Titelthema
Die Welt der Klänge
Nicht immer werden die Möglichkeiten, die sich durch frühe musikalische Bildung in Bezug auf Lernen und Persönlichkeitsentwicklung ergeben, in der Kindertageseinrichtung ausgeschöpft. Wie die Musik in den Kita-Alltag kommt, zeigt Claudia Gschwendtner.
Musikalische Tätigkeiten sollen das Leben der Kinder von Anfang an begleiten. Der Umgang mit Versen, Reimen, Liedern, Kniereitern und Fingerspielen sind für die psychische und physische Entwicklung von hohem Wert. Sie sind Anregung für die emotionale, sensorische und ästhetische Empfindsamkeit. »Der Wunschzettel eines Kindergartenkindes an eine Erzieherin könnte heißen: Ich möchte in meinem Alltag meine Bedürfnisse befriedigen, ich möchte Geborgenheit, Schutz, Beachtung, Akzeptanz und Stimulation erfahren. Ich möchte meine Sinne einsetzen, meinen Körper in der Bewegung wahrnehmen, in Beziehung zu anderen Menschen sein. Ich möchte meine Fantasie einsetzen und innerlich berührtwerden. Ich möchte in dem, was ich tue, einen Sinn sehen, der mit mir in Verbindung steht.« (Ribke 1995, S. 128) Ein Alltag, der mit Musik gefüllt und für die Persönlichkeit und Identitätsentwicklung förderlich ist, orientiert sich an diesen Bedürfnissen.
Musikalische Erfahrungen in der Kita stehen im Zusammenhang mit
• der Sprachförderung, insbesondere das Sprechen über Sinneseindrücke
• musik- und tanzbezogenen Interaktionen
• akustischen und kinästhetischen Sinnesanregungen
• der Förderung von Bewegungskoordination und Bewegungsfluss
• dem Umgang mit Strukturen und Symbolen der Klangorganisation
• transkultureller Musikpädagogik (vgl. Dartsch 2009, S. 15).
Musik soll sich dort ereignen, wo die Kinder aufwachsen, idealerweise als etwas alltäglich Erlebbares. Heute erfahren Kinder in Kindertageseinrichtungen Musik meist aus technischen Speichermedien. Das ist nicht durchweg negativ zu bewerten. Jedoch ist klar, dass das sinnliche Erlebnis, Musik live zu erleben und selbst zu gestalten, viel intensiver, ganzheitlicher und eindrucksvoller ist. Im Kita-Alltag sollten Kindern vielfältige Möglichkeiten der Ausdrucksfähigkeit über Musik, Sprache und Bewegung angeboten werden. Musikalische Grundphänomene wie hoch/tief, laut/leise, schnell/langsam werden zum Ausgangspunkt für Experimente, Gestaltung und Improvisation.
Musik im Kita-Alltag zeigt sich durch
• das Erkunden von physikalischen Grundphänomenen
• die kreative Gestaltung von Musik und Bewegung
• die Entdeckung der eigenen Singstimme
Das Erkunden von physikalischen Grundphänomenen
Klangliche Erfahrungen mit Alltagsgegenständen stellen für junge Kinder große Erlebnisse dar: Es klingt, es macht ein Geräusch, es ist still oder fällt laut zu Boden. Als pädagogische Fachkraft kann ich diese Erfahrungen begleiten und unterstützen, indem ich dem Geschehen Worte gebe, indem ich Blickkontakt mit dem entdeckenden Kind aufnehme und ihm ein wohlwollendes Lächeln schenke, indem ich selbst zum Klangforschenden werde und neugierig mitspiele.
Doch nicht nur Alltagsgegenstände laden uns ein, Klangforschende zu sein, auch unser eigener Körper steckt voller Musik. Die Entdeckung der Körperklänge ist mit dem Einsatz der Kraft eng verbunden: Wie klingt es, wenn ich mit meinen Händen auf meinen Bauch trommle, wenn ich meine Hände aneinander reibe, mit meinen Füßen abwechselnd auf den Boden stampfe oder wenn ich mit meinem Mund puste, rufe, schreie, singe?
Musik und Bewegung kreativ gestalten
Immer wieder sollte versucht werden, das Gehör der Kinder mit ihrer Bewegung zu koppeln. Dies gelingt gut mit Bewegungsspielen, Stopptänzen und Reigen, Sing- und Fingerspielen. Dabei steht das Erleben immer im Vordergrund. Um ein Bewegungsspiel zu gestalten, eignet sich ein Vorstellungsbild als Bezugsrahmen, wie zum Beispiel Naturbilder, die vier Elemente, Besuche von fremden Ländern, Fantasiereisen et cetera. Für die Erfindung eines Tanzes eignen sich Musikstücke, die unterschiedliche Emotionen ausdrücken. Gestalten Sie den Tanz mit den Kindern gemeinsam. Tanzen Sie mit Chiffontüchern, Kastanien, Federn oder Kochlöffeln. Vielseitige Musik aus unterschiedlichen Kulturen, aber auch Chormusik, Neue Musik und Rap können zum Einsatz kommen.
