Titelthema
Die Entwicklung des Ganztags braucht den Hort
Zumindest aber braucht es die Kindheitspädagogik, meint Detlef Diskowski.
Viele Jahre kamen die Horte nicht - und kamen die großen Kinder nur als Schul-Kinder in der fachpolitischen und der fachwissenschaftlichen Diskussion vor! Belege gefällig?
Das mit einem anspruchsvollen Titel gestartete und mit vier Milliarden Euro ausgestattete Bundesinvestitionsprogramm »Zukunft Bildung und Betreuung« (IZBB)1 verkam sehr schnell zu einem Schulbauprogramm. Dabei hätte der in diesem Zeitraum von der Bundesregierung veröffentlichte 12. Kinder- und Jugendbericht die richtige konzeptionelle und programmatische Rahmung liefern können. Auf der Höhe der fachwissenschaftlichen Diskussion betonte er die Bedeutung informeller Bildungsprozesse und non-formaler Settings für eine zukunftsfähige Bildung2. Mit Bezug auf das Leitmotiv »Bildung ist mehr als Schule« wurde der Ganztagsschuldebatte vor Augen gehalten, dass die Ziele »sich in ein fachlich zukunftsträchtiges und politisch organisierbares Konzept vor allem dann überführen und nutzbar machen (lassen), wenn es gelingt, das entsprechende Angebot im Kindes- und Jugendalter in einem Zusammenspiel von Bildung, Betreuung und Erziehung, also in Form eines aufeinander abgestimmten Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebots auszubauen«3. Ob aufgrund von Ressortegoismen oder wegen der unhinterfragten Definitionsmacht von Schule verhallte leider der Beitrag des Kinder- und Jugendberichts weitgehend ungehört.
Allerdings bekleckerte sich auch die Kinder- und Jugendhilfe nicht mit Ruhm. Wurde schon der Kindergarten eher widerwillig als wichtiger Bestandteil akzeptiert und der Krippenausbau als Konkurrent um Finanzressourcen betrachtet, blieb sie in ihrem Selbstverständnis immer noch die alte Jugendhilfe, mit ihren traditionell wichtigen Bereichen: Jugendarbeit und Erziehungshilfe. Aus dieser Sicht sind die großen Kinder eben noch keine Jugend(lichen) und sie sind zumeist nicht problematisch genug für die Fürsorge.
Hatte ich vor zehn Jahren noch vermutet, dass die Kinder- und Jugendhilfe den Hort für die Kinder im Grundschulalter aufgegeben hätte4, muss man mit Distanz wohl bedauernd feststellen, dass die Horte (wie wohl die Kindertagesbetreuung insgesamt) nie wirklich im Fachdiskurs der Protagonisten der Jugendhilfe angekommen war. Anders ist das fast vollständige Fehlen von kritischen Stimmen nicht zu verstehen, als ganze Bundesländer ihre Horte zu Anhängseln der Schule machten. Bezeichnend dafür ist auch, dass die Zeitschrift jugendhilfe »einen Überblick über den aktuellen Stand der Fachdiskussion zur Ganztagsbildung vermitteln und die Konsequenzen für die Jugendhilfe diskutieren«5 wollte, und es dabei fertigbrachte, die Horte fast vollständig zu ignorieren. Das Themenheft der jugendhilfe stellte jedenfalls nur die »Schnittstellen zwischen der Ganztagsschule und der offenen Kinder- und Jugendarbeit, der Schulsozialarbeit und den Hilfen zur Erziehung in den Mittelpunkt« und bis heute hat sich daran nicht viel geändert.
Weitgehende Ignoranz gegenüber dem Hort
Ein kaum besseres Bild geben weite Teile der (eigentlich einschlägigen) Wissenschaftsszene ab. Der Eindruck drängt sich auf, dass die Kindheitspädagogik nach der frühen Kindheit keine weiteren relevanten Entwicklungsphasen erkennen kann und dass die Sozialpädagogik mit der Kindertagesbetreuung sowieso nichts am Hut hat. Im Wissenschaftsbetrieb kamen die großen Kinder jedenfalls kaum vor - sofern sie nicht als »Schulkinder« Beachtung finden oder als »Problemkinder« besondere Aufmerksamkeit einfordern.
