Titelthema
Die Ressourcen im Blick
Wie es gelingt, sich bei der Beobachtung begeistern zu lassen und die Kinder immer wieder neu zu entdecken, zeigen Sylvia Zöller und Gerlinde Ries-Schemainda.
Während einer Fortbildung zu Kuno Bellers Entwicklungstabelle berichtete eine Erzieherin von Marvin 1, einem Jungen, der alle in ihrer Kita extrem herausforderte. Marvin war zum Zeitpunkt der Fortbildung zweieinhalb Jahre alt. Die Erzieherin berichtete, dass Marvin immer wieder im Laufe des Tages mit anderen Kindern in große Konflikte geriet. Er biss, schlug, zog an den Haaren und so weiter. Die Kita-Fachkräfte waren verzweifelt, da alle Versuche, dies zu verändern, bisher fehlgeschlagen waren. Gemeinsam mit der Erzieherin machten wir in unserer Fortbildung eine Erhebung zum aktuellen Entwicklungsstand von Marvin anhand der Kuno Beller Entwicklungstabelle. Es ging darum, das Verhalten des Kindes zunächst besser verstehen und es im Anschluss daran seinen Bedürfnissen entsprechend unterstützen zu können, so dass es diese Verhaltensmuster nicht weiter brauchen würde. Die Pädagogin berichtete, dass Marvin sehr bedrückt und in sich gekehrt wirke, kaum bis keine emotionale und körperliche Nähe zulasse. Wenn er abgeholt werde, ginge er kaum auf seine Eltern zu.
Wir begannen mit der Erhebung seines Entwicklungsstands und die ersten Einschätzungen bestätigten das beschriebene Verhalten. In der sozial-emotionalen Entwicklung betrug sein Entwicklungsalter ein Jahr. In der Kognition hingegen zeigte sich das Gegenteil. Die Kurve von Marvin ging höher und höher, und letztlich zeigte sich, dass Marvin in diesem Entwicklungsbereich ein Entwicklungsalter von vier Jahren hatte. Drei Jahre Entwicklungsunterschied in einem Kind! Auf einen Schlag war allen klar, wie es Marvin in der Krippe gehen musste, wie unterfordert er sich dort wohl fühlte. Ihn direkt in den Kindergartenbereich wechseln zu lassen, war keine Option, denn dies ließ sein sozial-emotionaler Entwicklungsstand nicht zu. Also, was tun?
Kinder mit besonderen Rechten
Gemeinsam mit allen Teilnehmenden der Fortbildung überlegten wir, wie Marvin gut unterstützt werden könnte. Die pädagogischen Handlungsansätze waren schnell gefunden. Für Marvin sollte in der Krippe ein ganz eigener Bereich geschaffen werden, durch ein Piklergitter abgegrenzt, mit Materialien, die ihn in seinen kognitiven Bedarfen wirklich herausfordern und unterstützen würden. Kuno Bellers Entwicklungstabelle bot uns hierfür wichtige Hilfen und Anregungen. Weiter wurde entschieden, dass Marvin, wenn seine Gruppe ins Außengelände ging, das Recht bekommen sollte, sich allein im Gruppenraum anzuziehen, um der Gruppe nicht zusätzlich ausgesetzt zu sein. Es ging darum, dem Jungen möglichst viele Erfolgserlebnisse zu ermöglichen und weg vom ständigen Maßregeln zu kommen.
Als wir die Erzieherin acht Wochen später zum zweiten Teil der Fortbildung trafen, klang es fast wie ein Wunder, was sie über Marvin berichtete. Jegliches auffällige Verhalten war verschwunden. Wenn Marvins Mutter zum Abholen kam, sprang er ihr freudig entgegen und begrüßte sie.
Was war passiert? Die Erzieherin war zurück in die Einrichtung gekehrt und hatte ihre Kolleginnen darüber informiert, was sie bei der Fortbildung über Marvin herausgefunden hatte. Sehr schnell hatte sie sich mit den Eltern zum Gespräch verabredet und auch ihnen ihre neuen Erkenntnisse mitgeteilt. Gemeinsam mit den Eltern wurden Handlungsansätze überlegt, wie Marvin auch zu Hause besser im kognitiven Bereich unterstützt werden kann. Auch die Eltern räumten dort jegliches Krippenmaterial weg und boten Marvin andere, herausfordernde Spielmaterialien an. In der Krippe setzte Marvin mittlerweile 60- bis 80-teilige Puzzles zusammen und war vertieft mit Lego am Bauen. Die geschützten Räume ermöglichten es ihm, in ein anderes Verhalten zu finden.
