Standpunkt
Traut Euch!
Wirkliches Lernen setzt ein pädagogisches Taktgefühl voraus, betont Frank Jansen.
In diesen Zeiten einen Standpunkt zu schreiben, ohne dabei auf die Pandemie einzugehen, ist vielleicht etwas waghalsig. Und wenn es dann in diesem Heft auch noch um »Abenteuer in der Kita« geht und die riskanten Bedingungen, unter denen Sie seit Monaten arbeiten, unerwähnt bleiben, dann setzt man sich schnell dem Risiko aus, am Ende nicht nur Zustimmung zu finden. Vielleicht tut es aber auch mal gut, etwas anderes zu lesen und über etwas anderes nachzudenken. Einfach ein paar Fragen aufzuwerfen, die wir nicht aus dem Blick verlieren dürfen. Und das in einer Zeit, in der wir ohnehin gerade lernen, viele Gepflogenheiten über Bord zu werfen, und eingeschlichene Routinen neu betrachten.
»Das Leben bildet, Worte belehren.« Mit dieser Feststellung bringt der Philosoph Karl Jaspers prägnant auf den Punkt, was uns in der Elementarpädagogik seit Jahrzehnten leitet. Unsere Vorstellung vom selbsttätigen Kind, dessen Talente und Interessen im Mittelpunkt unserer pädagogischen Arbeit stehen, korrespondiert mit der Erkenntnis des deutschen Philosophen, der viele reformpädagogische Strömungen beeinflusste. Seine Erkenntnis ist die Leitidee der Erlebnis- und Abenteuerpädagogik, in der das authentische Lernen im Vordergrund steht. Ein Lernen, das darauf beruht, dass wir Grenzerfahrungen bewältigen, an diesen wachsen und unser Wissen um uns selbst und um die Dinge dieser Welt durch konkrete Erlebnisse und Erfahrungen erweitern. Mindestens genauso bestechend hat der deutsche Dichter und Naturforscher Johann Wolfgang von Goethe diese pädagogische Leitidee erfasst: »Bildung, die keine Herzenstöne erhebt, ist eine wahrhaft tote Bildung.«
Überträgt man das auf Kindertageseinrichtungen, dann lässt sich daraus vor allem ein grundsätzliches Prinzip ableiten, das weitreichende Konsequenzen für den pädagogischen Alltag in sich verbirgt: der pädagogische Takt. Sich Kindern gegenüber pädagogisch taktvoll zu verhalten, setzt eine ausgewogene Balance zwischen Nähe und Distanz voraus. Nähe ist dann erforderlich, wenn Kinder darum bitten, unterstützt zu werden. Demgegenüber steht die Distanz Kindern gegenüber als Ausdruck dessen, dass wir ihnen etwas zutrauen und dass wir von der Bedeutung eigenständiger Lernprozesse überzeugt sind. Da sind Antworten fehl am Platz, wenn diesen keine Fragen vorausgegangen sind. Da stören zeitlich eng vorgegebene Alltagsstrukturen, in denen der kindliche Forschungsdrang unterbrochen wird, nur weil der themenbezogene Stuhlkreis auf dem Plan steht.
Bildungsprozesse, die Herzenstöne erheben, die nicht geprägt sind von belehrenden Worten, sondern von Grenzerfahrungen, von Erlebnissen und von Abenteuern können auch nicht in geschlossenen Gruppenmilieus stattfinden. Diese Bildungsprozesse setzen vielfältige Erlebnismöglichkeiten voraus, die in überfüllten Gruppenräumen nicht möglich sind. Auch nicht in geschlossenen Gruppenmilieus, die nur eingeschränkte Erfahrungsräume bieten. Notwendig sind vielmehr offene und gruppenübergreifende Lern- und Aktionsflächen, in denen der Facettenreichtum kindlicher Abenteuerlust und Neugierde zum Tragen kommt. Das alles ist nicht immer ganz einfach, angesichts der Erwartungen, mit denen Sie konfrontiert sind. Der Kinder wegen aber lohnt es sich. Deswegen gilt für die Zeit nach der Pandemie: Traut euch, und belebt diese pädagogischen Grundsätze wieder neu!
Frank Jansen
Geschäftsführer des Verbands Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder (KTK) - Bundesverband e. V.
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