Im Gegensatz zur Definition des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG), nach der die Kindheit bis zum vollendeten 14. Lebensjahr reicht6, wurde nur die »frühe Kindheit« zum Schwerpunkt der meisten neugeschaffenen Hochschulstudiengänge. Von Flensburg bis Friedrichshafen legten viele Hochschulen schon in der Bezeichnung der Studiengänge, mehr noch aber in der fachlichen Schwerpunktsetzung, den Schwerpunkt auf die »frühe Kindheit«; als ob die mittlere und ältere Kindheit ohne Bedeutung wäre.
Kaum mehr verwunderlich hat auch die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft zwar eine »Kommission Pädagogik der frühen Kindheit«, überlässt aber offensichtlich die mittlere und späte Kindheit der »Kommission Sozialpädagogik« oder gleich der »Sektion Schulpädagogik«.
Glücklicherweise machen sich in dieser Fachszene - wie in dem bekannten kleinen gallischen Dorf - die paar Unruhestifter der »Initiative für Große Kinder«7 für die spezifischen Entwicklungsaufgaben dieser Altersgruppe stark und Lothar Krappmann mahnt: »Ich bin etwas besorgt, wenn man immer wieder sagt, es ist doch die frühe Kindheit entscheidend. Nein, jede Entwicklungsperiode der Kinder ist entscheidend, und da müssen wir dranbleiben.«8
Schließlich übt sich der Stachel im Fleisch deutscher Jugendhilfepolitik, der »Ländermonitor« der Bertelsmann Stiftung, in merkwürdiger Selbstbeschränkung, wenn er seine Beobachtung der Kindertagesbetreuung auf das »frühkindliche Bildungssystem« reduziert. Nur ab und an zählt man dann doch auch die mittlere und spätere Kindheit zum frühkindlichen Bildungssystem, vorrangig allerdings um Statistikprobleme zu vermeiden, weil sich die Ausgaben für die Horte in vielen Ländern nicht aus denen der Kindertagesbetreuung herausrechnen lassen. Erstmals 2011 stellt die Bertelsmann Stiftung (vielleicht sogar mit einer gewissen Selbstkritik) einen »großen Aufholbedarf bei der Ganztagsbetreuung von Grundschülern« fest und bemerkt: »Die Betreuung findet in Deutschland einerseits in Kindertageseinrichtungen, den Horten, statt, andererseits in Ganztagschulen.« Die Wahrnehmung einer bisher vernachlässigten Altersgruppe und die Kenntnisnahme, dass es neben den »Ganztagsschulen« noch etwas gibt, wird mit dem richtigen, aber kaum beachteten Hinweis ergänzt, »verbindliche Qualitätsstandards für Betreuungsumfang und für pädagogisches Fachpersonal gibt es jedoch fast nur in den Horten«9.
Besonders bemerkenswert ist die weitgehende Ignoranz gegenüber dem Hort, wenn man die Datenlage betrachtet. So wies schon 2009 die Dortmunder Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendhilfestatistik auf einen bemerkenswerten Widerspruch hin: »Aufgrund der umfangreichen Ganztagsschuldebatte ist der Hort in der öffentlichen Wahrnehmung in den Hintergrund getreten. Die Zahlen belegen allerdings zugleich, dass der Hort in Westdeutschland - abgesehen von NRW - kein Auslaufmodell für die außerunterrichtliche Bildung, Betreuung und Erziehung von Grundschülern/-innen darstellt. Mithilfe der Ganztagsschulstatistik wird deutlich, dass in den westlichen Ländern die Inanspruchnahme der Ganztagsschulangebote etwa der der Hortangebote entspricht.«
Erklärend müsste man allerdings zur Kenntnis nehmen, dass diese angebliche zahlenmäßige Entsprechung der Plätze nur deshalb festzustellen ist, weil Äpfel und Birnen gemeinsam als Obst gelten können. Jedenfalls stimmt es offenbar kaum nachdenklich, dass die Kultusministerkonferenz bei der Zählung ihrer Plätze alles als »Ganztagsschule« gelten lässt, was an drei Wochentagen sieben Zeitstunden Betreuung (dabei ist der Unterricht noch einberechnet) und ein Mittagessen anbietet.10 Welch merkwürdiges Verständnis von einem ganzen Tag eines Kindes und seiner Familie offenbart sich da! Dass weder die Lebensrealität von Familien noch die Arbeitstätigkeit von gewöhnlichen Arbeitnehmenden für die »Ganztags«schule eine Rolle spielen, zeigen auch die circa 75 Ferientage der Schule, an denen höchst selten Angebote für die Kinder gemacht werden. Das steht in einer merkwürdigen, aber öffentlich kaum problematisierten Spannung zu den 20 bis 30 üblichen Urlaubstagen von Eltern.
