Titelthema
Auf die Haltung kommt es an
Wie kann eine professionelle pädagogische Haltung beschrieben und begründet werden? Gedanken von Rainer Strätz.
»Wenn zwei das Gleiche tun, so ist das nicht dasselbe.« Dieser altrömische Satz ärgert uns, wenn er besagt, dass Menschen ungerechtfertigt ungleich behandelt werden. Er ist aber dann wahr, wenn es weniger darauf ankommt, was ich tue, sondern vor allem darauf, wie ich es tue: Ich kann einen Säugling kalt und routinemäßig wickeln oder zugewandt und empathisch, kann bei der Beobachtung eines Kindes auf Defizite fokussieren oder ressourcenorientiert vorgehen. (Entsprechend unterschiedlich ist die Reaktion der Kinder: Sie fassen Beobachtung entweder als Kontrolle auf, die sie möglichst meiden, oder als Anerkennung, die sie suchen.) Was hier das pädagogische Handeln leitet, kann »Haltung« genannt werden: »Die eigene Haltung wirkt wie ein ›innerer Kompass‹, eine Leitlinie, die unsere Wahrnehmung und Bewertung von Kindern, ihren Eltern, pädagogischen Situationen und Interaktionen prägt und unsere Handlungsbereitschaften beeinflusst « (Viernickel 2016, S. 6). Haltungen gehören als Teil der Personalkompetenz zur professionellen pädagogischen Handlungskompetenz dazu. Sie sind dem Handeln übergeordnet; Gesprächstechniken wie das »aktive Zuhören« zum Beispiel nützen ohne dahinterstehende Haltungen wie Respekt und Wertschätzung nicht viel, weil sie dann aufgesetzt wirken und unglaubwürdig sind. Wer aber die entsprechenden Haltungen hat, macht in einem Gespräch vieles »von selbst« richtig.
Haltungen sind »nur« Leitlinien, gleiche Haltungen bedeuten nicht identisches, uniformes Handeln - das würden wir nicht können und die Kinder nicht wollen. Zwei Fachkräfte werden beispielsweise ihre Wertschätzung eines Kindes im Alltag in recht unterschiedlicher Weise zum Ausdruck bringen - das ist nicht zuletzt eine Frage des Temperaments. Manche Kinder wiederum lassen zum Beispiel viel mehr Nähe und Spontaneität zu als andere. Allerdings folgt aus einer bestimmten Haltung zwingend, dass alle Fachkräfte bestimmte Dinge nicht tun. Die Wertschätzung des Kindes etwa verbietet seine Bloßstellung oder Herabsetzung.
Was aus einer Haltung für das konkrete Handeln folgt, wird von pädagogischen Laien manchmal missverstanden. Bei aller Empathie und Wertschätzung zum Beispiel hat eine Fachkraft auch die Aufgaben, das Kind vor Schaden zu bewahren und die Belange der anderen Kinder zur Geltung zu bringen. Deshalb kann sie es nicht immer gewähren lassen, sondern muss auch klare Grenzen setzen, die sie allerdings empathisch vermittelt und wertschätzend erklärt.
Verschiedene Personen können sehr unterschiedliche pädagogische Haltungen entwickelt haben; Haltung wird »zu einem Teil der eigenen Persönlichkeit und ist kognitiv wie emotional mit den jeweils einzigartigen Erfahrungshintergründen verwoben« (Viernickel 2016, S. 6). Pädagogische Fachkräfte aber können ihre Haltungen nicht völlig frei bestimmen, sondern müssen sich an berufsspezifischen Maßstäben, an gesetzlichen Vorgaben, am Leitbild des Trägers und an der Einrichtungskonzeption orientieren.
