Titelthema
Ein vielschichtiger Gegensatz
Die Sonne scheint, die Kinder springen kreuz und quer über den Platz. Sie lachen. Das Spiel heißt: Ich hüpfe auf deinen Schatten. Oder: Ich folge dir in deinem Schatten. Oder: Wir staunen, wie lang oder kurz, groß oder klein unsere Schatten sind.
Licht und Schatten sind Realitäten, die sich wie zwei Pole gegenüberstehen. Sie sind Kontraste, die ein Spannungsfeld erzeugen, in dem sich grundlegende und vielschichtige Erfahrungen verdichten. Die unmittelbare Erfahrung ist die von Helligkeit und Dunkelheit. Licht und Schatten sind hier Realitäten, die mit den Sinnen wahrgenommen werden: Ich sehe und spüre sie. Wo Licht ist, dort ist Wärme, wo Schatten und Dunkelheit ist, dort ist Kühle. Das trifft zwar nicht immer zu, aber meistens.
Licht und Schatten haben aber nicht nur diese sensorische, sondern auch eine emotionale Qualität: Licht steht in Verbindung mit "hellen" Gefühlen, Schatten mit "dunklen". Hier Sicherheit - dort Unsicherheit, hier Freude - dort Trauer, hier Hoffnung - dort Verzweiflung, hier Mut - dort Angst. Neben der sensorischen und der emotionalen Qualität der beiden Pole wird eine weitere Qualität deutlich. Licht und Schatten drücken Befindlichkeiten aus, die die gesamte Existenz des Menschen berühren: Glück und Unglück, Versöhnung und Schuld, Hilfe und Not, Barmherzigkeit und Herzlosigkeit, Erfolg und Scheitern. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt in die Moral und die Ethik, die Philosophie und die Theologie: das Licht der Gerechtigkeit und die Schatten des Unrechts, das Licht des Seins und der Schatten des Scheins, Gut und Böse, Heil und Unheil, Leben und Tod, Überirdisch-Himmlisches und die Schatten der Unterwelt.
"Wo viel Licht ist, dort ist auch viel Schatten"
Das bekannte Sprichwort bezieht die beiden Pole aufeinander: Licht und Schatten bedingen sich gegenseitig und sind aufeinander bezogen; das eine kann ohne das andere nicht sein. Stimmt das? Ist dies tatsächlich das Strickmuster der Wirklichkeit? Dieser unausweichliche Automatismus? Kann die Welt nie ganz licht und hell sein, gibt es in ihr immer zugleich und in gleichem Maße auch Schatten und Dunkelheiten?
Nein, das kann nicht sein! Bereits eine einfache sensorische Erfahrung überführt das Sprichwort: Am Mittag, wenn die Sonne am höchsten steht und das Licht den Tag am hellsten durchflutet, dann sind die Schatten am kürzesten oder verschwinden sogar ganz. Angesichts dieser einfachen Beobachtung stellt sich die Frage: Welchen Sinn hat das Sprichwort? Man kann es als moralischen Aphorismus ansehen, das heißt als pointierten Spruch mit einer Lebensweisheit. In dem Sprichwort steckt eine reale Alltagserfahrung mit einem moralischen Appel: Es warnt und weckt das Misstrauen gegenüber falschen Versprechungen aller Art.
Die "dunkle und die helle Seite der Macht"
Wer das Sprichwort jedoch von seinem pädagogisch-moralischen Hintergrund ablöst und es auf alles bezieht, der missversteht es. Dann ist es keine praktische Lebenshilfe mehr, sondern das Trittbrett eines fatalen Irrtums: die Welt als Schauplatz zweier entgegengesetzter Kräfte, die in einem ewigen Zweikampf miteinander ringen. Die Filmtrilogie "Krieg der Sterne" erzählt von diesem Kampf, in dem die "helle Seite der Macht" in einem verzweifelten und aussichtlos erscheinenden Kampf gegen die "dunkle Seite der Macht" am Ende doch noch den Sieg erringt. Wie lange dauert dieser Sieg an? Ewig? Diese Frage bleibt - trotz des Happy Ends - offen.
