Titelthema
Als Tiger gesprungen, als Bettvorleger gelandet?
Eigentlich ist doch alles ganz einfach - sollte man meinen. Denn nicht erst seit diesen Tagen ist klar, dass es ab August 2013 in diesem Land einen Rechtsanspruch auf einen "Betreuungsplatz" geben wird, für alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr. Wohlgemerkt, es handelt sich um einen individuellen Rechtsanspruch, den die Eltern für ihr Kind in Anspruch nehmen können, wenn sie wollen - und der keineswegs begrenzt ist auf die immer wieder "herumwabernden" Zahlen von bundesweit durchschnittlich 35 Prozent oder 39 Prozent, mit deren Erreichen dann alles gut zu werden scheint. Und hier sind schon die ersten drei zentralen Problemstellen des Ausbaus für Kinder unter drei Jahren (U3-Ausbau) erkennbar:
Zum einen dürfte allen Akteuren mittlerweile klar sein, dass diese Annahme einer Rechtsanspruchserfüllung mit einem Platzangebot von 35 Prozent (beziehungsweise jetzt modifiziert auf 39 Prozent) bei weitem von der tatsächlichen Bedarfs- und Nachfrageentwicklung überholt worden ist. Dies ist doppelt problematisch, da einerseits schon die bisherige, veraltete Zielgröße von 35 Prozent mit der beobachtbaren Ausbaudynamik in den meisten westdeutschen Bundesländern schwerlich erreicht werden wird und andererseits das Gesetz an keiner Stelle von einer Quotierung spricht, sondern von einem individuellen Rechtsanspruch (der rein theoretisch von 100 Prozent der Eltern in Anspruch genommen werden könnte).
Man muss sich die Dramatik hinter diesem Zusammenhang deutlich machen, denn analysiert man die bisherige Ausbaudynamik seit dem Krippengipfel 2007 mit der Einführung des Rechtsanspruchs, dann zeigt sich, dass abgesehen von Hamburg unter den westlichen Flächenländern lediglich Rheinland-Pfalz bislang ein Ausbautempo erreicht hat, das eine Zielerreichung möglich machen würde - wenn man denn einen Anteil von 35 Prozent an allen Kindern unter drei Jahren als Zielerfüllung akzeptiert. Gerade auch aufgrund der Beitragsfreiheit für die Eltern ab dem vollendeten zweiten Lebensjahr bereits heute sehen wir aber, dass die tatsächliche Nachfrage noch höher ausfällt. Wobei Rheinland-Pfalz derzeit den "Vorteil" hat, dass sich dort der U3-Ausbau bislang vor allem auf die Gruppe der Zweijährigen konzentriert (der Kontext zur Beitragsfreiheit wurde angesprochen), denn diese Kinder lassen sich "gut einbauen" in die geöffneten Kindergartengruppen. Ob das aber auch immer so gut ist für die zweijährigen Kinder, darüber ließe sich trefflich streiten. Das wird vor allem aber dann brisant und relevant, wenn man noch jüngere Kinder in die Einrichtung bekommt, was mit dem Rechtsanspruch ab August 2013 grundgelegt ist.
Schaut man sich in diesem Zusammenhang die bisherige Ausbaudynamik und den 2011 erreichten Ausbaustand differenziert nach westdeutschen Bundesländern an, ergibt sich ein besonders problematischer Befund. Man erkennt in der Grafik das auffällige Zurückbleiben des Bundeslands Nordrhein-Westfalen - das aber zugleich das bevölkerungsreichste ist und in dem es viele Städte gibt, wo ohnehin bereits ein über dem Durchschnitt liegender Bedarf seitens der Eltern vorliegt. Gleichzeitig befinden sich sehr viele Kommunen dort in der Haushaltssicherung. Gerade diese Kommunen werden im kommenden Jahr - sollte es bis dahin keine gesetzgeberischen Veränderungen mehr geben - konfrontiert mit Klagen vor den Verwaltungsgerichten, denn der Rechtsanspruch richtet sich gegen den Träger der öffentlichen Jugendhilfe, nicht gegen die Bundesfamilienministerin. Erste Entscheidungen beispielsweise in Rheinland-Pfalz (wo es ja schon einen individuellen Rechtsanspruch ab dem vollendeten zweiten Lebensjahr gibt), etwa gegen die Stadt Mainz, verdeutlichen, dass das für die Kommunen eine richtige teure Angelegenheit werden kann.
Zum anderen übt das alles jetzt, kurz vor dem Ende der mehrjährigen Ausbauphase, einen enormen Druck aus in Richtung quantitative Platzbeschaffung (gleichsam "um jeden Preis") - was wiederum gerade mit Blick auf die notwendige Qualität der Angebote hoch problematisch ist, denn in einer solchen Situation ist es nicht unplausibel, dass das Ziel einer Erfüllung der Platzbedarfe auf Kosten der qualitativen Ausgestaltung der Plätze gehen könnte beziehungsweise gehen wird. Die aktuelle Diskussion seitens der Länder und vieler Kommunen über den Rückgriff auf "Platzsharing"-Modelle mag hier als ein kritisch zu diskutierender Hinweis genügen.