Ist auch neun Jahre später der Hort noch nicht tot, so hat sich dem Anschein nach das »Erfolgsmodell Ganztagsschule«11 rasant weiter ausgebreitet. Zwar wurden weiterhin (abseits der allgemeinen Wahrnehmung) im Jahr 2017 fast 500 000 Kinder in Kindertageseinrichtungen betreut, aber die Kultusministerkonferenz vermeldet für 2017 gut 1 160 000 Teilnehmende am schulischen Ganztag der Grundschule12. Selbst wenn man den oben genannten geringen zeitlichen Umfang außer Acht lässt, bleibt diese Zahl bemerkenswert. Sie relativiert sich aber deutlich mit Blick in den Definitionskatalog der Schulstatistik. Als Ganztagsangebote gelten, wenn sie »unter Aufsicht und Verantwortung der Schulleitung organisiert, in enger Kooperation mit der Schulleitung durchgeführt werden und in einem konzeptionellen Zusammenhang mit dem Unterricht stehen«. In der Folge wird von den Schulleitungen sehr häufig das aufzählende »und« nicht kummulativ, sondern alternativ als »oder« verstanden. Hierdurch (wie auch vermutlich durch eine großzügige Auslegung des Begriffs »Teilnehmende«) kommen in erheblichem Umfang Doppelzählungen vor. Nur so ist erklärlich, dass zum Beispiel in Sachsen angeblich 87,3 Prozent aller Kinder Ganztagsschüler sind - und gleichzeitig die amtliche Statistik des Statistischen Bundesamts eine Betreuungsquote von 84,3 Prozent bei 6- bis 11-jährigen Kindern in Kindertagesbetreuung ausweist, die nicht zusätzlich eine Ganztagsschule besuchen.13 Das ergäbe einen stolzen Betreuungsgrad von 170 Prozent, und auch in Brandenburg waren 2017 angeblich fast 120 Prozent aller Kinder im Ganztag (43,6 Prozent in Ganztagsschulen und 74,9 Prozent der 6- bis 11-jährigen in Kindertagesbetreuung). Es ist also eine gewisse Skepsis hinsichtlich der Betreuungszahlen angebracht, um es vorsichtig auszudrücken.
Verlängerung des Unterrichts in den Nachmittag
Ist also schon quantitativ (hinsichtlich der angebotenen Plätze wie auch beim zeitlichen Umfang dieses Angebots) ein differenzierterer Blick gefragt, so wäre es auch unter qualitativen Aspekten angebracht, die Programmatik mit der Realität zu konfrontieren. Bildet es denn tatsächlich den Stand der Ganztagsschulentwicklung ab, wenn die Kultusministerkonferenz proklamiert: »Die Trias von Bildung, Erziehung und Betreuung am Lern- und Lebensort Ganztagsschule ist länderübergreifend Leitlinie für die Ausgestaltung des Ganztagsangebots. (…) Der erweiterte Zeitrahmen eröffnet die Möglichkeiten eines breit gefächerten Angebots für die Schülerschaft. Damit einher geht ein organisatorischer Umbau der Schulen.
Innerhalb der Schule sind die Organisation des Schulalltags und die Taktung des Unterrichts bei der Umsetzung des Ganztagsschulkonzepts von zentraler Bedeutung für den Erfolg.«14 Skepsis ist wohl angebracht!
