Serie: 100 Jahre KTK-Bundesverband
Die Verbandsgründung, eine Initiative des Frauenbunds
Im Juni 2012 feiert der Verband Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder (KTK) - Bundesverband e. V. sein 100-jähriges Jubiläum. In unserer neuen Serie wollen wir zurückblicken auf einschneidende Ereignisse in der Geschichte des Verbands. Im Fokus dieser Ausgabe steht der Prozess der Verbandsgründung, dargestellt von Heribert Mörsberger.
Das ausgehende 19. Jahrhundert und der Beginn des 20. Jahrhunderts waren gekennzeichnet durch umwälzende technische, wirtschaftliche und daraus folgende gesellschaftliche Veränderungen. Die einsetzende Industrialisierung mit ihren neuen Produktionsverfahren hatte gravierende Auswirkungen, insbesondere auf die familiäre Lebenssituation der Menschen. Die Trennung von Arbeitsplatz und privatem Lebensraum veränderte das Zusammenleben in Familie und Nachbarschaft, industrielle Unternehmensstrukturen hatten eine Zunahme verdichteter Wohnformen in urbanen Regionen zur Folge, der Bewegungsraum für Kinder wurde extrem eingeschränkt.
Im Verlauf dieser Entwicklungen hatten sich insbesondere seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche örtliche Initiativen entwickelt, deren Ziel es war, die mit den neuen Lebenssituationen verbundenen Belastungen zu mindern und gezielte Hilfen bereitzustellen. Dabei lag ein Schwerpunkt bei der Sorge um die Sicherung kindgerechter Entwicklungsbedingungen. Es waren damals fast ausschließlich private Vereine, Klöster und Stiftungen, die - den jeweiligen örtlichen Erfordernissen entsprechend - Betreuungsmöglichkeiten für Kinder schufen.
Doch auch staatliche Stellen sahen sich herausgefordert, für soziale Notlagen neue Lösungswege zu entwickeln. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren durch die "Bismarck'schen Sozialgesetze" wesentliche Hilfen gegen Notfälle durch Krankheit, Unfall oder Arbeitslosigkeit entwickelt worden. Der Staat erkannte zunehmend auch seine Mitverantwortung, die Arbeit der freien gesellschaftlichen Kräfte zu ordnen, zu stützen und - im Vergleich zu heute wenigstens in bescheidenem Umfang - auch finanziell zu fördern. Diese öffentlichen Unterstützungsaktivitäten waren freilich keineswegs selbstverständlich, sondern mussten mühsam durch politische Initiativen und zähe Verhandlungen herbeigeführt werden.
Instrument solcher bürgerlichen Initiativen war zu dieser Zeit unter anderem die Bildung von Vereinen. Sie gewannen umso mehr an Einfluss, je besser es ihnen gelang, eine möglichst große Anzahl von Mitgliedern zu werben, um in deren Namen wirkungsvoll gemeinsame Forderungen vortragen zu können und auf deren Erfüllung zu pochen.
Ein mehrjähriger Prozess
Das Jahr 1912 gilt als Gründungsjahr des Verbands Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder (KTK) - Bundesverband e. V., der deshalb 2012 sein 100-jähriges Bestehen festlich begehen wird. Bei genauerer Betrachtung der Verbandsgeschichte zeigt sich freilich, dass die Gründung in Stufen erfolgte und ein mehrjähriger Prozess war, der im Wesentlichen den Zeitraum zwischen 1906 und 1920 umfasste.
Bereits in den Jahren 1906/07 erschien in der Zeitschrift "Die Christliche Frau", dem Organ des Katholischen Frauenbunds, eine Artikelserie unter dem Titel "Notwendigkeit, Ziel und Ausbau des Kindergartens", in dem die dringende Notwendigkeit des Auf- und Ausbaus katholischer Kindergärten gefordert wurde. Das wissenschaftliche Interesse hatte sich ebenso wie gesellschaftspolitische Fragestellungen der Lebenssituation von Kleinkindern gewidmet. Die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge stellte auf ihrer 8. Berliner Konferenz im November 1910 zehn Leitsätze auf, die wesentliche Elemente einer Kleinkindfürsorge für die kommenden Jahre benannte und zur Gründung von Zentralstellen für Kleinkinderfürsorge aufrief. Dabei wurde ein gravierender Streitpunkt zwischen kommunalen und konfessionellen Einrichtungen deutlich, als gefordert wurde: "Das Ziel wird aber immer die völlige Verstaatlichung der Krippen und Kindergärten sein müssen."