Und drittens - selbst wenn wir jetzt alle Ressourcen auf einen rechtsanspruchserfüllenden Ausbau fokussieren würden: Uns läuft zum einen die Zeit davon (im Sinne einer zu geringen Ausbaudynamik in den zurückliegenden Jahren) und zum anderen würden schlichtweg regional/lokal die erforderlichen Fachkräfte fehlen, die man in der kurzen noch verbleibenden Zeitspanne nicht "backen" kann - und wir reden dabei noch gar nicht über die eigentlich erforderliche Aufstockung der Personalschlüssel in den Einrichtungen aufgrund des noch zu skizzierenden Formenwandels der Kitas, sondern nur über eine reine Fortschreibung der bestehenden Bedingungen in den Kindertageseinrichtungen, die bekanntlich auch noch stark variieren.
Strukturwandel in den Kitas
Derzeit dreht sich die Diskussion um den absehbaren "Flaschenhals" einer (nicht-)ausreichenden Zahl an "Betreuungsplätzen" - egal welche, hat man zuweilen den Eindruck. Um aber eine korrekte Beurteilung der Situation leisten zu können, muss man berücksichtigen, welchen enormen Strukturwandel die meisten bestehenden Einrichtungen in den vergangenen Jahren durchlaufen haben. Der Dreiklang "früher - mehr - länger" kann das am treffendsten beschreiben: Das Eintrittsalter der Kinder sinkt, immer mehr Kinder eines Jahrgangs besuchen selbstverständlich eine Kita und ein Teil der Kinder bleibt immer länger in den Einrichtungen. Betrachtet man insbesondere die jüngsten Kinder, dann muss man zur Kenntnis nehmen, dass bereits im vergangenen Jahr mehr als 517000 Kinder unter drei Jahren in einer Kita oder in öffentlich geförderter Tagespflege betreut, gebildet und erzogen worden sind. Das ist eine erhebliche Zahl.
Vor dem Hintergrund der aktuellen - westdeutschen - Debatte über das Für und Wider frühkindlicher Betreuung muss an dieser Stelle einmal angemerkt werden, dass die Eltern in der Gesamtschau auf die vorliegenden Daten sehr verantwortungsvoll mit ihren Kindern umgehen, denn die Inanspruchnahme der außerfamiliären Betreuung über eine Krippe oder Kindertagespflege ist bei den unter einjährigen Kindern marginal, und das wird erwartbar auch so bleiben, die ostdeutschen Werte markieren hier die Obergrenze. Erst nach der Vollendung des ersten Lebensjahrs steigt die Betreuungsquote deutlich erkennbar an, wobei diese im Westen Deutschlands nach oben begrenzt ist aufgrund der verfügbaren Plätze, sie also bei echter Wahlfreiheit sicher höher wäre.
Betreuungsquoten der unter dreijährigen Kinder in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege in Prozent aller Kinder im jeweiligen Alter in West- und Ostdeutschland im Jahr 2011 |
||
|
Westdeutschland |
Ostdeutschland |
unter 1 Jahr |
2,1 % |
5,1 % |
1 bis unter 2 Jahre |
18,1 % |
60,6 % |
2 bis unter 3 Jahre |
39,2 % |
81,6 % |
Die Rolle der Kindertagespflege
In der öffentlichen Diskussion wird fast ausschließlich über Kitas, also Einrichtungen gesprochen. Einen gleichsam zentralen Beitrag für den Ausbau der U3-Betreuung soll aber nach den ursprünglichen Überlegungen der Politik die Kindertagespflege leisten. Nach den Vorstellungen auf dem Krippengipfel 2007 - und damit zugleich Grundlage für den Zuschnitt der 12 Milliarden Euro für den Ausbau bis 2013 - war die Annahme, dass fast ein Drittel aller neu zu schaffenden Betreuungsplätze in der ("kostengünstigeren") Kindertagespflege entstehen werden. Wie wir anhand der aktuellen Daten sehen, ist das schlichtweg unrealistisch.