Die Geschichte vom Kampf der edlen Jedi und ihren Lichtschwertern mit den lebensverachtenden Sith in ihren schattenhaften Masken ist nicht die einzige Story in der Weltgeschichte, die diesen Mythos vom Kampf der Gegensätze erzählt. Jede fundamentalistische und extremistische Ideologie, sei sie politisch oder religiös, variiert diesen Kampf der Guten gegen die Bösen. In diesem Kampf ist alles eindeutig: Es gibt nur ein klares Entweder-oder und kein abwägend-differenzierendes Sowohl-als-auch. Die Welt ist schwarz oder weiß - hier die Guten, dort die Bösen, hier die Freunde, dort die Feinde, "wer nicht für uns ist, ist gegen uns". Ein verführerisch einfaches, aber grausames und unrealistisches Weltbild.
Eine Polarität mit ziemlicher Ambivalenz
Ist Licht immer nur positiv? Und Schatten immer nur negativ? Nein! Beides ist ambivalent: zweideutig, widersprüchlich und zwiespältig.
Licht: grell - geheimnisvoll - verführend
Licht ist auch negativ: Grelles Licht macht krank, setzt unter Druck und verunsichert. Darum ist beim Verhör der Lichtkegel der Lampe auf das Gesicht des Verhörten gerichtet. In ihrem grellen Schein bleibt nichts verborgen. Der Mensch ist dem Licht beziehungsweise der Situation schutzlos ausgeliefert. Kein Geheimnis ist mehr sicher. Das kann Menschen belasten, denn wir Menschen brauchen einen privaten Rückzugs- und Intimraum. Das kann aber auch gut sein! "Die Sonne bringt es an den Tag", heißt ein Märchen der Brüder Grimm. Es erzählt die Geschichte eines brutalen Raubmordes, der jahrelang verborgen bleibt und dann doch "ans Licht" kommt.
Es gibt auch das "kalte" Licht. In Räumen, die mit bläulich schimmerndem Neonlicht erleuchtet sind, herrscht eine kalte Atmosphäre. Es ist unheimlich und bedrohlich. Jeder weiß das, der schon einmal nachts durch eine derartig beleuchtete Unterführung gehen musste. Dagegen weckt das blau-bunte Licht, das durch gefärbte Glasfenster eintritt, die Ahnung einer anderen Wirklichkeit. Wie etwa die Glasfenster der gotischen Kathedralen, die das Licht dimmen und färben. Es zeigt dem Besucher: Du bewegst dich hier an einem Ort, der den inneren Blick frei gibt auf eine andere, höhere Welt. Eine ähnliche Wirkung entfalten blaue Kristalle und Edelsteine, die in überirdischem Licht glänzen. Aber auch das "blaue Licht" ist nicht immer positiv. Im Märchen der Brüder Grimm "Das blaue Licht" ist es ein Irrlicht, das einem Veteranen die Macht gibt, niedere Rache an seinen ungerechten Dienstherrn zu nehmen, und das ihn am Ende doch errettet.
Schatten: Rückzugsraum - Schutzraum - Geheimnisraum
Und was ist mit dem Schatten? Ist Schatten immer nur negativ? Auch hier gilt: Nein! Der Schatten kann ein Rückzugsraum sein. Ein Ort, an dem ich nicht wie im Rampenlicht von allen gesehen werde, sondern an dem ich mich verbergen und für mich sein kann. Der Schatten der Nacht ist ein solcher Ort des Verborgenen. "Des Tags ist es so, des Nachts ist es so": Die Prinzessin Fiona verwandelt sich von der einen Gestalt in die andere, bis der "Kuss der wahren Liebe" sie erlöst und sie ihre wahre Gestalt findet. Ist es Zufall, dass es die Gestalt ist, die sie zuvor des Nachts annahm? Und es ist auch Nacht, wenn sich die zwölf Prinzessinnen in dem Märchen "Die zertanzten Schuhe" aus dem Schlafgemach stehlen und zu dem unterirdischen Schloss eilen, wo sie mit den Prinzen die Nächte durchtanzen, um diese zu erlösen. Die Nacht ist in diesen Märchen der Ort, an dem Dinge passieren, die verborgen sind. Sie deutet auf das hin, was dem äußeren Auge entzogen ist. Aus psychologischer Sicht sind das die inneren psychischen Prozesse und Entwicklungen.
