Titelthema
Stärkung der inneren Haltung
Irmhild Jaworski, Leiterin der katholischen Kindertageseinrichtung St. Ludwig in Berlin, erläutert im Gespräch mit Thomas Thiel einen Verhaltenskodex, den das Team sich mit Blick auf das Kindeswohl und entsprechende sensible Situationen gegeben hat.
Was war der Anlass für einen solchen Verhaltenskodex bei Ihrem Träger?
Ausgangspunkt für den Verhaltenskodex war zunächst einmal die Umsetzung des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII und die Vorgabe einer Präventionsschulung des Erzbistums Berlin zu diesem Thema, die alle Mitarbeitenden im Kita-Bereich betraf. Es gab keinen konkreten Fall in einer Kita als Anlass, aber das Erzbistum Berlin ist aufgrund der bundesweiten Missbrauchsfälle und einer zukünftigen Vorbeugung aktiv geworden und wollte ein präventives Schutzkonzept in seinen Einrichtungen installieren. Damit wurde auch der Gesetzesänderung des erweiterten § 8a des SGB VIII Rechnung getragen. Intention war es, in allen Einrichtungen eine »Kultur der Achtsamkeit« zu installieren mit dem Ziel, die innere Haltung zu einem wertschätzenden und respektvollen Umgang zu stärken, die Handlungsfähigkeit zu fördern und mögliches Fehlverhalten frühzeitig zu erkennen.
Worum geht es konkret bei dem Verhaltenskodex?
Er beinhaltet konkret zwei wesentliche Aspekte: Einerseits geht es um die Umsetzung und Zielerreichung eines wirksamen Kinderschutzes in den Einrichtungen, zum anderen nimmt er den Mitarbeitendenschutz bezüglich eines möglichen Fehlverhaltens in den Blick. Er beinhaltet also sowohl die Sensibilisierung für respektloses Verhalten oder die Früherkennung sexueller Übergriffe gegenüber Kindern als auch die Reflexion eigenen Verhaltens, den Umgang mit Nähe und Distanz. Der Verhaltenskodex gibt einen institutionellen Rahmen und damit auch Sicherheit für die Mitarbeitenden. Er ist uns eine verlässliche Orientierung für das tägliche Handeln.
Konkret heißt dies zum Beispiel, dass wir Mitarbeitende die Rechte und Grenzen der Kinder achten, dass wir aufmerksam sind für unbeabsichtigte Grenzüberschreitungen, dass wir eingreifen, wenn wir Übergriffe oder Diskriminierungen sehen oder wahrnehmen. Der Kodex beinhaltet auch, dass wir Mitarbeitende klare Ansagen dazu machen, was erlaubt und was verboten ist. Ein wesentlicher Punkt ist auch, dass wir als Mitarbeitende im Rahmen der beruflichen Aufgabe keine privaten Beziehungen zu Eltern führen und dass private, persönliche Themen nicht in eine professionelle Beziehung getragen werden. Ein weiterer Punkt ist, dass Mitarbeitende darauf achten, dass sie adäquat, also nicht aufreizend, sexualisiert, gekleidet sind.
Können Sie ein paar andere Beispiele nennen, die sie thematisiert haben?
Grundsätzlich geht es darum, dass in unserer Haltung deutlich wird, dass es keine Tabu-Themen oder Tabu-Wörter gibt, das heißt, wir benennen Körperteile mit korrektem Namen und haben keine Kosenamen. Dass wir offen und gesprächsbereit für die Belange der Kinder und ihre Anliegen sind. Sie erfahren, dass sie auch negativ Erlebtes ansprechen können und wir uns gegen Diskriminierungen für sie einsetzen.
Im Krippenbereich gibt es sensible Situationen wie etwa beim Wickeln. Da heißt es besonders aufmerksam zu sein. Oder wenn ein Kind seine Hand unbeabsichtigt in den Ausschnitt einer Mitarbeiterin führt, dass ohne »Schimpfen« mit klarer Abgrenzung der Arm herausgeführt wird. Oder wenn Kinder Mitarbeitenden auf den Po klapsen, dass diese klar sagen, dass sie das nicht wollen.
Wie wurde das Team eingeführt und auf einen solchen Verhaltenskodex vorbereitet?
