Titelthema
Die Zeit verfliegt - verfliegt die Zeit?
Gerlinde Ries-Schemainda macht sich Gedanken über den Umgang mit Zeit im Kita-Alltag.
Ich wage einen provokanten Einstieg: Die Zeit, die uns zur Verfügung steht, ist nicht zu wenig. Die Frage geht eher dahin, wie wir die Zeit, über die wir verfügen, nutzen. Der richtige Umgang mit der Zeit ist eine der wertvollsten Fähigkeiten, die es überhaupt gibt. Was ist der richtige Umgang? Diese Frage werden pädagogische Teams eher individuell beantworten. Denn Zeit fühlt sich für jede Person unterschiedlich an.
Was uns am meisten im Umgang mit der Zeit fehlt, ist meiner Ansicht nach Gelassenheit. Doch Gelassenheit kann man lernen. Während meiner Zeit als Leiterin einer achtgruppigen Kita (ohne stellvertretende Leitung) habe ich mich gründlich mit dem Thema Zeitressourcen auseinandergesetzt. Ein Schritt zu mehr Gelassenheit war für mich die Reflexion, das Nachdenken über folgende Fragen: Wie kann ich meine Zeit sinnvoll nutzen? Wie überstehe ich schwierigere/stressige Zeiten gut? Wie vermeide ich für mich, für das Team und die Kinder unnötigen Druck? Wo verschwende ich meine kostbare Zeit? Wo lauern für uns alle im Alltag Zeitfallen? Wo gibt es Anforderungen von außen, die nicht zum gesetzlichen Auftrag der Bildung, Erziehung und Betreuung der Kinder und dem daraus abgeleiteten Bild vom Kind passen? Mit welchen Aufgaben verbringe ich gerne meine Arbeitszeit? Was sind meine Ziele? Wenn ich könnte, wie ich wollte?
Ein wegweisendes Zitat war für mich der Satz von Pippi Langstrumpf: »Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen«, aus dem gleichnamigen Buch von Astrid Lindgren. Und recht hat sie. Gerade in der Kita ist diese Zeit für alle Beteiligten elementar wichtig. Wenn es zum Beispiel um das kompetenzorientierte, systematische Beobachten geht, höre ich von pädagogischen Fachkräften oft folgende Aussage: »Wir wissen, dass das wichtig ist. Aber dazu fehlt uns die Zeit. Neben all den anderen Aufgaben, die wir jetzt schon erfüllen müssen, kriegen wir das nicht mehr untergebracht.« Solche Aussagen stimmen mich nachdenklich. Das Kind steht im Mittelpunkt der pädagogischen Arbeit. Zudem haben katholische Einrichtungen den Anspruch, »Kinder liebevoll in ihrem Leben zu begleiten« (KTK-Gütesiegel Bundesrahmenhandbuch 2019, Einleitung). Liebevolle Begleitung bedeutet für mein Verständnis, nahe bei dem jeweiligen Kind beziehungsweise einer Gruppe von Kindern zu sein. Im Hinschauen, im Mittun oder im Gespräch mit ihnen herauszufinden, was sie bewegt, welchen Fragen sie nachgehen, mit welchen Themen sie sich beschäftigen. Nur so können Nähe und vertrauensvolle Beziehungen entstehen. Diese benötigen Kinder, um sich in der Kita angenommen und sicher zu fühlen, um ins Explorieren und selbsttätige Lernen zu kommen. Des Weiteren beklagen sich pädagogische Fachkräfte und auch Kita-Leitungen, viel zu wenig Zeit zum inhaltlichen und konzeptionellen Arbeiten zur Verfügung zu haben. Die Menge an organisatorischen Aufgaben frisst diese wertvolle und wichtige Zeit geradezu auf!