Wir sollten davon ausgehen, dass die allermeisten, die sich für diesen Beruf entscheiden, die erwarteten pädagogischen Haltungen mitbringen oder entwickeln, auch wenn es einzelne erschreckende Ausnahmen gibt wie jüngst die Erzieherin aus Viersen, der vorgeworfen wird, ein Kind in der Einrichtung getötet zu haben, und der in Arbeitszeugnissen mehrfach fehlende Empathie bescheinigt wurde. Weil allerdings in Schulzeugnissen der Schwerpunkt auf »nachprüfbarem« Wissen liegt, ist nicht jede gute Schülerin oder jeder gute Student auch eine gute pädagogische Fachkraft und umgekehrt. Im Beruf sind dann oft Haltungen wichtiger als Noten, denn sie bestimmen auch, ob das Wissen richtig eingesetzt und up to date gehalten wird (siehe unten). Die Anstellungsträger werden in Bewerbungsgesprächen und in der Probezeit einer neuen Kollegin nach den wichtigen Haltungen suchen, soweit es der Fachkräftemangel zulässt.
Wie jeder Kompass wird auch der »innere« (siehe oben) durch störende Einflüsse abgelenkt. »Ich bin eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu«, schrieb Ödön von Horváth: Unter Stress verhalten wir uns anders, als wir das sonst tun würden, erkennen uns im Nachhinein manchmal selbst nicht wieder. Stress hat oft mit schlechten Arbeitsbedingungen - insbesondere einem zu niedrigen Personalschlüssel - zu tun, aber auch mit fehlender Akzeptanz im Team oder zu hohen Erwartungen der Leitung, des Trägers oder von Eltern. Besonders gefährlich sind zu hohe Erwartungen an sich selbst; das muss die Leitung bei ihrer Personalführung im Blick haben.
Die Begründung von Haltungen
Welche Haltungen wichtig sind, lässt sich nicht allgemeingültig beweisen wie etwa der Satz des Pythagoras. Es gibt drei Begründungsstränge, einen rechtlichen, einen empirischen und einen wertorientierten: Beim Bezug zu den Kinderrechten geht es darum, dem Kind aus Überzeugung, nicht nur notgedrungen, das zu geben beziehungsweise zu ermöglichen, was ihm rechtlich zusteht. Eine empirisch orientierte Begründung wird das betonen, was ein Kind nachweislich oder wahrscheinlich in seiner Entwicklung fördert. Alle zentralen Bildungsziele, die Persönlichkeitsmerkmale betreffen (zum Beispiel Empathie oder Resilienz), spiegeln sich in einer entsprechenden pädagogischen Haltung. Der Zusammenhang liegt auf der Hand: Kinder lernen viel am Modell, ich verhalte mich also auch deshalb empathisch, weil ich die Empathie des Kindes bestärken und gegebenenfalls fördern will. Und Haltungen, die Sicherheit und Vertrauen vermitteln, schaffen erst die Voraussetzung dafür, dass sich ein Kind auf Bildungsprozesse überhaupt einlässt. Bei anderen Haltungen, der »Ressourcenorientierung« (siehe unten) zum Beispiel, liegt eine solche Entsprechung mit dem kindlichen Verhalten nicht so offen auf der Hand. Manchmal sind differenzierte Beobachtungen notwendig, um beurteilen zu können, was eine solche Haltung beim Kind bewirkt. Letztlich geht es immer um Werte: Wie wollen wir mit Kindern zusammenleben? Was wünschen wir uns von anderen und von uns? Was ist uns in unserem Leben wichtig? Nicht jede Antwort ist klar, sicher und endgültig. Oft genug fühlen wir Veränderungen, Unsicherheiten und Unwägbarkeiten. In diesem Sinne sind die folgenden Vorschläge gemeint:
Einige zentrale Haltungen
In Bezug auf die Dinge geht es um »Neugier« im besten Sinn des Wortes: Wir tun nicht allwissend, sondern haben Freude daran, immer etwas Neues herauszufinden, allein oder gemeinsam mit den Kindern. Das gilt für alle Dinge, denen wir im Alltag begegnen oder von denen wir hören, aber genauso für pädagogische Konzepte und Entwicklungen. Fachkräfte brauchen die Bereitschaft, ständig dazuzulernen und Gewohntes infrage zu stellen, um die eigene Sicht und Haltung entweder neu zu bestätigen oder zu ändern - von der Einschätzung elektronischer Medien bis hin zur Frage multiprofessioneller Teams. Das bedeutet, in Fortbildungen und Fachgesprächen eine anregende Chance zu sehen und aufmerksam zuzuhören.