Im Juni 1911 fand in Dresden die erste deutsche Kinderhortkonferenz statt, an der sich auch der katholische Frauenbund aktiv beteiligte. Nach dieser Konferenz setzten starke Bestrebungen ein, einen Deutschen Kinderhortverband zu gründen. Der katholische Frauenbund sah hier die Gefahr, dass die spezifischen Sichtweisen der katholischen Einrichtungen untergehen könnten.
Gründung des "Zentralverbands katholischer Kinderhorte Deutschlands"
Dies führte dazu, dass bereits am 29. Mai 1912 auf Anregung des katholischen Frauenbunds unter Beteiligung des Bonner Kaplans Lenné in Köln der "Zentralverband katholischer Kinderhorte Deutschlands" gegründet wurde. Die Gründung des allgemeinen Deutschen Kinderhortverbands erfolgte erst fünf Monate später im November 1912. Erste Vorsitzende des Zentralverbands wurde Paula Böttrich, die Vorsitzende der Bonner Ortsgruppe des Katholischen Frauenbunds, Marie Buczkowska aus München ihre Stellvertreterin. Geistlicher Beirat wurde Kaplan Lenné, juristischer Beirat der spätere Reichskanzler Wilhelm Marx. Prälat Lorenz Werthmann hielt beim ersten öffentlichen Auftritt des Zentralverbands als Vorsitzender - später Präsident - des Deutschen Caritasverbands (DCV) das Hauptreferat und erinnerte in seiner Rede an den Anstoß zur Gründung des katholischen Verbands durch die Bestrebungen, einen interkonfessionellen deutschen Hortverband zu gründen.
Gründung des "Zentralverbands katholischer Kleinkinderanstalten Deutschlands"
Eine vergleichbare Bestrebung gab es seinerzeit nicht für den Kindergartenbereich. Zwar hatte sich im Jahr 1912 auch der "Allgemeine deutsche Verein der Kindergärtnerinnen" gegründet, der aber für den katholischen Bereich keine Auswirkungen hatte, weil dort ausschließlich Ordensangehörige tätig waren, die an einem solchen Zusammenschluss kein Interesse zeigten. 1915 gründete sich der "Deutsche Ausschuss für Kleinkindfürsorge".
In dieser Zeit war Alexe Hegemann, die zuvor am Pestalozzi-Fröbelhaus in Berlin zur Kindergärtnerin ausgebildet worden war, durch Weihbischof Justus Knecht nach Freiburg als Leiterin des dortigen katholischen Kindergärtnerinnenseminars berufen worden. Sie baute im Auftrag von Lorenz Werthmann an der Zentrale des DCV das "Referat Kinderfürsorge" auf und setzte einen deutlichen Schwerpunkt auf die inhaltlich-pädagogische Profilierung der Arbeit in den katholischen Einrichtungen der Kinderfürsorge. Nachdem der Hortverband die von Prälat Werthmann angeregte Aufnahme von Kleinkinderanstalten abgelehnt hatte, kam es am 29. Februar 1916 in Köln zur Gründung eines eigenen Zentralverbands katholischer Kleinkinderanstalten Deutschlands. Alexe Hegemann übernahm den Vorsitz, und Prälat Lenné wurde Geistlicher Beirat, womit er eine personelle Klammer zwischen beiden Zentralverbänden bildete.
Die Folgen des Weltkriegs stellten die Wohlfahrtspflege im Allgemeinen und die Kleinkindfürsorge im Besonderen vor zunehmend schwierigere Aufgaben. Es galt, die Notsituation der Kinder zu überwinden und zugleich die neuen Möglichkeiten politischen Handelns in der Weimarer Republik zu nutzen. Dabei stellte die komplizierte Organisationsstruktur der beiden Zentralverbände (ZV der Kinderhorte in Bonn, ZV der Kleinkinderanstalten in Freiburg) ein Hindernis für effektives Handeln dar.