Die spannende Frage, die sich stellt, ist folgende: Wie kann es gelingen, Zeit für die originären Aufgaben zu haben, ohne das Arbeitspensum immer weiter zu steigern? Mitarbeitende einer Kita erleben Zeit in unterschiedlichen Qualitäten. Es gibt einerseits die Zeit, die die Kinder selbst gestalten, und andererseits gibt es die strukturierte Zeit, mit den täglichen und wöchentlichen Ritualen und den am Jahreskreis ausgerichteten Festen und Traditionen. Pädagogische Fachkräfte sollten der Frage nachgehen, mit was sie ihre Zeit verbringen wollen. Möchten sie sich und die Kinder mit aufeinanderfolgenden Aktionen und Ritualen durch den Tag hetzen oder wollen sie nahe bei den Kindern sein und ihnen möglichst viel Raum geben, indem diese selbst bestimmen, womit sie ihre Zeit verbringen und wie sie den Kita-Tag für sich gestalten? Entscheiden sie sich für die zweite Variante, stellen sie sicher, dass bei den Kindern ein intensiveres Erleben von Partizipation und Selbstwirksamkeit erfolgt. Das wiederum wirkt sich unmittelbar auf ihr Lernen und das Herausfinden ihrer Interessen aus.
Unerlässlich: Zeit für das wahrnehmende Beobachten
Kinder, die es gewohnt sind, ihren Interessen nachzugehen, weisen einen hohen Grad an Eigenständigkeit auf. Das bedeutet für die pädagogischen Fachkräfte, dass sie nicht ständig ihre Zeit damit verbringen müssen, die Bedürfnisse und Wünsche der Kinder zu erfüllen. Sie haben Zeit, sich zu den Kindern zu setzen und über das wahrnehmende Beobachten zu verfolgen, wie, mit wem und mit was die Kinder ihre Zeit verbringen. So können sie erkunden, welche Erlebnisse, Erfahrungen und Kompetenzen sich in den Spielprozessen der einzelnen Kinder widerspiegeln. Zielgerichtet können sie beobachten und entschlüsseln, wie Kinder sich über das Spiel die Welt aneignen. Schlüsselsituationen können mit den Kindern aufgegriffen und prozessorientiert bearbeitet werden, orientiert an dem (Lern)Tempo der beteiligten Kinder. So stellen sie sicher, dass sie den Kindern genau die Zeit zur Verfügung stellen, die diese brauchen, um nachhaltig lernen zu können, ohne dass ihre individuellen Lernprozesse unterbrochen werden.
Teams, die diesen Prozess durchschritten haben und kindorientiert arbeiten, erlangen durch ihre Tätigkeit eine tiefe Befriedigung. Alle pädagogischen Fachkräfte, die ich bisher dazu befragt habe, bestätigten mir, dass sie unter gar keinen Umständen noch einmal in die Angebotspädagogik wechseln wollen. Natürlich kommt es auch in diesen Teams zu Stressmomenten. Doch gehen sie eventuell anders damit um. Sie bemerken es in der Regel, wenn sie Gefahr laufen, das »Hamsterrad« zu betreten, halten inne, recherchieren, wie es dazu kommen konnte, und denken nach, was es braucht, um die Arbeit wieder zu entschleunigen. Dazu braucht es das Wissen und den Mut, öfters einmal »Nein!« zu sagen.
Beispiel 1: Das Wohlergehen der Kinder und der Mitarbeitenden steht an erster Stelle
Hier ein Beispiel, das verdeutlicht, was ich ausdrücken möchte: In einer Pfarrgemeinde war seit einiger Zeit niemand mehr für die Vorbereitung und Durchführung des Kindergottesdienstes verfügbar. Das Problem wurde im Pfarrgemeinderat besprochen. Die dort Anwesenden fanden schnell eine Lösung: Alle waren sich einig, dass diese Aufgabe an das Team der katholischen Kindertageseinrichtung delegiert werden solle. Die Kita-Leitung fühlte sich zur Zusammenarbeit verpflichtet und nahm die Aufgabe an. Zuerst lief alles gut. Das Team organisierte, wer zu welchem Zeitpunkt die Vorbereitungen und die Durchführung übernehmen sollte, und alles lief nach Plan. Bis einige Teammitglieder bemerkten, dass der Kita-Alltag sehr stressig wurde. Die vorgesehene Verfügungszeit musste immer öfter dazu genutzt werden, die Wortgottesdienste vorzubereiten. Einzelne Personen mussten sich zeitaufwendig in die Thematik einarbeiten, weil ihnen das notwendige theologische Hintergrund und Methodenwissen fehlte. Das führte dazu, dass in der Kita plötzlich immer weniger beobachtet und infolgedessen auch weniger auf die Forschungsfragen und Interessen der Kinder eingegangen wurde. Das erzeugte Unzufriedenheit, die sich wiederum negativ auf das Teamklima auswirkte.