Ein anderer Schatten ist der, den Menschen an heißen Tagen aufsuchen. In der Hitze des Sommers ist der Schatten ein willkommener Ort, an dem es angenehm kühl ist. So erzählt der Koran die wunderbare Geschichte von Maryam, die vor der Hitze der Wüste in den Schatten einer Dattelpalme flüchtet, um dort ihren Sohn Isa zur Welt zu bringen. Beide kommen auch in der Bibel vor: Dort heißen sie Maria und Jesus.
Die Bibel erzählt die Geschichte anders, aber auch hier kommt ein Schatten vor: &bdquoDer Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten&ldquo (Lk 1, 35). Das sind die Worte, die der Engel Gabriel an Maria richtet, als er ihr verkündet, dass sie die Mutter Jesu wird. Eine Szene, bei der uns unser naturwissenschaftliches Denken in die Irre führt. In dieser Szene geht es nicht um Fortpflanzungsbiologie. Hier geht es um Heilsgeschichte. Gott wird Mensch aus Maria. Diese Aussage hat kein Interesse an biologischen Details. Es geht hier ausschließlich um eine Glaubensaussage: Gott kommt als einer von uns zu uns und bleibt dabei er selbst. In der Sprache der Theologie: Jesus ist "wahrer Mensch und wahrer Gott" und Maria ist "theotokos", das heißt Mutter Gottes. Keine Religion kennt eine solche Ungeheuerlichkeit. Die Bibel ist hier in echter Sprachnot. Wie soll sie das Unaussprechliche, ja Undenkbare ausdrücken? Sie verwendet dazu Bilder und Analogien. An dieser Stelle ist es das Bild des "Überschattens".
Das findet sich auch an anderen Stellen, vor allem in den Psalmen: "Im Schatten deiner Flügel finde ich Zuflucht" (Psalm 36,8; Psalm 57,2); "Wer im Schutz des Höchsten wohnt und ruht im Schatten des Allmächtigen" (Psalm 91,1) und sogar: "Der Herr ist Schatten in der Mittagshitze" (Sirach 34,19). Was ist mit all diesen Vergleichen gemeint? Welche Erfahrung wird hier angedeutet? In den Psalmen lässt sich das Bild leicht übersetzen: Hier bedeutet Schatten den Raum, in dem Gott da ist und die Menschen beschützt.
Wie ist es bei Maria? Bei ihr bedeutet "überschatten" mehr. Hier geht es nicht um Schutz. Hier geht es um ein Geschehen, das seine Einzelheiten für Außenstehende verbirgt und das nur verschwommene und unscharfe Konturen hat. Die Theologie nennt so etwas "mysterion", "Geheimnis". Das Bild des "Überschattens" bringt dieses Geheimnisvolle tiefgründig zum Ausdruck. Der Schatten als Raum des Verborgenen und des nur Erahnbaren. Was können wir Außenstehende in diesem Schatten erkennen? Doch nur, dass Gott Maria außergewöhnlich und unerklärbar nahe kommt, um das Außergewöhnliche zu bewirken: in ihr Mensch zu werden, ohne aufzuhören Gott zu sein.
Schatten und Licht: Schein und Sein
Kraftlos und glücklos - ein Schatten ihrer selbst. So erscheinen in der griechischen Mythologie die Verstorbenen. Die Toten sind Schatten, die in einer Schattenwelt existieren. In der Totenwelt, dem Hades, gibt es keine Freude und kein Lachen, keine Zukunft und keine Entwicklung, sondern nur Trauer und Trübsal.