In Bezug auf Andere: »Empathie« ist die Fähigkeit und besonders die Bereitschaft, wahrzunehmen, was in einem anderen Menschen vorgeht - kognitiv, vor allem aber emotional. Das verwandte Wort »Mitgefühl« weist darauf hin, dass dadurch eine Resonanz ausgelöst wird, die gegebenenfalls bis zur »Mitfreude« oder zum »Mitleid« geht. Empathie als pädagogische Haltung bedeutet konkret, dass
• kein Kind herabgesetzt oder bloßgestellt wird,
• keine - offene oder versteckte - Ironie und kein Sarkasmus in den Dialog mit einem Kind einfließen,
• nie ungerechtfertigt verallgemeinert wird (»Immer bist du …«),
• die pädagogische Fachkraft für jedes Kind »Glücksmomente« schafft, besondere Momente, in denen es zumindest ab und zu für kurze Zeit ihre ungeteilte Aufmerksamkeit und Zuwendung genießen kann,
• jedem Kind die Zeit gegeben wird, die es braucht.
Während es bei der Empathie um momentane Prozesse und Befindlichkeiten geht, bezeichnet »Perspektivenübernahme« bestimmte Qualitäten längerfristiger Prozesse im Zusammenhang mit der Planung und der Reflexion pädagogischen Handelns. Dabei geht es insbesondere darum,
• das Recht des Kindes auf »Eigen-Sinn« zu akzeptieren, wenn es bestimmte Dinge anders sieht, einschätzt und für wichtig hält als die pädagogische Fachkraft,
• die »Themen des Kindes« (H. J. Laewen) zu erkunden, die in seinem Bildungsprozess gerade bedeutsam sind,
• bei unterschiedlichen Sichtweisen gemeinsam Lösungen und Kompromisse zu finden.
»Respekt« und »Wertschätzung« heißen konkret:
• Respekt vor der Privatsphäre des Kindes und vor seinen Entscheidungen,
• Kinder werden nicht unterschätzt, sondern ihnen wird viel zugetraut,
• Fehler oder Misserfolge eines Kindes werden nicht nachsichtig belächelt, aber auch nicht abgetan oder verharmlost, wenn das Kind frustriert ist. Stattdessen wird betont, dass Misserfolge zum Lernprozess dazugehören; das Kind wird ermutigt, nicht aufzugeben.
»Ressourcenorientierung« bedeutet, von den Stärken und »Selbstbildungspotenzialen« (G. E. Schäfer) jedes Kindes auszugehen. Eine der wichtigsten Reflexionsfragen bei Beobachtungen lautet: »Worin besteht gerade die Leistung des Kindes?«
In Bezug auf sich selbst: Die gewohnheitsmäßige Bereitschaft, durch kritische (Selbst-)Reflexion dazuzulernen, zeichnet professionelles pädagogisches Handeln aus. Was geschehen ist, wird nicht einfach »abgehakt« und vergessen, sondern regelmäßig einer rückschauenden Analyse unterzogen. »Kritisch« bedeutet nicht, nur das berühmte »Haar in der Suppe« zu suchen. Positives soll genauso gewürdigt werden wie Dinge, die besser hätten laufen können. Selbstreflexion ist auch ein Weg zur schrittweisen Veränderung der pädagogischen Haltungen selbst, die allerdings nicht so leicht umzuformen sind, weil sie gewachsen und mit individuellen Werten und Zielsetzungen verwoben sind. Schrittweise, auch grundlegende Veränderungen habe ich aber bei Fachkräften und bei mir selbst oft genug erlebt.
