Titelthema
»Ich gestalte selbstbestimmt meinen Tag«
Wie Partizipation bei Kindern in den ersten drei Lebensjahren umgesetzt werden kann, zeigt Vanessa Griesling mit einem Einblick in den »ganz normalen Alltag« ihrer Krippe.
Levi betritt die Krippe unserer siebengruppigen Kindertageseinrichtung (zwei Krippen- und fünf Kindergartengruppen), die nach dem Situationsansatz arbeitet. Zuerst nimmt sich der Eineinhalbjährige eine Wäscheklammer und »klammert« sich im »Essenskreis« an. Das bedeutet, er isst heute in der Kita zu Mittag.
Er zieht seine Hausschuhe an und kann in den Tag starten. Im Flur steht das Frühstück auf dem gemeinsamen Essenstisch und eine pädagogische Fachkraft sitzt bei einigen frühstückenden Kindern. In den beiden Gruppenräumen spielen oder malen bereits die ersten Kinder. Levi entscheidet sich für das Frühstück. Er nimmt sich eine kleine Schüssel aus dem Regal, geht an die Hängevorrichtung mit dem Besteck und nimmt sich einen Löffel. Dann geht er an den Tisch und schaut, wo noch ein Platz frei ist. So ein Glück: Direkt neben seinem Freund Theo ist ein Platz frei und er setzt sich zu ihm.
Auf dem Tisch stehen verschiedene Schüsseln mit Müsli, Brot, Käse, Frischkäse und Geflügelwurst. Levi greift zum Müsli, zieht die Schale zu sich und balanciert drei Löffel Müsli in seine Schüssel. Dann nimmt er ein Kännchen mit Milch. Es ist fast leer. Er schüttet die Milch in seine Schüssel und schaut zur Fachkraft, die die Kinder begleitet. Er zeigt ihr die Kanne und sagt: »Leer.« Die Fachkraft nimmt die Kanne und sagt: »Danke, Levi. Ich fülle die Kanne auf. Dann können die anderen auch noch Milch haben.«
Als das Müsli aufgegessen ist, räumt Levi die Schüssel auf einen Servierwagen, auf dem bereits benutztes Geschirr steht. Er dreht sich um und geht noch einmal zum Schrank, dieses Mal greift er nach einem Glas. Auf einem flachen Regal stehen Wasserkannen auf einem Tablett, er greift eine Wasserkanne und gießt sich ein. An ein Stoppen ist nicht zu denken, er schaut auf zur Fachkraft und diese schaut zu ihm und sagt: »Levi, nimm dir nur so viel, wie du jetzt auch trinken möchtest.« Er stoppt ab und trinkt. Das Glas stellt er auf den Servierwagen. Dann geht Levi ins Badezimmer und wäscht sich Hände und Mund ab. Wie bei der Wasserkanne kann nicht genug Wasser fließen und durch seine Hände rinnen. Eine Fachkraft betritt den Raum und spricht Levi an: »Na, Levi, ist heute ein Wassertag? Hast du vielleicht Lust, ein wenig zu schütten und mit dem Wasser zu spielen?« Levi schaut hoch und lächelt. Diese Idee hat weitere freudige Forscher*innen hervorgebracht und noch mehr Kinder betreten das Badezimmer. Die Fachkraft gibt das Badezimmer zum Spielen frei. Die Kinder ziehen ihre Kleidung aus und die Badematten werden ausgebreitet, verschiedene Behältnisse wie Becher, Förmchen und Eimer werden zum Waschbecken geholt. Dem Forschungsdrang steht nun nichts mehr im Wege und das Spielen, Schütten und Gießen kann beginnen.
Kinder helfen bei der Frühstücksgestaltung
Im Gruppenraum nebenan stehen Haferflocken, Mandeln, Kürbis- und Sonnenblumenkerne, Agavendicksaft und weitere Zutaten auf dem Tisch. Eine Fachkraft stellt mit den Kindern eigenes Müsli her, so dass für die kommenden Tage wieder eine große Portion vorhanden ist. Die Kinder schütten die Zutaten abwechselnd in eine große Schüssel, geben den Agavendicksaft hinzu und verrühren alles. Im Anschluss gibt die Fachkraft mit den Kindern den Teig auf ein Backblech. Nachdem alles verteilt ist, fragt die Fachkraft, wer gerne mit in die Küche kommen möchte, um das Müsli im Backofen zu trocknen. Einige Kinder stehen direkt auf und andere schließen sich an. Eine kleine Gruppe macht sich auf den Weg in die Küche.
Gleich ist es 11.00 Uhr, eine pädagogische Fachkraft geht mit einer Klangschale durch die Räume und kündigt den Abschlusskreis an. Sie sagt, es werden heute Fingerspiele gemacht und wer möchte, kann dazukommen. Die ersten Kinder gehen in Richtung Schlafraum, wo sich nun ein Sitzkreis aus Kissen befindet. Sie probieren es aus und die Kinder, denen das Thema nicht liegt, gehen wieder raus zu den anderen.