Wendet man danach den Blick vom äußeren Rahmen zum Schulalltag und betrachtet dafür die vorherrschenden Formen des außerunterrichtlichen Angebots15, dann bleibt von informellen Bildungsprozessen, von selbstorganisierter Freizeit, vom Chillen und gemeinsamen Abhängen der Kinder kaum etwas übrig. »Insgesamt zeigt sich, dass die Schulen ihren Schülerinnen und Schülern im Ganztag ein inhaltlich breites außerunterrichtliches Angebot machen. Unabhängig von der Schulform besonders häufig anzutreffende Angebotsformen sind Hausaufgabenbetreuung, Förderunterricht beziehungsweise -gruppen sowie sportliche und musisch-kulturelle Angebote.«16
Was hier die Schulleitungen als »breites außerunterrichtliches Angebot« ansehen, klingt für Kindheitspädagogen eher wie eine Verlängerung des Unterrichts in den Nachmittag. Wurden doch für die Ganztagsschule ehemals als Ziele die veränderte Rhythmisierung des Tages, die Öffnung für verschiedene Lernformen und die organische Verbindung von Unterricht und Freizeit proklamiert; realisiert ist dies meines Erachtens nur in wenigen Leuchttürmen. Vielmehr sind 84 Prozent der »Ganztags«schulen offene Ganztagsschulen und damit bleiben sie klassische Vormittagsschulen mit angehängtem freiwilligen Angebot. Das ist ein trauriger Rest der großen Pläne vom ganztägigen Leben und Lernen; und im Gegensatz zur ungebrochenen Verbreitung von Programmatik und Erfolgsmeldungen über die Ganztagsschulentwicklung müssen wir feststellen: »Der Kaiser hat womöglich gar keine Kleider an!«
Es gibt also wenig Grund für ein munteres »weiter so«, wenn aktuell nun die Forderung »Betreuungslücken für Grundschulkinder schließen« in den Fokus fachpolitischer Aufmerksamkeit rückt. Weil mit Recht die quantitativen Defizite erkannt sind, »haben sich die Regierungsparteien in ihrem Koalitionsvertrag darauf geeinigt, bis 2025 einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder auf den Weg zu bringen«17. Im Gegensatz zum IZBB wird diesmal auch bemerkt, dass Horte einen nicht unerheblichen Beitrag zur Ganztagsbetreuung leisten − was vermutlich der Tatsache geschuldet ist, dass diesmal die Diskussion nicht von der Kultusseite, sondern vom Bundesfamilienministerium betrieben wird.
Es besteht also die Chance, (trotz aller verkürzten fach-öffentlichen Wahrnehmung) die Zukunft nicht ausschließlich als »Ganztagsschulentwicklung« zu sehen. Dabei geht es meines Erachtens nicht um die Frage, welche Institution letztlich für die Gestaltung des Ganztags besser geeignet ist, da diese Frage bei den strukturpolitischen Entscheidungen der Länder sowieso keine Rolle spielt. Es geht vielmehr um die Frage, was die Hortpädagogik, die Kindertagesbetreuung beziehungsweise die Kindheitspädagogik einzubringen hat in die Gestaltung des ganzen Tages für die großen Kinder.
Auch Entwicklungsbedarfe bei den Horten
Es muss schließlich selbstkritisch festgestellt werden, dass sich der Hort nicht ohne weiteres als attraktive Alternative anbietet. Mancherorts ist er zu einer Verlängerung des Kindergartens in die ältere Kindheit verkommen, mit strengen Aufsichtsregeln, wenig Raum für Selbstbestimmung und den Hausaufgaben als gehasst/geliebter Hauptaufgabe. Von Fachkräften beaufsichtigt und bespielt langweilen sich Kinder und treten die Abstimmung mit den Füßen an, sobald die Eltern meinen, auf die Beaufsichtigung durch den Hort verzichten zu können. Zweifellos gibt es sehr positive (H-)Orte für große Kinder (wie es auch kindgerechte Schulen für den ganzen Tag gibt). Will man zukunftsfähige Konzepte für die Gestaltung des ganzen Tages für große Kinder entwickeln, gälte es, deren Konzepte und Erfahrungen aufzuarbeiten.