Der Philosoph Platon spricht auch von Schatten. In seinem berühmten Höhlengleichnis erzählt er von Menschen, die in einer Höhle leben. Am Eingang der Höhle ist ein Feuer, das die Gegenstände, die vor der Höhle und dem Feuer vorbeigetragen werden, als Schatten auf die Höhlenwand projiziert. Die drinnen sehen weder das Feuer noch die realen Dinge, sondern nur die Schatten. Platon stellt mit seinem Gleichnis eine philosophische Grundfrage: Was ist real, was ist wirklich? Seine Antwort: Wir Menschen sind wie die Höhlenbewohner, die nur den Schein, das Abbild wahrnehmen. Wir leben in einer Welt der Illusion! Das wahre Sein beziehungsweise die Urbilder sind die reinen Ideen, die wir Menschen nur schwer erkennen können.
Bereits Aristoteles hat die Ideenlehre seines Lehrers Platon scharf kritisiert und den Dingen ihre eigenständige Realität zurückgegeben. Trotzdem: Platons Grundgedanke lebt in der Denkgeschichte weiter. Die Frage nach Sein und Schein beschäftigt nicht nur Philosophen wie Immanuel Kant und Martin Heidegger, sondern in Zeiten des Virtuellen auch zum Beispiel die Brüder Andy und Larry Wachowski in ihrer Trilogie "Matrix".
Der "Erste Tag", Johannes und St. Martin
Wer jemals Joseph Haydns Oratorium "Die Schöpfung" gehört hat, wird sich gut an den Anfang erinnern: Zunächst die Worte des Rezitativs, gesungen im geheimnisvollen Piano, dann plötzlich und ohne Vorbereitung das strahlende Forte des Chors mit dem einen Wort "Licht". Joseph Haydn ist hier mit seiner Komposition etwas Einmaliges gelungen. Er weckt eine Emotion, die den Hörer überwältigt und innerlich erhebt, hin zu dem kosmischen Ereignis, das die Musik beschreibt. Der Hörer wird (Ohren-)Zeuge des Schöpfungsmorgens! Der Text, den Haydn vertont, gehört zu den Texten in der Bibel, die am tiefsten missverstanden werden. Er ist ein Hymnus und kein Bericht, ein Liebesgedicht an den Schöpfer und keine naturwissenschaftliche Analyse. Das muss klar sein. Dann ist es auch kein Widerspruch, wenn Gott am ersten Tag das Licht und erst am vierten Tag die Sonne zusammen mit den anderen Himmelskörpern erschafft. Dann können die ungeheuren theologischen Aussagen dieses einmaligen Gedichts erst richtig wahrgenommen werden. Mit Blick auf das Licht heißt das: Gott erschafft das Licht und eröffnet damit für seine Schöpfung Ordnung in Zeit und Raum. Und zweitens: Das Licht ist nur eine Schöpfung Gottes, es ist selbst kein Gott.
Wenn es allerdings im 1. Johannesbrief heißt "Gott ist Licht" (1 Johannesbrief 1,5), dann ist das kein Widerspruch. Der Briefschreiber meint diese Aussage im übertragenen Sinn. Sie ist nur ein - analoger - Vergleich, nicht mehr. In diesem analogen Sinne heißt es im Johannesevangelium über Jesus: "Und das Licht leuchtet in der Finsternis" (Joh 1,5); "Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt" (Joh 1,9); "Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, ... wird das Licht des Lebens haben" (Joh 8,12; 9,5; 12,46). Schließlich überträgt die Bibel diesen Vergleich auf alle Christen: "Denn einst wart ihr Finsternis, jetzt aber seid ihr durch den Herrn Licht geworden. Lebt als Kinder des Lichts!" (Epheserbrief 5,8) und im Matthäusevangelium: "Ihr seid das Licht der Welt" (Mt 5,14). Dieses Wort steht Pate für die vielen Laternenumzüge am Fest des Heiligen Martin. Die Laternenträger werden hier buchstäblich zu kleinen Lichtern. Sie bringen das Licht "der Güte, Wahrheit und Gerechtigkeit" (Epheserbrief 5,9) in eine Welt, die bedroht ist von den Schatten der Finsternis.
Dr. Diana Güntner
Dr. theol. (Univ.), Dipl.-Sozialpäd. (FH), Dozentin für katholische Theologie/Religionspädagogik an der Fachakademie für Sozialpädagogik Rottenbuch/Bayern und freiberufliche Referentin.