen lauschen, so wichtig ist nun zur kalten Jahreszeit die Bewegung. Zum Glück bietet uns die Natur das ganze Jahr hindurch vielfältige Bewegungsangebote. Da wird auf Baumstämmen balanciert, Erdhügel hinuntergerutscht, auf Bäume geklettert. Zusammengetragenes Reisig wird zum Trampolin, ein gebogener Ast zur Wippe. Kurzum: Waldkinder schulen ihre Motorik täglich ganz nebenbei.
Achtung, der Marder kommt!
Nun im Winter kommen angeleitete Bewegungsspiele hinzu, die uns in Schwung halten. Ein sehr beliebtes Spiel ist das Eichhörnchenspiel: Gemeinsam tragen alle Äste und Reisig zu einem großen Nest zusammen, dem Eichhörnchenkobel. Alle Mitspieler sollten hineinpassen. Dann tun die Waldkinder es den Eichhörnchen nach und verstecken so wie die possierlichen Nager Wintervorräte, zum Beispiel einige Walnüsse. Sie entscheiden selbst, ob sie ihren gesamten Vorrat an einem Platz verstecken oder lieber mehrere Depots anlegen, und versuchen sich dabei zu merken, wo die Futterdepots sind. Anschließend treffen sich alle »Eichhörnchen« in ihrem Kobel wieder und lauschen aneinandergekuschelt einer Geschichte, welche die Kinder noch gewaltig in Aktion bringen wird. Zunächst stimmt der Spielleiter die »Eichhörnchen« auf ihre Winterruhe ein. Doch auf einmal kommt Unruhe auf, denn da ist so ein komisches Gefühl im Bauch: Hunger! Die ganze Eichhörnchenbande macht sich auf ein Kommando hin auf, um ein Nüsschen aus dem Wintervorrat zu holen und schnell wieder in den warmen Kobel zurückzuflitzen.
Spätestens jetzt bemerkt man, dass es gar nicht so einfach ist, sich zu merken, unter welchem Baum die Futterdepots liegen. Und Vorsicht: Es gibt diebische Artgenossen, die an fremden Futterverstecken suchen. Vielleicht war es doch nicht so eine gute Idee, alle Nüsse an eine Stelle zu legen … Gestärkt hocken sich alle »Eichhörnchen« wieder in ihren Kobel und dösen ein - bis wieder Bewegung in die Bude kommt. Und jetzt wird es gefährlich: Ein vorher bestimmter »Marder« ist ebenfalls hungrig, er schleicht herum und versucht ein Eichhörnchen auf Futtersuche zu erwischen. Also, nix wie zurück in den sicheren Kobel! Zum Abschluss des Spiels essen die Kinder ihre Nüsse. Die harten Nussschalen knacken sie dabei mit Hilfe von zwei Steinen. Und alle nicht mehr wiedergefundenen Vorräte finden bestimmt dankbare tierische Abnehmer …
Neben Bewegungsimpulsen vermittelt das Spiel naturwissenschaftliche Zusammenhänge: Wo leben Eichhörnchen? Machen sie einen Winterschlaf? Wie ernähren sie sich? Wer sind ihre Fressfeinde? Außerdem schulen die Kinder ihr Gedächtnis, ihre Orientierungsfähigkeit, Reaktion und Schnelligkeit. Sie spüren, wenn sie im »Kobel« zusammenkauern, wie angenehm warm es in der Gemeinschaft sein kann. Es bieten sich Gesprächsanlässe, wie man Wärme weitergeben kann. Denn nicht nur körperliche Nähe wirkt wärmend auf andere, sondern auch ein liebes Wort, eine nette Geste oder Hilfestellung kann das Herz des anderen wärmen.
Viel zu entdecken
Wer behauptet, im Winterwald gäbe es nichts zu sehen, der irrt! Im Gegenteil: Jetzt kommt die »Spurensicherung« zum Einsatz. Wer hat solche Pfotenabdrücke? Von wem könnten diese Hufspuren stammen? Wer hat den Fichtenzapfen und die Haselnüsse angeknabbert? Und wo sind die Nüsse hingekommen, die wir hier gestern hingelegt haben? Des Weiteren eignet sich der Winter perfekt zum Experimentieren und Forschen. Bei welcher Temperatur schmelzen Eis und Schnee? Und traumhaft schöne, vergängliche »Land-Art«-Kunstwerke entstehen aus gefrostetem Laub und Eisplättchen.