Über lange Jahre hinweg hatte auch der sonst überquellende Pädagogik-Buchmarkt den Hort fast vollständig ignoriert. Nach dem nur noch antiquarisch erhältlichen Buch von Berry/Pesch18 und dem noch älteren von Briel/Mörsberger19 war der Hort kaum eine Veröffentlichung wert. Es wird daher erst noch notwendig sein, sich theoretisch, konzeptionell und praktisch der eigenen Stärken und des eigenen Beitrags zur Weiterentwicklung zu vergewissern. Diese fachliche Selbstvergewisserung muss ausgehen von den spezifischen Entwicklungsaufgaben der Kinder in diesem Alter20 und kann danach an wertvollen konzeptionellen Vorarbeiten ansetzen. Die in jahrelangen Diskursen zwischen Praxis und Wissenschaft in Brandenburg entwickelten »Bausteine für die Konzeption der Horte«21 sind eine solche Vorarbeit, wie die nach wie vor aktuellen Beiträge aus den oben genannten Klassikern. Wir brauchen eine Sichtung solcher Vorarbeiten und eine selbstbewusst-kritische Diskussion der Praxis. Schließlich wird es auch darum gehen, einen normativen Rahmen für die Gestaltung des Ganztags zu entwickeln, wie es die Bildungspläne sind (die sich bisher zumeist auf den vorschulischen Bereich konzentrieren). Die »23 Thesen für eine gute Ganztagsschule im Interesse der Kinder«22 können dafür Wege weisen, wie auch zum Beispiel die »Gemeinsamen Orientierungsrahmen für die Bildung in Kindertagesbetreuung und Grundschule - Gor-BiKS«23 oder das »Berliner Bildungsprogramm für die offene Ganztagsgrundschule«24.
Qualitätskriterien für alle Institutionen
Die kritische Seite der Selbstvergewisserung muss den großen Veränderungsbedarf von Horten wie von Ganztagsschulen in den Blick nehmen, um den Entwicklungsaufgaben der großen Kinder gerecht zu werden:
• Horte wie Ganztagsschulen müssen sich mit Blick auf die gesamte Altersspanne ausdifferenzieren, damit sie den unterschiedlichen Entwicklungsbedarfen überhaupt gerecht werden können: vom behüteten Raum, der den nicht immer risikofreien Übergang zur Schule fürsorglich stützt - über einen dezent begleiteten Rahmen für das Gruppenleben der Kinder, für die selbstständige Entwicklung von Normen und Regeln des Zusammenlebens - bis hin zur Öffnung der Einrichtung für die Ermöglichung von Erfahrungsräumen, in denen die Kinder für sich selber stehen, selber aktiv, selber wichtig und verantwortlich werden können.
• Einen gemeinsamen Veränderungsbedarf von Horten wie von Schulen sehe ich im Abbau falsch verstandener Aufsicht und Fürsorge. Feuerwehr und Unfallversicherung verstehen oftmals besser, dass der kompetente Umgang mit Gefahren fürsorglicher ist als behütendes Fernhalten und Bewahren. Das Verbot von »Messer, Gabel, Schere, Licht« gefährdet Kinder, und es ist die Aufgabe von pädagogischen Fachkräften, Kinder nicht fernzuhalten von den Gefahren des Alltags, sondern sie im Umgang mit Herausforderungen und Gefahren kompetent zu machen. Auch deshalb ist es wichtig, dass Kinder die Einrichtung verlassen dürfen; sie müssen Angebote außerhalb wahrnehmen und zum Essen, für die Schulaufgaben oder für einen Kurs wiederkommen dürfen. Sie müssen Freunde treffen dürfen, denn nicht notwendig sind «Klassenkameraden« auch immer die gesuchten Freunde.
• Ganztagseinrichtungen sollen weniger eine Kindervolkshochschule, sondern ein Erfahrungs- und Begegnungsraum sein. Das Überwiegen pflichtiger Kursangebote, wie sie die Ganztagsschulen heute oftmals bieten, ist ebenso unfruchtbar wie lähmende Langeweile; es sei aber bemühten pädagogischen Fachkräften ausdrücklich gesagt: Nicht jedes »Abhängen« und »Chillen« ist langweilig und braucht den Animateur wie im Robinson-Club.
• Ganztagsschulen müssen sich darauf besinnen, zuerst Lebens- und dann erst Lernräume zu sein; sie müssten die Bedeutung informeller Bildungsprozesse und des non-formalen Rahmens nicht nur scheinbar akzeptieren, sondern zum konstitutiven Bestandteil ihres Erfahrungsraums machen, in dem der Unterricht nicht mehr das alles beherrschende Zentrum, sondern ein Teil des Ganzen ist.