Was für ein Glück für Marvin, dass die Kita-Fachkräfte ihn besser verstehen gelernt hatten und sich aus alten Glaubensmustern gelöst hatten wie: »Aber ein Kind muss sich in der Garderobe anziehen, wo kommen wir denn da hin, wenn wir lauter Ausnahmen machen!« Die Kindergruppe akzeptierte diese neuen Regeln für Marvin sofort. Die pädagogischen Fachkräfte hatten die Kinder gut mitgenommen und ihnen deutlich gemacht, dass Marvin das Anziehen in der Garderobe noch nicht schaffen kann. Im Wörtchen »noch« war bereits angebahnt, dass er es natürlich schaffen wird, nur eben momentan noch nicht.
Ein Beispiel, das uns vor Augen führt, was alles möglich wird, wenn wir uns auf den Weg machen, die Kinder immer wieder neu zu entdecken. Wenn wir uns die Mühe machen, die Kinder immer noch besser verstehen zu wollen, und uns von ihnen begeistern lassen, dann erleben wir uns als pädagogische Fachkräfte zum einen selbst in einer neuen Form der Professionalität und tragen zum anderen aktiv zum Schutz der uns anvertrauten Kinder bei. Auch im Gruppenklima und der Gruppenatmosphäre wird es schnell deutlich werden, wenn es gelingt, neue Wege für Kinder zu finden, die ein besonders herausforderndes Verhalten zeigen. Einfach so geht es nicht. Ohne eine genaue und professionelle Beobachtung wäre Marvins Verhaltensänderung nicht möglich gewesen. Die pädagogischen Fachkräfte bestätigten, dass sie niemals auf die Idee gekommen wären, dass Marvin in seiner Entwicklung schon so weit sein könnte, da stets sein Fehlverhalten (was nur zu verständlich ist) im Blick war.
»Kinder machen Probleme, wenn sie Probleme haben. Insbesondere Kinder, an deren Fähigkeiten wir zweifeln oder deren Verhalten uns verzweifeln lässt, brauchen, dass wir ihre Stärken wahrnehmen. Sie werden meist als Kinder ›mit besonderen Bedürfnissen‹ bezeichnet. Es sind jedoch nicht ihre Bedürfnisse, sondern ihre Situation ist besonders! Es ist für sie schwieriger als für andere Kinder, diese zu meistern. Sie haben damit zu kämpfen, dass ihnen zu viel zugemutet wird und ihnen die Ressourcen fehlen, um zufrieden und friedlich ihr Leben zu gestalten. Deshalb brauchen sie besondere Unterstützung. Wir nennen sie deshalb lieber Kinder ›mit besonderen Rechten‹!« (Schneider 2020, S. 150)
Ressourcenorientiert beobachten
Für die allermeisten Kinder in unseren Krippen- und Kindergartengruppen können wir die Stärken, Interessen und aktuelle Zugänge über eine Bildungsbeobachtung, wie zum Beispiel mit den Lerngeschichten, herausfinden. Bei Kindern, die uns wirklich Sorgen machen und uns immer wieder mit einem Fragezeichen zurücklassen, reicht das oftmals nicht aus und es hilft, wenn wir mit einem Entwicklungsbeobachtungsbogen tiefer schauen. Voraussetzung muss sein, dass auch dieser Entwicklungsbeobachtungsbogen an den Ressourcen der Kinder ansetzt und nicht nach einem »muss können« schaut, sondern fragt: »Was kann das Kind aktuell, wo liegen seine Stärken?«, und hier die individuellen Entwicklungsverläufe sichtbar macht.
Das ist die eine Ebene, warum wir Kinder ressourcenorientiert beobachten. Die andere Ebene zeigt auf, wie wir bei allen Kindern an deren Entwicklung Anteil nehmen können. Durch die systematische Beobachtung, wie zum Beispiel mit dem Konzept der Lerngeschichten, können wir ihr Handeln besser verstehen und analysieren, welche Themen oder Forscherfragen ihnen wichtig sind. Während der Beobachtung lassen wir uns ganz auf das Geschehen ein und oft passiert es dann, dass wir uns von dem Tun der Kinder »verzaubern« lassen. Ich erlebte es in der Praxis oft, dass pädagogische Fachkräfte so fasziniert waren, dass sie die Beobachtung gar nicht beenden wollten.