Die anderen Kinder widmen sich ihrem Spiel oder helfen den Essenstisch zu decken. Sie holen Lätzchen aus dem Schrank und verteilen Teller und Besteck. Nach dem Abschlusskreis wird um 11.30 Uhr vom Caterer das Mittagessen für die Ganztagskinder gebracht. Sie gehen nun Hände waschen und können sich überlegen, ob sie im Flur oder in einem Gruppenraum essen möchten. Jedes Kind sucht sich einen Platz, dann wird mit einem von den Kindern ausgewählten Gebet oder Tischspruch das Mittagessen eingeleitet. Den Kindern werden die aus dem Angebot des Caterers selbst ausgewählten Speisen angereicht. Jedes nimmt sich eigenständig das zu essen, was auch gegessen werden möchte. Die Kinder haben die Option zu probieren, werden jedoch nicht dazu gezwungen. Da die Jüngsten noch experimentierfreudiger sind als die älteren Kindergartenkinder, sind hier meist alle Speisen auf dem Teller. Kinder, die noch keine feste Nahrung zu sich nehmen können oder Allergien haben, bekommen Alternativen angeboten. Sind die Kinder mit dem Essen fertig, können sie ihren Mund säubern und sich in den Schlafraum oder in die Gruppe begeben, die geöffnet hat für all jene, die nicht mehr schlafen oder bereits eher abgeholt werden.
Wo versteckt sich die Partizipation noch?
Ein Ganztagskind in der Krippe startet den Tag mit seiner ersten Entscheidung: »Gehe ich erstmal frühstücken oder spielen?« So beginnt direkt beim Start in den Krippen-Alltag das Partizipieren. Für jedes Kind gibt es die Möglichkeit, nach seinem Entwicklungs-stand und seinen Bedarfen den Tag zu gestalten. Ob es das Frühstück oder Mittagessen ist, das mit den Kindern anhand von Bildern gewählt wird, oder der freiwillige Abschlusskreis, an dem die Kinder teilhaben können - jeden Tag oder immer nur dann, wenn ihnen das Angebot gefällt. Jedes Kind zeigt seinen Bedarf und seine Interessen auf seine Art und Weise. Es entwickelt so seinen eigenen Willen und spürt, dass es mit seinen Interessen und Bedarfen ernst genommen wird. Themen wie Portfolioarbeit werden dem Alter entsprechend angepasst und mit dem Kind gemeinsam bearbeitet. Das Kind entscheidet hierbei, wie es gestalten will, was eingeklebt wird und wie es eingeklebt wird. Wodurch es auch einmal vorkommen kann, dass über die Bilder Washi-Tape oder Sticker geklebt oder Elemente abgeschnitten sind. Auch in Alltagssituationen wie beim Wickeln entscheiden die Jüngsten, wer sie begleiten darf. Wickeln ist ein sensibles Thema. Die Kinder entscheiden: Mit wem gehe ich ins Bad? Möchte ich vielleicht die Toilette für mich erobern oder bleibe ich erst einmal bei meinen gewohnten Wickelritualen?
Beschwerden sind gewünscht
Auch die ersten Formen von Beschwerden äußern die Jüngsten durch ihre nonverbale Kommunikation, beispielsweise in Form von Herausräumen des Materials aus den Schränken. Auch diese Form der Kommunikation ist Partizipation, denn die Kinder tun so ihre Meinung kund und zeigen uns, dass etwas nicht mehr für sie passt. Durch genaues Beobachten können Situationen wie diese aufgegriffen und gemeinsam erarbeitet werden. Die pädagogischen Fachkräfte können durch solche Situationen herausarbeiten, dass das Material nicht mehr der Altersspanne entspricht, und durch das gemeinsame Besprechen und Erfragen bei den Kindern könnte herauskommen, dass ein Wechsel des Spielmaterials notwendig ist und die Räume den neuen motorischen und kognitiven Fähigkeiten angepasst werden sollten. So könnte beispielsweise auf einmal ein Raum wieder viel mehr Baumaterial bekommen oder auch das Rollenspielmaterial wieder mit Kostümen ergänzt werden. Eine Anpassung wie diese steht immer in Verbindung mit einer Befragung der Kinder, der Beobachtung und der dazugehörigen Reflexion mit dem Krippenteam. Somit wird anhand der Beobachtungen aus dem Alltag, den Teambesprechungen und der Auswertung der jeweiligen Beobachtungen der Bedarf analysiert und die Themen der Kinder in den Mittelpunkt gestellt. Durch die meist noch nicht vorhandene Sprache der Kinder ist es umso wichtiger, die Kinder zu beobachten, ihr Mienenspiel und ihre Körpersprache zu deuten.
Immer wieder wird wahrnehmbar, wo schon die Jüngsten ihren Alltag selbstständig und selbstbestimmt gestalten können. Sie zeigen, dass sie eigenständige Individuen sind, die sich die Welt erobern und durch ihre eigenen Erfahrungen verstehen möchten. Wir als Fachkräfte sind durch die stetige Beobachtung und die Gestaltung des Alltags dabei und können den Kindern als Wegbegleiter*innen zur Seite stehen, so dass sie sich ihrer eigenen Stimme bewusst werden und ihnen deutlich wird, dass ihre Stimme Gewicht hat. An diesen ersten Erfahrungen in der Krippe wachsen die Kinder und zeigen, dass sie diese Erfahrungen im Kindergarten weiter ausbauen können und somit immer mehr zu eigenständigen, selbstständigen, selbstbewussten und selbstwirksamen Kindern heranwachsen.
Levi indessen wird vielleicht noch weiter mit dem Wasser experimentieren und das Element Wasser als das seinige entdecken, in den kommenden Jahren noch mehr Experimente mit diesem erleben und seine Erfahrungen sammeln, weil er die Chance hat, zu explorieren, und durch die Erfahrungen lernen, dass er und seine Interessen ernst und wahrgenommen werden. Er wird immer eigenständiger werden und sich zutrauen, seine Meinung und Ideen zu äußern.
Vanessa Griesling
Studium der Sozialen Arbeit (B. A.), seit 2019 stellvertretende Leiterin des katholischen Familienzentrums Kita St. Sebastian in Eppertshausen, Hessen.