Titelthema
Das ist unser Abenteuer!
Was war Ihr größtes Abenteuer? Sprechen Sie darüber doch mal im Team. Bestimmt bekommen Sie ganz unterschiedliche Erlebnisse zu hören. Abenteuer hängen nämlich mit unserer Lebenswelt zusammen - was für die einen Alltag ist, ist für andere schon eine Herausforderung. Milena Lauer gibt Impulse, wie Abenteuer in der Kita lebensweltorientiert initiiert werden können.
Viele Kitas tragen »Abenteuer« in ihrem Namen, und tatsächlich erleben Kinder in der Kita täglich Abenteuer - im Spiel. Sie fahren mit einem Segelboot durch stürmische See, sie fliegen mit Raketen in den Weltraum oder retten einen Freund aus einer tiefen Grube. Das alles sind fiktive Abenteuer der Kinder, in denen sie etwas über sich, über die Gemeinschaft und über die Welt, die sie sich vorstellen können, erfahren.
Aber wie sieht es mit echten Abenteuern in der Kita aus? Geht das überhaupt? Schließlich sollen Kitas sichere Orte zum Erkunden und Spielen für Kinder sein - so erwarten es Gesellschaft und Eltern. Erinnern Sie sich jetzt nochmal an Ihre Abenteuer in der Kindheit: Was zeichnete diese aus? Wahrscheinlich waren das Situationen, in denen Sie ohne Erwachsene unterwegs waren, in denen Sie zusammen mit anderen Kindern Risiken eingegangen sind. Solche Erzählungen höre ich immer wieder, wenn ich mit pädagogischen Fachkräften biografisch über Kindheit früher und heute nachdenke.
Heute verbringen Kinder einen großen Teil ihres Tages in einer Kita. In so einer institutionalisierten Kindheit sind die selbstinitiierten Abenteuer früherer Generationen nicht mehr möglich. Es braucht »geplante Abenteuer« mit offenem Ausgang und/oder pädagogische Fachkräfte, die Ereignisse mit Potenzial zum Abenteuer spontan aufgreifen. Kinder brauchen für ihre Abenteuer Freiraum und Offenheit für ihre Fantasie, geheime Orte und unbeobachtetes, ungestörtes Spiel. Und sie brauchen pädagogische Fachkräfte, die sich trauen, mit den Kindern Abenteuer zu erleben.
Abenteuer für die Kinder
Um Kinder finden Abenteuer toll. Sie sind spannend und ermöglichen ihnen neue Erfahrungen. Aus pädagogischer Sicht gesprochen: Ein Abenteuer eröffnet Kindern neue Lern- und Entwicklungsanreize. Weil Abenteuer zumeist nur gemeinsam gemeistert werden können, stärken sie auch die Solidarität und das Wir-Gefühl.
Ein Abenteuer ist etwas Besonderes, es findet außerhalb des Alltags und des gewohnten Umfelds statt. Es ist für die Kinder eine Herausforderung und erfordert Mut. Sogleich wird deutlich: Was von den Kindern Ihrer Kita als Abenteuer erlebt wird, ist von deren Lebenswelt geprägt, von den Erfahrungen, die die Kinder in ihrem Alltag und in ihrem Umfeld machen.
Der erste Schritt zum Abenteuer ist also die Erkundung: Welche Erfahrungen und welches Umfeld sind für die Kinder in Ihrer Kita alltäglich? Was wären besondere Erlebnisse und Orte, die die Kinder herausfordern und anregen?
Wo leben die Kinder?
Als Berlinerin verbinde ich Abenteuer mit Erlebnissen in der unberührten Natur, die mich an meine körperlichen Grenzen bringen. Doch wie ist das für Kinder, die ländlich leben und in einen Waldkindergarten gehen? Für sie ist Alltag, was für viele städtisch lebende Kinder abenteuerlich ist. Andersherum stelle ich mir vor, wie abenteuerlich die Fahrt mit der U-Bahn für ländlich lebende Kinder sein kann.
Soziokulturelle Bedingungen
Die Erfahrungsmöglichkeiten der Kinder Ihrer Kita hängen stark von ihren soziokulturellen Lebensbedingungen ab. Wie vielfältig sind die Freizeitaktivitäten der Kinder? Welche Möglichkeiten und welche Beschränkungen haben die Familien? Während der Begutachtung von Bewerbungen auf den Deutschen Kita-Preis begegnete mir eine Kita, die sehr bewusst die beengten Wohnverhältnisse der Familien in einem dicht bebauten Stadtteil aufgreift und dazu ein Gegengewicht setzt. Sie gehen mit den Kindern häufig in ein Naturschutzgebiet und bieten den Kindern viele Bewegungsanreize. In den kleinen Wohnungen haben die Familien verständlicherweise selten Haustiere, aber die Kinder interessieren sich sehr für Tiere. Deshalb ermöglichen die pädagogischen Fachkräfte dieser Kita durch Kooperationen Kindern den Umgang mit Tieren. In diesem Ansatz liegt das Potenzial für Abenteuer, wenn die pädagogischen Fachkräfte auch herausfordernde Situationen mit den Kindern aufgreifen und sich auf einen offenen Ausgang einlassen.