Das gesamte Team hatte eine gemeinsame zweitägige Fortbildung mit unserer katholischen Nachbar-Kita St. Albertus Magnus und den Mitarbeitenden unseres Horts. Es kam eine Referentin von Strohhalm e. V., Fachstelle für Prävention von sexuellem Missbrauch an Mädchen und Jungen, die eng mit dem Erzbistum zusammenarbeitet. Am zweiten Tag war auch der für solche Fragen Zuständige des Erzbistums als Referent vor Ort, um die Trägersicht mit einzubringen. In dieser Veranstaltung wurden dem Team wichtige Hinweise zum Erkennen von sexuellem Missbrauch, zum Verhalten bezüglich des Kinderschutzes und der Vorbeugung von Missbrauchsfällen aufgezeigt. Es ging darum, Basiswissen zu erlangen, zu erweitern und zu erarbeiten, wie die Kita ein sicherer Ort für Kinder sein kann. Die Schulung war sehr praxisnah konzipiert, das heißt mit vielen Praxisbeispielen und Materialien angereichert. Die Mitarbeitenden konnten sehr konkret ihre Alltagssituationen einbringen und reflektieren und somit eigene Handlungsschritte erarbeiten.
Auch das Fachreferat Kita vom Caritasverband für das Erzbistum Berlin hat vor etwa zwei Jahren in Bad Saarow eine zweitägige Fachveranstaltung zum Thema für Kita-Leitungen angeboten. Sie war gefüllt mit Theorie- und Praxisanteilen. Dabei erstreckte sich die Thematik eines Verhaltenskodex auf alle Bereiche der Kita, unter anderem auf die Unternehmenskultur, die Kommunikationsstruktur und präventive Maßnahmen. Die Leitungskräfte erhielten einen Handlungsleitfaden zur Weiterentwicklung des Verhaltenskodex´in ihren Einrichtungen. In akuten Fällen bietet das Fachreferat Kita auch ganz aktuell Unterstützung an.
Wie wurde dieser Verhaltenskodex entwickelt?
Die konkrete Ausarbeitung einer Vorlage für ein Kinderschutzkonzept beziehungsweise von konkreten Prozessregelungen für unser Haus habe ich als Leiterin in Absprache mit dem Team und dem Träger gefertigt. Die Regelungen wurden den Teammitgliedern als Vorlage vor den Dienstbesprechungen zum Lesen gegeben mit der Bitte, Anmerkungen zu machen und zu schauen, ob sie diese Regelungen im Team nachvollziehen, akzeptieren und mittragen können.
In der Dienstbesprechung haben wir dann die einzelnen Abschnitte besprochen und gemeinsam verabschiedet. Parallel dazu wurden die Vorlagen zum Gegenlesen der Schulungsreferentin gegeben, die uns ihre Sicht und die Ergebnisse ihrer Rücksprache mit dem für die Schulungen im Erzbistum Verantwortlichen weiterleitete.
Wie hat das Team diese Vorlage angenommen?
Die Reaktionen darauf waren durchweg sehr positiv, da allen das Thema wichtig war und ist. Das Team hat festgestellt, dass ganz vieles schon selbstverständlich im Haus so gehandhabt wird, und fand es doch sehr gut, noch einmal bewusst und mit den durch die Schulung gewonnenen neuen Erkenntnissen einen erweiterten Fokus auf das Thema legen zu können.
In Ihrem Verhaltenskodex ist zu lesen, dass Sie eine »Kinderrechtestunde« etabliert haben. Was muss ich mir darunter vorstellen?
Die Kinderrechtestunde ist ein Beispiel dafür, dass Kinder bei uns ihre Kinderrechte kennenlernen können, dass ihnen Beschwerdewege und -möglichkeiten deutlich angeboten werden. Dies findet eher situationsbedingt statt, also wenn etwas Dringendes anliegt. Aber die Themen der Kinderrechte werden regelmäßig auch in den Gruppen besprochen oder beim Start des jährlich neuen Kinderrats. Es gibt Themen, die aus der Situation kommen, zum Beispiel ein Kind möchte alleine auf die Toilette gehen oder sich alleine umziehen - dann geht es darum, den anderen Gruppenmitgliedern deutlich zu machen, dass es ein Recht dazu hat.
Wo sehen Sie die Chancen eines solchen Verhaltenskodex?
Meine Erfahrung ist, dass bei dem Begriff »Verhaltenskodex « in erster Linie an eine starke Reglementierung gedacht wird. Im Grunde jedoch ist er etwas Gewinnbringendes für die Einrichtung, etwa die Verständigung über eine gemeinsame Sprache, ein verlässlicher Handlungsrahmen. Durch den Verhaltenskodex gibt es eine Transparenz von Regelungen, die für jeden eine konkrete Vorgabe darstellen. Er gibt die Möglichkeit, die besprochenen Verhaltensweisen in unterschiedlichen Umgebungen und Situationen anzuwenden. Im Grunde ist er nichts Starres, sondern eine verlässliche Orientierung, die immer wieder überprüfbar und bei Bedarf neu ausrichtbar ist.
Irmhild Jaworski leitet die katholische Kindertageseinrichtung St. Ludwig in Berlin und hat mit ihrem Team einen Verhaltenskodex erarbeitet.