Bis dahin ist für viele Horte und (aus meiner Sicht noch viel mehr Ganztagsschulen) einiges zu tun. Der Weg dahin ist für viele Einrichtungen weit, aber es gibt meines Erachtens zwei fast simple, aber bezeichnende Qualitätskriterien, wie weit die Institutionen auf dem Weg zu Häusern des Lebens und Lernens gekommen sind:
• wenn in der Ganztagsschule Lehrkräfte und Kinder gemeinsam zu Mittag essen und wenn der Nachmittag selbstverständliche Arbeitszeit für Lehrkräfte ist;
• wenn Hortkinder sich nicht danach sehnen, abgeholt oder abgemeldet zu werden, sondern die Öffnungszeiten ausnutzen und wenn pädagogische Fachkräfte zwischen Behütung und Laufen-Lassen die gesamte Palette erzieherischer Verantwortung beherrschen.
Hort oder Schule, die Frage ist schließlich nebensächlich, denn wenn der ganze Tag, das ganze Jahr und das ganze Kind im Fokus stehen, wird die Institutionsfrage nebensächlich!
Detlef Diskowski
Dipl.-Pädagoge, war bis 2016 Leiter des Referats Kindertagesbetreuung, Kinder- und Jugendhilferecht, familienunterstützende Angebote im Ministerium für Bildung, Jugend und Sport Brandenburg.
Anmerkungen
1 2003 - 2009, www.ganztagsschulen.org/de/868.php
2 www.bmfsfj.de/blob/112224/7376e6055bbcaf822ec30fc6ff72b287/12-kinder-und-jugendbericht-data.pdf, S. 95 f.
3 Ebd. S. 47.
4 »Spricht eigentlich noch jemand über den Hort … oder hat die Kinder- und Jugendhilfe die Kinder im Grundschulalter schon aufgegeben?«, in: Kita aktuell NRW 11/2009 Carl-Link-Verlag, sowie den Länderausgaben MO, BY, ND, BW, HRS.
5 Vorwort der Redaktion der Zeitschrift jugendhilfe, Ausgabe 6/2014, Verlag Wolters-Kluwer, S. 397.
6 § 7 Abs. 1 Ziffer 1 SGB VIII.
7 Per Mail zu erreichen: info@initiative-grosse-kinder.de
8 Lothar Krappmann, »Was brauchen große Kinder in Elternhaus, Schule und Hort«, AV 1.
9 Pressemitteilung der Bertelsmann Stiftung zum Ländermonitor 2011; https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung/pid/grosser-aufholbedarf-bei-der-ganztagsbetreuungvon-grundschuelern/?tx_rsmbstpress_pi2%5Bpage%5D=8&cHash=8600f0400e59c350be2ae2f94fd8932e
10 www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Statistik/Defkat2018.pdf
11 Hierzu finden sich bei Google 34 000 entsprechende Einträge über lokale und landesweite »Erfolge«.
12 www.kmk.org/dokumentation-statistik/statistik/schul
-statistik/allgemeinbildende-schulen-in-ganztagsform.html
13 www.destatis.de/GPStatistik/receive/DEHeft_heft_00096574
14 Ganztagsschulen in Deutschland, Bericht der Kultusministerkonferenz vom 03. 12. 2015.
15 StEG-Konsortium (2013), Ganztagsschule 2012/13, Tab. D3-6web
16 StEG 2012 - Ergebnisse der Schulleitungsbefragung, S. 70.
17 Hintergrundmeldung des BMFSFJ vom 04. 02. 2019,
www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/familie/kinderbetreuung/ganztagsbetreuung
18 »Welche Horte brauchen Kinder?«, Berlin 1997.
19 »Kinder brauchen Horte«, Freiburg 1984.
20 Krappmann, s. o.
21 Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, Verlag das netz 2016.
22 Lothar Krappmann und Oggi Enderlein, Deutsche Kinder- und Jugendstiftung, www.ganztaegig-lernen.de
23 Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg und Verlag das netz.
24 https://digital.zlb.de/viewer/resolver?urn=urn:nbn:de:kobv:109-opus-246311