Die Kita-Leitung nutzte die folgende Supervisionssitzung, um ihre Wahrnehmung an das Team weiterzugeben. Gemeinsam begannen sie, die Teamsituation zu analysieren. Als sie ihre Perspektiven ausgetauscht hatten, suchten sie das Gespräch mit dem Pfarrer und dem Elternbeirat. Alle waren sich am Ende der Analyse einig, dass die Arbeit mit den Kindern weiterhin im Mittelpunkt stehen sollte und das Team auf keinen Fall in einen Zustand der Überforderung geraten durfte. Dem Pfarrer als Träger und Chef war die Fürsorgepflicht gegenüber den Mitarbeitenden und den zu betreuenden Kindern sehr wichtig. Und das Team strebte weiterhin eine Zusammenarbeit mit der Kirchengemeinde an. Das Leitziel für das weitere Vorgehen hieß nun: »Die Kindertageseinrichtung als Ort kirchlichen Handelns erfüllt ihre spezifischen Aufgaben. Sie entwickelt sich zu einem Ort, an dem Kinder und Familien sowie Gremien und Gruppierungen der pastoralen Räume miteinander in Kontakt treten und sich gegenseitig bereichern. Dabei ist es den Verantwortlichen wichtig, Sorge zu tragen, dass die Mitarbeitenden der Kindertageseinrichtung die Balance zwischen ihrem pastoralen Auftrag und dem gesetzlichen Auftrag halten können. Das Wohlergehen der Kinder und der Mitarbeitenden steht an erster Stelle.«
Um dieses Ziel umzusetzen, mussten Handlungsschritte entwickelt werden. Daran beteiligten sich das Kita-Team, der Pfarrgemeinderat, der Pfarrer, die Pastoralreferentin und der Elternbeirat. Gemeinsam kamen sie zu einem Ergebnis, zu dem alle stehen konnten: Es wurde ein Kindergottesdienstkreis ins Leben gerufen. Dieser setzte sich aus interessierten Eltern, der Pastoralreferentin, zwei Abgeordneten des Kita-Teams und interessierten Menschen der Kirchengemeinde zusammen. Hier wurde verabredet, dass sich alle Mitglieder des Kindergottesdienstkreises die Aufgabe der Organisation und Durchführung der Kindergottesdienste teilen. Das KitaTeam kam von da an einmal im Monat zum Einsatz und erhielt von der Pastoralreferentin Unterstützung in theologischen und methodischen Fragen. Der Mut des KitaTeams wurde belohnt. Sie machten die Erfahrung: Situationen sind zum Besseren hin änderbar, wenn sie erkannt und bearbeitet werden.
Beispiel 2: Gemeinsam im Team nach Lösungen suchen
Weiterhin braucht professionelles Arbeiten ein gut durchdachtes Zeitmanagement. Das kann im Kita-Alltag mit all seinen Facetten hin und wieder verloren gehen. Wie gut, wenn es in solch einer Situation ein Beschwerdemanagement gibt, das gelebt wird und nicht nur als Prozessbeschreibung im Qualitätshandbuch zu finden ist. Während meiner Tätigkeit als Leitung erlebte ich eine solche Situation. Katrin, eine Mitarbeitende, bat mich um ein Gespräch. Einige Jungen hatten bei ihr eine Beschwerde abgegeben. Sie hatte folgenden Wortlaut: »Die Erzieherinnen meckern uns immer an, wenn wir im Flur rennen. Das ist nicht fair. Wo wir gerne spielen, ist immer geschlossen, und in den Garten können wir auch nicht immer gehen, wann wir wollen. Da sagen die immer, es ist noch niemand von uns draußen. Wir sind jetzt sauer. Da müsst ihr mal drüber reden.« Ich musste Katrin recht geben, die Situation war prekär. Das galt es zu ändern.