Selbstreflexion ist alltäglich; Kinder haben zum Beispiel das Recht auf eine »Zweitreaktion« der pädagogischen Fachkraft, wenn sie zunächst spontan in einer Weise gehandelt hat, die ihr später selbst unangemessen erscheint: »In solchen Situationen gilt es, zwischen einer persönlichen, emotional gefärbten, spontanen Erstreaktion und einer professionellen, das heißt willentlich steuerbaren ›Zweitreaktion‹ zu unterscheiden. Die Zweitreaktion bietet dabei einen professionellen Abstand zum ersten Impuls und eröffnet erweiterte, kontextsensible Handlungsspielräume.« (Solzbacher 2016, S. 7) Das kann bedeuten, dass eine pädagogische Fachkraft ihre Entscheidungen ausdrücklich revidiert und sich gegebenenfalls bei einem Kind entschuldigt.
Selbstreflexion hat jedoch ihre Grenzen. Noch bessere Gelegenheiten, sich die eigenen Haltungen zu verdeutlichen, sie zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern, sind Fachgespräche im Team oder sonst wo - ich danke bei dieser Gelegenheit Regine Kron für hilfreiche Gespräche.
Ein besonders ergiebiges Mittel ist hier die Fallanalyse: Anhand ausgewählter Fälle - zumeist aus der Literatur - lässt sich reflektieren und diskutieren, was die Beteiligten wie und auf der Grundlage welcher Haltung(en) getan haben und wie sie alternativ hätten handeln können. »Dilemma-Situationen« (Fröhlich-Gildhoff et al. 2014, S. 134) zeigen besonders klar, welche Handlungsalternativen bestanden, die jedoch alle mit Risiken oder möglichen Nachteilen verbunden waren. In ähnliche Richtung zielt die Reflexion von »problematischen Situationen«, in denen das Verhalten eines Beteiligten besonders heikel oder die ausgelösten Folgen gravierend waren. Das alles fordert unsere Fähigkeit zum respektvollen, gleichberechtigten Diskurs massiv heraus, denn abgesehen von Verhaltensweisen, die definitiv nicht zulässig sind, muss die Frage vermieden werden: »Wer hat recht?«
Um dem Missverständnis zu begegnen, dass pädagogische Haltungen nur in solchen »zugespitzten« Situationen bedeutsam sind, müssen allerdings auch Alltagssituationen im Rahmen kollegialer Beobachtung und Beratung analysiert werden. Ein bewährtes Werkzeug dazu ist der Reflexionsbogen »GInA« (Weltzien et al. 2018). Er kann Ihnen nicht zuletzt verdeutlichen, was Sie alles auf der Grundlage welcher Haltungen richtig machen.
Prof. Dr. Rainer Strätz
Ehemals Lehrtätigkeit im BA-Studiengang »Pädagogik der Kindheit und Familienbildung« an der Fachhochschule Köln.
Literatur
Fröhlich-Gildhoff, Klaus/Nentwig-Gesemann, Iris/Pietsch, Stefanie (2014): Kompetenzen einschätzen und Feedback kompetenzbasiert formulieren, in: Deutsches Jugendinstitut/Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (Hrsg.): Kompetenzorientierte Gestaltung von Weiterbildung. Grundlagen für die Frühpädagogik, Wegweiser Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte, Band 7, S. 128 -153; München
• Solzbacher, Claudia (2016): Was ist eigentlich eine professionelle pädagogische Haltung? Ist sie lehrbar und erlernbar?, in: Service National de la Jeunesse (Hrsg.): Die pädagogische Haltung. Sammlung der Beiträge der vierten nationalen Konferenz zur non-formalen Bildung im Kinder- und Jugendbereich, S. 6 - 8; www.snj.public.lu/wp-content/uploads/2019/04/Pa%CC%88dagogische-Haltung.pdf (Zugriff: 27. 07. 2020)
• Viernickel, Susanne (2016): Zur Bedeutung der professionellen Haltung in der pädagogischen Arbeit - eine Spurensuche in Theorie und Praxis; www.offensive-bildung.de/p05/engagement/de/function/conversions:/publish/images/projekte/erreichtes/2016_11_15_Vortrag_Viernickel_Haltung.pdf (Zugriff: 13. 03. 2018)
• Weltzien, Dörte/Bücklein, Christina/Huber-Kebbe, Anne (2018): GInA. Gestaltung von Interaktionsgelegenheiten im Alltag; Freiburg, Basel, Wien: Herder