Titelthema
Land unter?
Mit großer Freude beobachte ich, an eine Säule unserer neuen Aula gelehnt, das rege Treiben: An allen Spielbereichen setzen die Kinder mit viel Fantasie ihre Ideen um. Das gleiche Bild bietet sich mir in unserem neuen Atelier oder in den anderen, nach dem Umbau unserer Kita nun größeren und freundlicheren Räumen. »Ein Haus, das lebt!« Die Textzeile eines Liedes beim Einweihungsgottesdienst kommt mir wieder in den Sinn. Unfassbar, was aus dem alten Gebäude nach der Sanierung und dem Umbau entstanden ist - wie in einem schönen Traum.
Leider erlebe ich als Kita-Leitung aber auch seit vielen Monaten einen Alptraum, aus dem ich nur allzu gerne erwachen möchte: der Fachkräftemangel und seine Folgen; immer mehr Aufgaben, die erledigt werden müssen, ohne zusätzliche Zeit dafür zu bekommen; Eltern, die teilweise nur ihr eigenes Kind und dessen Bedürfnisse sehen; Politiker, die die Kinderbetreuung immer noch weiter ausbauen möchten, aber hartnäckig die Augen davor verschließen, dass die Quantität an Plätzen auf Kosten der Qualität geht. All das raubt mir den Schlaf.
Ich bin jetzt 25 Jahre im Beruf der Erzieherin tätig, davon 18 Jahre in Leitungsverantwortung. Gleich zu Beginn meiner Führungstätigkeit habe ich einen Sozialmanagementkurs absolviert und mich zur Qualitätsbeauftragten ausbilden lassen. Auch danach habe ich mich kontinuierlich mit Fortbildungen und auf Fachtagungen weitergebildet, im Rahmen von Supervisionen und Coachings selbst reflektiert. In den letzten Monaten jedoch zweifle ich immer häufiger: Bin ich mit der Aufgabe, eine Kindertageseinrichtung zu leiten, überfordert? Mache ich denn in Sachen Personalführung alles falsch? Lange habe ich deshalb überlegt, ob ich über dieses Thema schreiben sollte. Doch beim Austausch mit Leitungskolleginnen aus dem Umfeld und bei Recherchen im Internet habe ich festgestellt: Ich und unsere Einrichtung sind kein Einzelfall. Nicht nur bei uns ist eine erhöhte Fluktuation von pädagogischem Personal eingetreten. In manch anderer Einrichtung mussten bereits Gruppen geschlossen werden, und vielerorts herrscht wirklich »Land unter«!
Der Fachkräftemangel und seine Auswirkungen
Schon wieder mussten wir die Eltern mit einem Aushang am schwarzen Brett darüber informieren, dass eine Erzieherin, die erst seit wenigen Monaten bei uns war, wieder gekündigt hat. So ganz überraschend kam dies nicht, denn schon die schriftliche Bewerbung hatte uns hinsichtlich der vorhandenen Qualifikationen nicht unbedingt überzeugt. Nach dem Bewerbungsgespräch reichte es immerhin zu einem: »Probieren wir es halt!« Es war die einzige Bewerbung auf eine Stellenanzeige, die der Träger für einige Tausend Euro mehrfach in der Tageszeitung geschaltet hatte. Bei der Jobbörse der Arbeitsagentur - die zum Glück kostenlos freie Stellen veröffentlicht - zählen wir eh schon zu den »Stammkunden«.
Angesichts der Aussicht, die kommenden Wochen wieder unterbesetzt im Team überstehen zu müssen, ließen wir uns mit einem flauen Bauchgefühl auf das Arbeitsverhältnis ein - was sich im Nachhinein als Fehler herausstellte, da die Mitarbeiterin auch noch zwei Drittel der Arbeitstage wegen Krankheit ausfiel. Und dies ist nicht die einzige negative Erfahrung, die wir in letzter Zeit mit neuen Mitarbeiterinnen gemacht haben.
Im Gespräch mit anderen Kita-Leitungen erfuhr ich, dass sie in der gleichen Zwickmühle stecken wie ich: Wir trauen uns öfters nicht mehr, negatives Verhalten von Mitarbeiterinnen anzusprechen, weil diese dann gleich kündigen − die nächste Einrichtung nimmt sie ja mit offenen Armen auf. In den vergangenen Monaten ist uns dies nach zwei Mitarbeitergesprächen passiert (obwohl die betreffenden Mitarbeiterinnen die Protokolle unterschrieben und uns gegenüber Einsicht kommuniziert hatten). Aber sollten wir akzeptieren, dass eine Kita-Fachkraft jeden Tag vor den Kindern einen braunen Softdrink konsumiert? Nachdem im Rahmen des »Gesundheitsprojekts « zusammen mit den Kindern die sich darin befindliche Menge an Zucker analysiert wurde! Oder dass während der Arbeitszeit dem eigenen Handy mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht wird als den Kindern? Dass im Umgang mit den Kindern ein Tonfall angewendet wird, der eher in einem Vorbereitungscamp für das Militär angebracht wäre?