Familienkultur
Jede Familie hat ihre eigene Familienkultur, verstanden als das »jeweils einzigartige Mosaik von Gewohnheiten, Deutungsmustern, Traditionen und Perspektiven einer Familie, in das auch ihre Erfahrungen mit Herkunft, Sprache(n), Behinderungen, Geschlecht, Religion, sexueller Orientierung, sozialer Klasse, mit Ortswechsel, mit Diskriminierung oder Privilegierung einhergehen« (Wagner 2013, S. 223). Die individuelle Familienkultur beeinflusst die Erfahrungswelt der Kinder: Welche Orte kennen sie? Welche Aktivitäten erleben sie regelmäßig? Welche Grenzen sind der Familie, den Kindern gesetzt? Was wäre etwas Besonderes? Eine Übernachtung in der Kita beispielsweise ist sicherlich besonders abenteuerlich für Kinder, die zuvor noch nie ohne ihre Eltern bei Freunden oder Familienmitgliedern genächtigt haben. Der Besuch eines Opernhauses oder historischen Museums könnte ebenso ein Abenteuer für Kinder sein, die solche Orte zum ersten Mal betreten - wenn sie sie möglichst eigenständig erkunden können, anstatt dort belehrt zu werden.
Was bringt den Kindern das Abenteuer?
Abenteuer sind für Kinder besondere und herausfordernde Erlebnisse, die eine gewisse Überwindung und Mut erfordern. Damit steckt in jedem Abenteuer das Potenzial für Bildungserlebnisse und zur Kompetenzentwicklung. Die Kinder erweitern ihr Bild von sich selbst, von den anderen und von der Vielfalt ihrer Lebenswelt. Sie erleben, was sie schon können und wie sie gemeinsam Herausforderungen bewältigen können, das stärkt ihr positives Selbstkonzept und ihre sozialen Kompetenzen. Im Abenteuer erleben sie, dass Beharrlichkeit und Ausdauer zum Erfolg führen können (lernmethodische Kompetenzen) (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft 2014, S. 27 - 28). Nicht zuletzt werden Kinder im Abenteuer auch ihre Sicherheits- und Risikokompetenz weiterentwickeln. Kita-Fachkräfte können diese Potenziale aufgreifen, indem sie die Eigenaktivität der Kinder im Abenteuer feinfühlig begleiten und die Erlebnisse später zusammen mit den Kindern reflektieren.
Abenteuer für die pädagogischen Fachkräfte
Der Aufbruch in ein Abenteuer erfordert auch von den pädagogischen Fachkräften Mut. Sie verlassen den Schutzraum der Kita beziehungsweise der regelmäßig aufgesuchten Orte und lassen sich auf einen offenen Ausgang ein.
Welche Potenziale für Abenteuer Sie mit den Kindern aufgreifen, wird sicherlich wieder von Ihren Erfahrungen beeinflusst. Hier können Sie von der Vielfalt individueller Erfahrungen im Team profitieren. Worin Sie Risiken sehen und worin bewältigbare Herausforderungen, kann sich deutlich unterscheiden. Eine konkrete Anregung zum Einstieg in die Erkundung: Tauschen Sie sich doch im Team biografisch über Abenteuer in Ihrer Kindheit aus und sprechen Sie darüber, wie Sie diese heute durch Ihre »pädagogische Brille« sehen. Welche Parallelen und welche Unterschiede erkennen Sie zwischen Ihrer eigenen Kindheit und der Lebenswelt der Kinder Ihrer Kita? Möglicherweise öffnen Ihre geteilten Erinnerungen Ihren Blick für mögliche Abenteuer in der Kindertageseinrichtung.
Austausch mit den Familien
Abenteuer eröffnen Ihnen vielfältige Gesprächsgelegenheiten mit den Eltern. Die zuvor beschriebene Erkundung der Lebenswelt der Kinder gelingt Ihnen am besten im offenen und vertrauensvollen Austausch mit den Eltern. Überlegen Sie, wie Sie Eltern dazu anregen können, Ihnen Einblicke in ihre Lebensrealität zu eröffnen. Ich denke hier an eine Perspektivübernahme, die dazu anregt, schon in Ihren Fragen Verständnis für mögliche Belastungen zu zeigen. Ein Beispiel: Wie stellen Sie sich die alltägliche Abendgestaltung mit der Familie nach einem anstrengenden Arbeitstag in einer kleinen Wohnung vor? Sehen Sie hier noch Platz für regelmäßige Highlights? Anders sieht es bei der Frage nach dem tollsten Familienausflug in der letzten Zeit aus. Beides zeigt, was der Familie wichtig ist, welche Möglichkeiten und welche kreativen Ideen sie hat.
Die »Planung« eines Abenteuers in der Kita gibt Ihnen die Gelegenheit, mit den Eltern über ihre Vorstellungen und gegebenenfalls Ängste zu sprechen. Welche Abenteuer haben sie selbst schon erlebt - als Kind oder auch als Jugendliche und Erwachsene? Welche Gefühle und Erfahrungen verbinden sie damit? Was wünschen sie sich für ihre Kinder? Dies bietet Ihnen dann auch die Gelegenheit, das Bildungspotenzial von Abenteuern für die Kinder zu betonen.
Mein Plädoyer für mehr Mut zu Abenteuern in der Kita soll keinesfalls dazu aufrufen, Kinder in Gefahr zu bringen. Ich möchte Sie allerdings dazu anregen, gemeinsam im Team, mit den Eltern und natürlich mit den Kindern darüber nachzudenken, welche Vorteile Abenteuer für Kinder haben und wie Sie auch in der Institution Kita solche Erlebnisse ermöglichen können.
Milena Lauer
Pädagogische Leitung des Berliner Kita-Instituts für Qualitätsentwicklung (BeKi) in der Internationalen Akademie Berlin für innovative Pädagogik, Psychologie und Ökonomie gGmbH (INA).
Literatur
• Wagner, Petra (2013): Handbuch Inklusion. Vielfalt als Chance - Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung; Freiburg, Basel, Wien: Herder
• Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (2014): Berliner Bildungsprogramm für Kitas und Kindertagespflege; Berlin: verlag das netz