Das Spiel auf elementaren Instrumenten, wie zum Beispiel Rasseln, Handtrommeln, Zimbeln und Triangel oder Stabspielen wie Xylofon und Metallofon, ermöglicht einen immer differenzierteren Einsatz von Klängen und befördert gleichzeitig eine Weiterentwicklung der Feinmotorik. Diese von Carl Orff entdeckten Musikinstrumente zeichnen sich durch einfache Handhabung und großen Aufforderungscharakter aus. Die Kinder haben sofort Lust, die Instrumente auszuprobieren, und benötigen keine lange Übungsphase, um sie zum Klingen zu bringen. Sie sind sozusagen eine Verlängerung der körperlichen Instrumente, der Hände und Füße, mit denen die Kinder klatschend und stampfend Klänge entstehen lassen.
Durch das aktive und selbsttätige Spiel
• können Kinder zunehmend Parameter unterscheiden wie laut/leise, schnell/langsam, hoch/tief
• können Kinder unterschiedliche Geräusche wiedererkennen und benennen
• können Kinder mit der Zeit konzentrierter zuhören
• üben Kinder Stille-Momente ein
Mit Hilfe von einem Dirigat, das über Handzeichen erfolgt, können auch schon junge Kinder wie in einem Orchester zusammen musizieren.
Die eigene Singstimme entdecken
Schon ganz junge Kinder experimentieren mit ihrer Stimme, indem sie brabbeln, glucksen und brummen. Bald entwickeln sie kleine Spontangesänge und freuen sich über Kinderlieder, die sie immer wieder gerne wiederholen. Rhythmisches Sprechen von Silben, Worten und Versen gehört zur methodischen Grundausstattung, um an rhythmischen Fertigkeiten zu arbeiten. Die Übergänge zum Singen sind fließend. Lieder und Kanons, in unterschiedlichen Sprachen und aus verschiedenen Kulturkreisen, in Dur, Moll und Pentatonik, in unterschiedlichen Tempi und Taktarten, bieten einen reichen Schatz für musikalische Entdeckungsreisen. Das Liederbuch vom Deutschen Chorverband »Alle Lieder sind schon da« bietet ein umfangreiches Liedrepertoire für Kinder im Alter von einem bis sechs Jahren.
Singen Sie im Alltag nicht nur in Singkreisen, sondern singen Sie auch mal das, was Sie normalerweise sprechen. Das freie Improvisieren mit der Stimme kann der Situation individuell angepasst werden und wirkt emotional sehr beruhigend auf die Kinder. Insbesondere die Gestaltung von Übergängen profitiert durch den Klang- und Stimmeinsatz.
Reflexionsfragen zur musikalischen Bildung in der Kita
Eine repräsentative Umfrage zur musikalischen Bildung in bayerischen Kindertageseinrichtungen beschäftigte sich jüngst mit der Frage, welchen Stellenwert musikalische Bildung in Kindertageseinrichtungen hat und wie häufig im Alltag gesungen und musiziert wird. Dabei lag der Fokus auf der Häufigkeit des Singens sowie der Zugänglichkeit von Instrumenten und der Raumausstattung (zum Beispiel eigener Musikraum, Musikwerkstatt, Musikinsel, Raum der Sinne, Lauschsessel). Aber auch die Zusammenarbeit mit den Eltern und mit externen Kooperationspartnern sowie die musikalische Kompetenz der pädagogischen Fachkräfte wurden in den Blick genommen (vgl. Goesmann et al. 2020).
Das Ziel der Befragung war es, die Qualitätsentwicklung im Bereich der Musikbildung anzustoßen sowie Handlungsempfehlungen und Unterstützungsangebote im Blick auf Kooperationspartner, unterschiedliche Umsetzungsarten und Fortbildungsangebote zu generieren. Ein ausführlicher Einblick findet sich unter www.ifp.bayern.de (IFP-Projektbericht 36/2020).
Dieser umfassende Blick ist auch notwendig, wenn Kita-Leitungen mit ihrem Team, den Eltern und Kindern reflektieren, wie Musik in den Kita-Alltag kommen kann. Neben den inhaltlichen und methodischen Fragen sind organisatorische Strukturen zu prüfen, zu bewerten und neu zu denken. Im Team gilt es auch zu klären, wer welche Aufgabe übernimmt. Die klare Zuweisung von Verantwortlichkeiten ist vor allem in der ersten Phase der Weiterentwicklung sinnvoll.
Die folgenden Reflexionsfragen stellen eine Anregung dar und können ergänzt und an die Gegebenheiten der Einrichtung angepasst werden:
Team:
• Wann wird bei uns gesungen und warum (nur) dann? Wo und mit wem?
• Wer hat das Wissen, die Fähigkeiten, die richtige Einstellung, die den Prozess »Musik in den Kita-Alltag bringen« befördern kann?
• Wie kann sich das Team gegenseitig unterstützen?