Die Fragen, die sich bei der Analyse der ressourcenorientierten Beobachtung oft stellen, lauten: »Welches Thema könnte hinter der beobachteten Situation stecken? Was will das Kind in dieser Situation bearbeiten/aufklären?« Ein Beispiel: Eine Mitarbeitende einer Kita sah, wie drei Jungen Autos vom Baubereich nahmen und mit diesen Richtung Außenbereich marschierten. Die Neugierde der Erzieherin war entfacht. Sie wollte ergründen, was die Jungen antrieb, mit den Autos nach draußen zu gehen. Im Garten angekommen, nahmen die drei Kurs auf die Nottreppe. Diese bestiegen sie und ließen ihre Autos nebeneinanderher die Treppenwange herunterfahren. Die Autos stürzten immer wieder ab, bevor sie das Ende der Treppe erreichen konnten. Das löste bei den Spielenden Missmut aus. Sie packten die Autos zusammen und verließen die Treppe.
Die Erzieherin tauschte sich mit den Jungen über ihre Beobachtung aus. Die drei teilten ihr mit, dass sie herausfinden wollten, welches der Autos das schnellste sei. Dies gelang ihnen aber nicht, weil die Autos, bevor sie unten ankamen, alle abstürzten. Die Erzieherin fragte nach, ob die Jungen eine Idee hätten, wie das gelingen könnte. Darauf teilten ihr die Jungen mit, dass sie die mobile Regenrinne aus der gelben Gruppe dazu benötigten. Diese wollten sie an der Treppenwange festbinden, um die Autos dann auf die so errichtete Rennstrecke zu schicken. Die Erzieherin half den Jungen ihr Vorhaben umzusetzen, und alle waren zufrieden, als das Siegerauto feststand. Für die Erzieherin war dieses Erlebnis ein sogenannter »Magic Moment«. Sie ging direkt zu einer Kollegin, um sich mit ihr darüber auszutauschen und sie an ihrer Freude teilhaben zu lassen. Später schrieb sie diesen »Magic Moment« auf und gab die Aufzeichnung an die drei Jungen weiter. Diese freuten sich sehr über die Wertschätzung ihres Tuns und die Anerkennung ihrer Leistung.
Wäre diese Erzieherin nicht so eine versierte Beobachterin gewesen, hätte sich die Situation ganz anders entwickeln können. Stellen wir uns folgendes Szenario vor: Die Jungen sind mit den Autos auf dem Weg nach draußen. Die Fachkraft nimmt wahr, dass diese mit Gegenständen aus dem Haus in den Außenbereich wechseln. Sie stoppt sie, erinnert an die Regel, dass von innen nichts nach draußen gebracht werden darf, und schickt sie in den Baubereich zurück. Der Forscherdrang der Jungen wäre gestoppt und eine wichtige Lernchance vertan.
So jedoch bildeten die drei Jungen eine Lerngemeinschaft. Sie teilten sich ihre Ideen mit, führten sie gemeinsam aus, suchten nach Lösungen und hielten der Herausforderung, dass die Autos immer wieder abstürzten, eine ganze Weile stand, bis sie die finale Lösung für sich fanden. Ihre Lernstrategie lautete »Versuch - Irrtum - Versuch - Lösung«. Die Beobachterin war bei den Jungen und unterstützte ihr Vorhaben durch interessiertes Nachfragen und Unterstützung beim Finden einer möglichen Lösung. Sie half mit beim Anbringen der mobilen Regenrinne, übernahm Verantwortung und förderte somit den kokonstruktiven Lernprozess.
Für alle war es eine Win-win-Situation: Die Jungen erlebten, dass ihr Vorhaben ernst genommen wurde, dass es sich lohnt, nicht aufzugeben, dass mehrere Personen viele gute Ideen entwickeln und sich gegenseitig unterstützen können. Sie waren stolz auf ihr Ergebnis und gingen tief befriedigt zum Mittagessen. Die Erzieherin war begeistert von der Entwicklung, die ihre Beobachtung nahm, und davon, dass sie unterstützend dazu beitragen konnte. Auch sie ging hochzufrieden in ihre Mittagspause und freute sich schon auf das Aufschreiben dieser besonderen Lernsituation. Als sie den drei Jungen wenige Tage später die Lerngeschichte vorlas, konnten alle die Freude darüber noch einmal teilen. Ihr gemeinsames Gespräch währenddessen führte dazu, dass die Jungen noch weitere Ideen entwickelten und sich daraus ein Projekt ergab, das sich auf den Sozialraum ausdehnte.