Darüber hinaus gibt es auch keinen einfachen Zusammenhang nach dem Muster "mehr Tagespflege = höhere Betreuungsquote": "Bemerkenswert ist ... die Tatsache, dass Hamburg und Rheinland-Pfalz ihre vergleichsweise hohen Quoten erreicht haben, ohne auf die Tagespflege als Strategie des 'schnellen' Ausbaus zu setzen. Beide Bundesländer erreichen hinsichtlich des Anteils der Kinder in Tagespflege im Vergleich der westlichen Länder nur unterdurchschnittliche Quoten: Hamburg liegt bei einem Anteil von 14,5 Prozent, Rheinland-Pfalz sogar 'nur' bei 8,4 Prozent. Im Vergleich hierzu beträgt der Anteil an Kindern in Tagespflege in Westdeutschland (ohne Berlin) bei immerhin 18,3 Prozent. Überproportional hohe Anteile an Kindern in Tagespflege finden sich dagegen in Schleswig- Holstein mit 31,7 Prozent und in Nordrhein-Westfalen mit 28,3 Prozent." [1]
Das ist in einem doppelten Sinne problematisch: Zum einen weichen die Eltern natürlich aus in die Kitas (beziehungsweise sie werden es wollen), was wiederum die gegebene Unterfinanzierung des Systems und auch den Fachkräftemangel in den Einrichtungen verstärkt. Zum anderen wäre es durchaus wünschenswert, wenn eine professionelle Kindertagespflege gerade bei den sehr jungen Kindern einen deutlich höheren Stellenwert bekäme. Auch in Frankreich beispielsweise werden die meisten kleinen Kinder bei einer Tagespflegeperson betreut und nicht in Einrichtungen. Dazu aber bedarf es einer Verbesserung der Rahmenbedingungen der Arbeit - und letztendlich höherer Ausgaben in diesem Bereich. Das Institut für Bildungs- und Sozialpolitik der Hochschule Koblenz hat speziell zum Aspekt einer vom Gesetz geforderten "leistungsgerechten Vergütung" der Tagespflege als eine Komponente zur Professionalisierung der Kindertagespflege jüngst Empfehlungen vorgelegt (vgl. hierzu www.tagesmuetter-bundesverband.de).
Und bei aller Fokussierung auf den U3-Ausbau: Es gibt auch noch andere Handlungsfelder im System der Kindertagesbetreuung, die a) Personal binden und b) in der Debatte derzeit leider völlig untergehen. An dieser Stelle kann nur der Hinweis auf die Hortbetreuung gegeben werden. Man sollte dabei berücksichtigen: "Nach wie vor werden ebenso viele Schulkinder in Tageseinrichtungen betreut wie 'U3-Kinder' - und das, ohne auch nur annähernd die gleiche Aufmerksamkeit in Öffentlichkeit und Fachwelt zu genießen wie die Jüngsten."[2] Bei den Schulkindern bis zehn Jahre waren es im vergangenen Jahr 422473 Kinder, die in einer Kindertageseinrichtung betreut wurden. Auch hier zeigen sich übrigens sehr heterogene Entwicklungen in den einzelnen Bundesländern. "In den südlichen Flächenländern Bayern und Baden-Württemberg lässt sich ein kontinuierlicher Ausbau des Hortes beobachten, wohingegen in Nordrhein-Westfalen und neuerdings auch in Hamburg politische Entscheidungen zu einem Abbau geführt haben beziehungsweise führen werden."[3] Vor allem in den östlichen Bundesländern spielt der Hort nach wie vor eine große Rolle: Insgesamt circa 240000 Kinder - und damit rund 40000 Kinder mehr als im Westen - besuchten dort im Jahr 2011 nach der Schule eine solche Einrichtung.
Fazit
Was bleibt angesichts dessen, was wir theoretisch wissen (über eine "gute Bildung, Betreuung und Erziehung") und was wir praktisch sehen und erwarten müssen angesichts der schwierigen Rahmenbedingungen? Ein großes Unbehagen mit Blick auf den Ausbau der Angebote für die Kleinsten, wie er derzeit abläuft. Gerade wenn man ein großer Befürworter der familienergänzenden Betreuung, Bildung und Erziehung ist, muss man doch gegenwärtig große Zweifel bekommen, ob wir uns hier nicht auf eine Situation zubewegen, die dem Pflegenotstand am anderen Ende der Lebensspanne, bei den demenzkranken Pflegebedürftigen, in vielem gleicht. Es wäre jetzt die Zeit für einen großen "Krippengipfel", auf dem mehr Geld bereitgestellt und verbindliche Standards verabschiedet werden sollten. Auch über eine vorübergehende Aussetzung des Rechtsanspruchs sollte ergebnisoffen diskutiert werden. Aber das ist alles leider nicht in Sicht. Insofern besteht die große Gefahr, dass die Kleinsten der Kleinen als Versuchskaninchen einem nationalen Experiment unterworfen werden, was nicht akzeptabel ist und der ganzen Sache schaden wird. Irgendwie erinnert das an gleichlaufende Erfahrungen, die wir derzeit mit der "Energiewende" machen müssen ...
Prof. Dr. Stefan Sell
Direktor des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik der Fachhochschule Koblenz.
Anmerkungen
[1] Fuchs-Rechlin, K.: Es wird eng - zur aktuellen Dynamik der Kitas, in: KomDat, Heft 3/2011, S. 2.
[2] Ebda.
[3] Ebda.