Sie brachte das Anliegen der Jungen auf die Tagesordnung der nächsten Teamsitzung. Wir nahmen uns dafür die gesamten zwei Stunden Zeit und stellten alle weiteren Themen zurück. Auf den ersten Blick führte personelle Unterbesetzung zu der Situation. Der Blick dahinter zeigte auf, dass immer zuerst bestimmte Bildungsbereiche geschlossen wurden: der Bau und Konstruktionsbereich, das Werkhaus, der Bewegungsraum und der Außenbereich. Diese Bereiche waren bei den Jungen sehr beliebt. Die pädagogischen Fachkräfte mieden diese Orte, wenn es die Möglichkeit dazu gab. Um zu diesem Ergebnis zu kommen, mussten wir sehr ehrlich zueinander sein. Auch hier brauchte es Vertrauen und Mut, um sich zu »outen«.
Wir fanden für die Kinder und die Mitarbeitenden eine gute und vor allem realisierbare Lösung: Zukünftig stellte ein Rotier-Kreis sicher, dass alle Bildungsbereiche mit mindestens einer Person besetzt waren. Das war auch bei Personalausfällen gesichert. Eine kontroverse Diskussion löste die Herausforderung aus, in einem solchen Fall den Bildungsbereich alleine betreuen zu müssen. Die Bedenken, die es dazu von einzelnen Mitarbeitenden gab, nahmen wir mit in die folgenden Supervisionssitzungen. Am Ende des Prozesses konnten alle damit umgehen. Die Kinder waren zufrieden, und bei uns Erwachsenen stellte sich mit der Zeit auch der Flow ein. Hatten wir es doch geschafft, die Situation hinter der Situation zu entschlüsseln und uns dieser zu stellen.
Ein weiterer Baustein für ein erfolgreiches und entlastendes Zeitmanagement lautet: abgeben und Vertrauen in die Kompetenzen anderer Menschen entwickeln. Im Qualitätsmanagement sehen wir die Kindertageseinrichtung als kompetentes System. Das bedeutet, alles hängt mit allem zusammen. Verschiedene Akteure agieren auf verschiedenen »Ebenen« vertrauensvoll miteinander. Alle tragen dazu bei, dass es den Kindern gutgeht, sie sich gut entwickeln können und sie optimal betreut werden. Nutzt ein Kita-Team das kompetente System zur Weiterentwicklung der konzeptionellen Arbeit und der Qualitätsentwicklung, wird es maßgeblich entlastet. Die Vorhaben, vor allem im administrativen und organisatorischen Bereich, werden auf viele Schultern verteilt und dem Team bleibt Zeit für die originären Aufgaben.
Zum Beispiel muss eine Kita-Leitung nicht bei allen Vorhaben und Projekten automatisch die Steuerung übernehmen. Im kompetenten System finden sich immer Personen außerhalb des Kita-Teams, die sich engagieren und ihre Kompetenzen einbringen möchten. Es gilt dies anzuerkennen und ein Klima zu schaffen, dass sie diese zum Einsatz bringen können.
Abschließen möchte ich mit einem Zitat von Tim, fünf Jahre alt: »Zeit ist, wenn man alles ganz langsam machen kann.« (Damm 2007) Das wünsche ich uns allen von Herzen!
Gerlinde Ries-Schemainda
Erzieherin, Fortbildungsreferentin, bis 2019 Leiterin des katholischen Familienzentrums Kita St. Sebastian in Eppertshausen, Hessen.
Literatur
- Damm, Antje (2007): Alle Zeit der Welt; Frankfurt am Main: Moritz Verlag
- Preissing, Christa / Heller, Elke (Hrsg.) (2014): Qualität im Situationsansatz. Qualitätskriterien und Materialien für die Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen; Berlin: Cornelsen Schulverlage
- Verband Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder (KTK) - Bundesverband e. V. (Hrsg.) (2019): KTK-Gütesiegel Bundesrahmenhandbuch; Freiburg