Als erfahrene Praktikerinnen und Fortbildnerinnen wünschen wir allen Beteiligten in Kitas viel mehr solche wunderbaren und kreativen Lernsituationen. Hier können Kinder erleben, dass sie im Mittelpunkt stehen und ihren Alltag in wesentlichen Angelegenheiten, die sie betreffen, mitgestalten können. Sie fühlen sich mit ihren Anliegen ernst genommen, und das fördert konzentriertes Tun im Spiel. Sie können sich immer wieder herausfordernden Situationen stellen und mit Hilfe der pädagogischen Fachkräfte die persönlichen nächsten Schritte ihrer Entwicklung gehen. So entsteht ein Lernklima, das alle mit Zufriedenheit erfüllt.
Pädagogische Fachkräfte, die sich für diesen Weg entscheiden, sagen nicht: »Jetzt muss ich auch noch beobachten, wann soll ich das denn noch machen?« Sie wissen um den Gewinn und verfolgen das Tun von Kindern mit einem anderen Blick. Teams, die das Beobachten als Chance sehen und konzeptionell verankern, finden gangbare Lösungen. Sie gestalten ihren Arbeitsprozess so, dass Einheitsbrei und »Lernen von der Stange« immer weniger ihren Alltag prägen. Ressourcenorientierte Beobachtung und Dokumentation halten Einzug und werden zum festen Bestandteil der pädagogischen Arbeit. Die einstmals lästige Pflicht führt zu immer mehr individuellen Lerngelegenheiten und dadurch auch zu immer mehr beglückenden Momenten für die pädagogischen Fachkräfte. Es lohnt sich, immer mehr Gelassenheit beim Beobachten zu entwickeln und somit den Beobachtungsfrust gegen die Beobachtungslust einzutauschen.
Sylvia Zöller
seit 1999 in der Fort- und Weiterbildung von pädagogischen Fachkräften tätig, seit 2007 selbstständig als Fort- und Weiterbildnerin sowie als Beraterin, Coach und Autorin im Feld der frühen Kindheit. www.sylvia-zoeller.de
Gerlinde Ries-Schemainda
Erzieherin, Fortbildungsreferentin, bis 2019 Leiterin des katholischen Familienzentrums Kita St. Sebastian in Eppertshausen, Hessen.
Literatur
• Beller, E. Kuno/Beller, Simone (2016): Kuno Bellers Entwicklungstabelle 0 - 9 Jahre; Berlin: Eigenverlag
• Dweck Carol (2009): Selbstbild. Wie unser Denken Erfolge oder Niederlagen bewirkt; München: Piper
• Evanschitzky, Petra/Zöller, Sylvia (2021): Besser eingewöhnen! Fortschritt und Entwicklung im Münchener Modell; Weimar: verlag das netz
• Haas, Sibylle (2012): Das Lernen feiern. Lerngeschichten aus Neuseeland; Weimar, Berlin: verlag das netz
• Largo, Remo, H. (2005): Babyjahre. Die frühkindliche Entwicklung aus biologischer Sicht; München: Piper
• Largo, Remo, H. (2019): Kinderjahre. Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung; München: Piper
• Largo, Remo, H. (2012): Lernen geht anders. Bildung und Erziehung vom Kind her denken; München: Piper
• Ries-Schemainda, Gerlinde/Bicherl, Karola (2015): 55 Fragen & Antworten: Beobachtung und Dokumentation in der Kita; Berlin: Cornelsen
• Schneider, Kornelia (2020): Mit Lerngeschichten wachsen. Reflexionen - Ansporn - Entwicklungen; Weimar: verlag das netz
• Zöller, Sylvia (2015): Formen, Ziele, Instrumente. Praxistipps zur Bildungs- und Entwicklungsbeobachtung, in: Welt des Kindes 5, S. 16 - 19
• Zöller, Sylvia (2015): Beobachtungsverfahren im Überblick, in: Welt des Kindes 6, Beilage SPEZIAL
Anmerkung
1 Name geändert.