Natürlich ist es auch schön, sich mal etwas länger ins gemütliche Hüttchen zu setzen. Eine besonders wertvolle Zeit ist für uns pädagogische Fachkräfte das gemeinsame Frühstück. Zum einen schmeckt es sowiesoin der Gemeinschaft am besten, zum anderen entstehen dort wichtige Gespräche. Die Fachkräfte begleiten intensiv diese Gesprächssituationen, setzen Impulse, nehmen Gesprächsthemen auf und erfahren viel davon, was ihre Waldkinder bewegt. So entstehen angeregte Diskussionen, Ideen werden gesammelt und der weitere Tagesverlauf geplant. Geschichten und Bilderbücher spielen hier eine große Rolle, greifen Aktuelles und Festivitäten im Jahreslauf auf. Mein Tipp: Erzählen Sie doch im nächsten Jahr mal draußen die Sankt-Martin-Geschichte. Dort erhält »frieren « und »Wärme schenken« eine ganz andere Wertigkeit!
Gestärkt für das Leben
Im Wald spielen ist gesund und härtet ab. Waldkindergartenkinder sind meist robuster. Von Krankheitswellen, wie sie im Regelkindergarten im Winter häufig vorkommen, bleiben wir oft verschont. Und wenn sich unsere Kinder doch mal erkälten, dann sind sie, so bestätigen es uns die Eltern, oft schneller wieder fit.
Gerade im Winter brauchen wir die Gemeinschaft, und so wächst das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Kindern genau dann in besonderem Maß. Sie wachsen in schwierigen Situationen über sich hinaus. Sie gehen gestärkt - persönlich und sozial - aus der kalten Jahreszeit. Der Stolz, den (ersten) Winter geschafft zu haben, überwiegt alle Missempfindungen. Das heißt, dass die Kinder nicht nur körperliche Widerstandsfähigkeit erlangen, sondern auch die Fähigkeit, mit den Widrigkeiten des Lebens umzugehen (Stichwort Resilienz).
Und die Eltern?
Nicht nur die Kinder, auch die Eltern müssen den Winter im Wald »durchhalten«. Zu Anfang haben Eltern häufig zahlreiche Befürchtungen und Ängste. Hier ist es wichtig, Transparenz für die Eltern zu schaffen. Woher sollen sie denn wissen, was ihre Kinder im Wald dazugewinnen?
Immer wieder sagen uns ehemalige Waldeltern, dass auch sie die Gemeinschaft und den Zusammenhalt der Eltern untereinander bei uns als intensiver erlebt haben als in anderen Einrichtungen. Die Freundschaftsbande, die während der Waldkindergartenzeit geknüpft werden, bleiben sehr oft bestehen, selbst wenn die Kinder in verschiedenen Schulen oder Klassen andere Spielpartner finden.
Jetzt sind wir mittendrin im Winter. Die Tage sind noch kurz, trübes Licht, Kälte, Matschwetter … Manch einer wünscht sich schon die ersten Frühlingstage herbei. Doch warten Sie nicht bis dahin! Trauen Sie sich, nehmen Sie Ihr Kind/Ihre Kindergruppe an die Hand, packen Sie sich warm ein und gehen Sie nach draußen! Lassen auch Sie sich verzaubern! Entdecken Sie gemeinsam die kleinen Schönheiten am Wegesrand, wie ein mit Raureif überzogenes Blatt oder ein ungewöhnlich gewachsener Baum. Laufen Sie doch mal den Tierspuren im Schnee nach. Auch über Pfützen springen macht riesigen Spaß! Entdecken Sie Gottes traumhaft schöne Natur mit allen Sinnen. Kinder brauchen wir das nicht zu lehren, es steckt - zum Glück - noch ganz natürlich in ihnen.
Aber:
»Wenn ein Kind seinen angeborenen Sinn für
Wunder lebendig halten soll, … braucht es die Gesellschaft
wenigstens eines Erwachsenen, dem es sich mitteilen
kann, der mit dem Kind zusammen die Freude,
die Aufregung und das Wunderbare der Welt, in der
wir leben, wieder entdeckt.« (Rachel Carson).
Anja Seitz
Erzieherin im Waldkindergarten »Spessartfüchse«, angegliedert an das Haus der Kinder »Spatzennest« in Sulzbach am Main.