Bereits Mitte Oktober 1918 hatte deshalb der Vorstand des Hortverbands eine Änderung der Organisation geplant, und auch der Vorstand des Verbands der Kleinkinderanstalten sprach sich am 29. Juli 1919 für eine neue Organisation der katholischen Kinderfürsorge aus. Freilich hatten beide Vorstände deutlich unterschiedliche Zielvorstellungen, wie sich bei einer gemeinsamen Sitzung beider Vorstände im Oktober 1919 in Essen zeigte.
Im Wesentlichen ging es um die Frage, ob die Anliegen der einzelnen Einrichtungen auf Diözesanebene gebündelt und von dort auf Reichsebene in einem "Katholischen Ausschuss für Kinderpflege und Erziehung" zusammengefasst werden, wie es den Vorstellungen von Alexe Hegemann entsprach, oder ob die einzelnen Einrichtungsarten sich als Fachverbände - mit diözesanen Untergliederungen - auf Reichsebene zusammenschließen und als solche den "Katholischen deutschen Reichsausschuss für Kinderfürsorge und Kinderschutz" bilden, was Prälat Lenné forderte. Letztere Position berief sich auf die "Richtlinien über das Verhältnis des Caritasverbands und seiner Zweigvereine zu den Fachorganisationen", die von der Fuldaer Bischofskonferenz 1917 verabschiedet worden waren. Demnach stand dem DCV ein Eingriff in die Tätigkeit einer Fachorganisation nicht zu.
Der "Zentralverband katholischer Kinderhorte und Kleinkinderanstalten Deutschlands"
So kam es am 28. Juli 1920 auf einer Mitgliederversammlung in Fulda zur Verschmelzung beider Verbände zum "Zentralverband katholischer Kinderhorte und Kleinkinderanstalten Deutschlands e. V." mit Sitz in Bonn. Vorsitzender des Verbands wurde Diözesanpräses Lenné; zu stellvertretenden Vorsitzenden wählte die Versammlung die bisherigen Vorsitzenden der Einzelverbände, Paula Böttrich und Alexe Hegemann.
In der Frage der Organisation hatten sich die Vorstellungen von Prälat Lenné weitgehend durchgesetzt. Die Fuldaer Bischofskonferenz fasste 1920 den Beschluss: "... zur wirksamen Vertretung der katholischen Interessen bei gesetzgeberischen Maßnahmen über Kinderfürsorge ist ein Zusammenschluss aller katholischen Verbände, die sich der Kinderfürsorge widmen, zu einem Zentralausschuss für katholische Kinderfürsorge mit Diözesanausschüssen wünschenswert und zu erstreben." So wurde der Zentralverband katholischer Kinderhorte und Kleinkinderanstalten Deutschlands, gemeinsam mit den anderen Fachverbänden der Kinderfürsorge, zur legitimen Vertretung gegenüber der Politik. Prälat Lenné wurde der erste Vorsitzende des von den Bischöfen erwünschten Zentralausschusses für katholische Kinderfürsorge, die Geschäftsführung dieses Ausschusses freilich hatte sich Alexe Hegemann in der Zentrale des DCV in Freiburg gesichert. Später kam es zu Spannungen zwischen Hegemann und Lenné, die durch Vermittlung des Kölner Kardinals Schulte schließlich 1924 zum Verzicht von Lenné auf den Vorsitz im Ausschuss führte.
Der Hortverband und später der gemeinsame Zentralverband haben von Beginn an versucht, durch die Gründung von Landesverbänden einen regionalen und organisatorischen Unterbau zu schaffen. In München waren bereits 1912 erste Überlegungen angestellt worden, den bestehenden örtlichen Hortverband zu einem Landesverband auszubauen. Am 24. Januar 1917 kam es schließlich zur Gründung dieses bayerischen Landesverbands. Weitere Verbände wurden gegründet in Breslau (1918), Freiburg/Baden, Württemberg und Berlin (jeweils 1921); für Köln wurde 1921 das Diözesanpräsidium für katholische Kinderfürsorge geschaffen.
Heribert Mörsberger
Dipl.-Volkswirt und Sozialarbeiter, von 1970 bis 1992 Geschäftsführer des KTK (vormals Zentralverband katholischer Kindergärten und Kinderhorte Deutschlands e. V.), Mitglied in nationalen und internationalen Fachgremien für Fragen der Kinder- und Jugendhilfe.