• Wie kann das Team gemeinsam lernen und Neues wagen?
• Braucht das Team Unterstützung? Wo und durch wen kann das Team Unterstützung bekommen?
• Was alles ist Musik und wo überall finden wir Musik?
• Wie können wir Musik erfahren - mit dem Körper, der Stimme, mit Material?
• Welche musikalischen Kompetenzen (Fachwissen, Haltung zu musikalischen Aktivitäten, musikbezogene Fähigkeiten) der pädagogischen Fachkräfte können als Ressource genutzt werden? Wo gibt es Entwicklungsbedarf?
Umfeld:
• Was bedeutet Musik für die Menschen um uns herum?
• Wer von ihnen hat eine besondere persönliche Beziehung zu Musik? Eine besondere Begabung?
• Wer könnte uns gut als Experte begleiten? Ist eine mehrstündige Präsenz einer elementaren Musikpädagogin in Zusammenwirken mit den Erziehungsspezialisten in der Kita möglich?
• Welche Kooperationen mit externen Institutionen und Partnern sind denkbar?
• Wäre die Teilnahme an Musikprojekten möglich?
(Hilfreiche Materialien und Angebote zum Aufbau von Kooperationen und Fortbildungsangeboten finden sich unter www.netzwerk-kitamusik.nrw)
Eltern:
• Wie können wir Eltern einladen, mit ihrem Kind zu singen, sich zu bewegen und Musik über den Körper zu erfahren?
• Wagen wir mit Hilfe der Eltern musikalische Schritte in fremde Kulturen? Bauen wir ein transkulturelles Repertoire auf?
• Wie gelingt es uns, dass alle Familien gut informiert und eingebunden werden?
Kinder:
• Sehen wir das Bedürfnis nach musikalischer Anregung und Vertiefung und finden wir eine gute Mitte zwischen spontanen und geplanten Angeboten?
• Wo finden wir (Zeit-)Räume, in denen die Kinder ihre eigenen Vorstellungen und Bedeutungen von Musik finden und ausdrücken können?
• Wie müssen diese Räume aussehen, wie können wir diese Räume gestalten?
• Wie können wir gut dafür sorgen, dass die Kinder sich zuhörend öffnen und ihre Gefühle und Empfindungen auch mit musikalischen Mitteln ausdrücken können?
Die Menschen und insbesondere die Kinder, die sich in der Kita täglich treffen, müssen nicht zur Musik hingeführt werden, wir sind mit ihnen bereits schon mittendrin. Die Musik im Kita-Alltag hält vielfältige Angebote bereit, verschiedene Erlebnisweisen können wir wieder aktivieren. Wir können das bewusste Hören wieder entdecken, das Singen und die Freude an der Bewegung. Wir können Klänge selbst gestalten, erleben und erzeugen. All das geschieht in einer Gemeinschaft in Interaktion und mit gegenseitiger Wertschätzung. Umfangreiches Material für die Praxis findet sich zum Beispiel in der Broschüre »Klänge und Geräusche« von der Stiftung »Haus der kleinen Forscher«. Im Vordergrund der gemeinsamen musikalischen Entwicklung stehen die liebevolle Begleitung und die behutsame Unterstützung, wenn die Kinder Interesse an musikalischen Aktivitäten zeigen. Die Musik kommt dann in die Kita, wenn die Einstellung, das Verhalten und Handeln der pädagogischen Fachkräfte gegenüber den musikalischen Inhalten in Resonanz gehen.
Claudia Gschwendtner
Rhythmik- und Musikpädagogin, Fortbildungsdozentin für Sprache, Musik und Bewegung, Fachberatung für Kitas, Multiplikatorin des Hessischen Bildungs- und Erziehungsplans.
Literatur
• Busch, Barbara/Müller, Silvia (2014): Im Kita-Alltag singen. Konzeption der Fortbildung PrimacantaKita für pädagogische Fachkräfte; Innsbruck, Esslingen: Helbling
• Dartsch, Michael (2009): Musikalische Bildung von Anfang an. Perspektiven aus Entwicklungspsychologie und Pädagogik; Bonn: VdM-Verlag
• Deutscher Chorverband (2016): Alle Lieder sind schon da; Innsbruck, Esslingen: Helbling
• Goesmann, Claudia et al. (2020): Eine repräsentative Befragung zur musikalischen Bildung in bayerischen Kindertageseinrichtungen; München: Staatsinstitut für Frühpädagogik (IFP)
• Ribke, Juliane (1995): Elementare Musikpädagogik. Persönlichkeitsbildung als musikerzieherisches Konzept; Regensburg: ConBrio Verlag
• Stadler Elmer, Stefanie (2015): Kind und Musik. Das Entwicklungspotenzial erkennen und verstehen; Berlin, Heidelberg: Springer
• Stiftung Haus der kleinen Forscher (2019): Klänge und Geräusche. Akustische Phänomene mit Kita und Grundschulkindern entdecken; Berlin: Stiftung Haus der kleinen Forscher