Die verbleibenden Mitarbeiterinnen - sie sind wie die Kinder die Leidtragenden eines solchen Verhaltens - versuchen den häufigen Wechsel von Bezugspersonen bei den Kindern mit viel Engagement auszugleichen. Zum Glück gibt es sie noch: Kolleginnen, die sich mit ihrer Arbeitsstelle identifizieren und nicht gleich beim ersten Konflikt kündigen. Für die es selbstverständlich ist, nicht nur Forderungen zu stellen, sondern ihre Arbeitskraft zuverlässig zum Wohle der anvertrauten Kinder und deren Familien einzubringen - die aber angesichts der hohen Belastung, wenn sie die nicht vorhandene Arbeitsleistung von anderen ausgleichen müssen, auch an körperliche und psychische Grenzen stoßen.
Zu wenig Zeit
Häufig ist zu hören oder zu lesen, dass es doch nur darauf ankomme, neue Mitarbeiterinnen gut einzuarbeiten. Wenn ich aber danach frage, wann das geleistet werden soll, erhalte ich Antworten, die sich in meiner Realität (und der anderer Kita-Leitungen) nicht umsetzen lassen. Denn dazu bräuchten wir: mehr Zeit! Wegen des Fachkräftemangels musste ich meine vollständige Freistellung vom Gruppendienst wieder aufgeben, sonst hätten wir 25 Hortkinder vor die Tür setzen müssen. Und das trotz gutem Zeitmanagement! Aber bei insgesamt sieben Gruppen im Haus und dem ganzen Verwaltungsaufwand - wie soll das funktionieren? Unsere stellvertretende Leitung hat zusätzlich zu ihren Aufgaben noch die Gruppenleitung einer Kindergarten- und einer Hortgruppe inne - also auch bei ihr gibt es kein freies Zeitkontingent. Andere Umstrukturierungen lässt die personelle Situation in unserem Haus derzeit nicht zu.
Dass sich die Theorie mehr und mehr von den Rahmenbedingungen in der Praxis entfernt, erlebe ich auch in anderen Bereichen. Bei uns steht zum Beispiel die Überarbeitung der Konzeption an. Um nachzulesen, wie dies gut gelingen kann, kaufte ich ein Fachbuch zum Thema. Würden wir die dort aufgezeigten Schritte für die Konzeptionserstellung befolgen, müssten wir unsere Ganztagseinrichtung für mindestens ein Jahr auf Halbtagsbetreuung reduzieren und zusätzlich zehn weitere Tage für Fortbildungen schließen, oder die Konzeption wäre vielleicht 2018 fertiggestellt - die Stadt möchte sie aber bis zum Ende dieses Jahres! Der wachsende Anteil an Teilzeitkräften sowie an die Bedürfnisse der Eltern angepasste Betreuungszeiten lassen kaum mehr zeitlichen Raum für wichtige Besprechungen im Team. Wir nutzen wirklich jede Nische im Dienstplan. Aber wenn wir dann endlich eine zeitliche Lücke gefunden haben, müssen wir − anstatt über unsere pädagogische Konzeption sprechen zu können - Vorschriften zum Brandschutz, das Infektionsschutzgesetz, die Lebensmittelverordnung und neue Informationen über den Arbeitsschutz bearbeiten. Dazu kommen dann noch zum Teil überzogene Erwartungshaltungen von Eltern, die zwar durchaus die personelle Notlage sehen, aber trotzdem erwarten, dass wir ganz allein nur für ihr Kind da sind.
Die Politik verschließt die Augen
Nichts hören, nichts sehen, nicht darüber sprechen - so kommen mir die meisten Politiker vor. Der Fachkräftemangel und die angestrebten Verbesserungen der Rahmenbedingungen kommen vielleicht noch im ersten Halbsatz einer Rede vor, doch dann geht es nur noch um zusätzliche neue Plätze und längere Öffnungszeiten. Dass jede neue Kita die äußerst angespannte Situation wegen der nicht vorhandenen Fachkräfte noch weiter verschärft, wird hartnäckig ignoriert. Steht das Gebäude erst einmal, kann aber mangels Personal nicht oder nur teilweise geöffnet werden, trägt dies bei den Verantwortlichen nicht zur Erkenntnis bei, dass nun erst einmal alles für den »Ausbau« von qualifiziertem Personal getan werden muss.
Dabei hat uns die von Politikerseite gewählte Methode »Wer nicht bei drei auf den Bäumen sitzt, wird Erzieherin!« in der Praxis nicht wirklich weitergebracht. Dass nicht jede oder jeder die für diesen Beruf notwendigen persönlichen Eigenschaften wie Feinfühligkeit, Offenheit, Freundlichkeit und vor allem Interesse an der individuellen Persönlichkeit des Kindes hat und diese nicht mal einfach schnell »gelernt« werden können, zeigt sich bereits bei Praktikantinnen. Kann ich in der derzeitigen Situation des Fachkräftemangels ansprechen, dass sie vielleicht nicht für den Beruf geeignet sind und sich, bevor sie die lange Ausbildung beginnen, lieber ein anderes Tätigkeitsfeld suchen sollten?
Aber, ob Sie es glauben oder nicht: Trotz meines Alptraums gehe ich jeden Tag gerne meinem Beruf nach. Weil die Kinder mir immer wieder zeigen, wie bereichernd es ist, mit ihnen und durch ihre Augen die Welt neu entdecken zu dürfen, sie mich auch nach 25 Berufsjahren immer noch auf positive Art herausfordern und kein Arbeitstag wie der andere ist. Für Rahmenbedingungen, die mich und meine Kolleginnen aber endlich wieder ruhiger schlafen lassen würden, wäre ich trotzdem dankbar.
Martina Bentenrieder
Leiterin des katholischen Kindergartens Herz Jesu in Augsburg.