Titelthema
"Ich kann die Eltern verstehen"
Vor 27 Jahren habe ich meine Ausbildung zu Erzieherin begonnen. Damals arbeiteten wir mit Jahresthema, Rahmen- und Wochenplänen. Alles wurde im Team vorbereitet, besprochen, geplant. In unserem viergruppigen Kindergarten hatten so alle das gleiche Programm, gleiche Bastelangebote, Lieder, Geschichten, Vorschulblätter ... Ich erlebte die Eltern der Kinder als sehr zufrieden mit dem Angebot unserer Einrichtung. Denn es gab sichtbare Ergebnisse, etwa wenn jedes Vorschulkind ein Blatt erarbeitet hatte und dieses in der Garderobe an der Wand hing. So war jederzeit "messbar", was die Kinder gelernt hatten. Es kam kaum vor, dass sich Eltern beschwert haben und mehr von der Einrichtung gefordert haben, geschweige denn die Gruppen miteinander verglichen haben.
Als ich Ende 1999 in Mutterschutz ging, wurde das Thema Bildung in den Kindergärten neu diskutiert und definiert. Die Buchungszeiten wurden eingeführt, und die Methoden in den Einrichtungen änderten sich. Ganz langsam ging man weg von den Rahmenplänen. Die Kinder sollten einbezogen werden, sie durften in Kinderkonferenzen mitentscheiden, welche Themen aufgegriffen werden sollten. Auf der anderen Seite warben Kindergärten mit besonderen Schwerpunkten, wie beispielsweise zweisprachige Erziehung, mit verschiedenen Lernprogrammen und diversen Projekten.
In genau dieser Umbruchphase war ich zu Hause im Erziehungsurlaub. Zunächst habe ich nur am Rande miterlebt, wie sich durch Medienberichte und Forschungsergebnisse das Verständnis von Bildung in der Gesellschaft veränderte.
Die "andere" Seite
Und dann stand ich plötzlich "auf der anderen Seite": Von 2003 bis 2007 war ich Kindergartenmama, und auch ich stellte Forderungen an das Kita-Personal. Ich wollte das Beste für die Zukunft meiner beiden Söhne "herausholen". Ich wollte sie gut vorbereitet wissen - für die Schule und fürs Leben, und so schaute ich kritisch hin.
Wie enttäuscht war ich, wenn mir mein Jüngster und auch seine Erzieherin erzählten, dass er auch heute wieder "nur" auf dem Flur gespielt hatte. Wie gerne hätte ich gehört, dass er endlich einmal puzzelt, ausdauernd an einem Regelspiel "dranbleibt" oder mir ein tolles Bild malt. Ich habe mir damals nicht überlegt, was er beim Spielen und Toben im Garderobenbereich gelernt und erlebt haben könnte: motorische Fähigkeiten, Sozialverhalten, Problemlösefähigkeit, Eigenständigkeit, Verantwortung, Kreativität ... - Basiskompetenzen, die wir doch alle einfordern.
Zu dieser Zeit wurde in den Medien auch berichtet, wie wichtig das Lernprogramm "Hören - Lauschen - Lernen" zum Lesen- und Schreibenlernen für Vorschulkinder sei. Also war es mir wichtig, dass meine Kinder täglich üben. Wenn aufgrund von krankheitsbedingtem Personalmangel in der Kita das Programm mehr als einen Tag nicht stattfand, wurde ich schon unruhig und sah die Schullaufbahn meiner Kinder gefährdet.
Eltern wollen messen können, was ihr Kind lernt, sie wollen Ergebnisse sehen. Ihnen ist Aneignung von Wissen wichtig. Sie wollen wissen, was, wann, wie geübt und gelernt wird. Und da kann ich die Eltern durchaus verstehen. Es liegt an uns Erzieherinnen, sie aufzuklären!
Ein erhellendes Gespräch
Als ich für diesen Artikel meine Gedanken sortiert und Stichpunkte zusammengetragen habe, fiel mir ein Gespräch ein, das ich vor wenigen Wochen mit meinem mittlerweile 13-jährigen Sohn führte, der seine "verhassten" Englischvokabeln lernen sollte:
Sohn: "Weißt du, warum ich Englisch nicht so gerne mag? Weil ich das im Kindergarten lernen musste und das eigentlich gar nicht wollte."
Mama: "Ja, aber es hat dir doch Spaß gemacht."
Sohn: "Nein, da war immer so eine blöde Puppe, mit der wir englische Lieder singen sollten. Die hab ich eh nicht verstanden. Und dann musste ich immer vom Garten rein und da mitmachen, obwohl ich lieber draußen weitergespielt hätte. Und gebracht hat es mir auch nichts. Du siehst doch, wie ich jetzt Vokabeln büffeln muss."
Und trifft das nicht genau den Nagel auf den Kopf? Isolierte Förderprogramme, naturwissenschaftliche Experimente, Englischkurse in der Kita - das ist der falsche Weg. Dies gilt es den Eltern überzeugend und nachvollziehbar zu vermitteln. Denn viele Eltern sehen Bildung isoliert und bringen sie nicht in Verbindung mit Alltagssituationen und dem Spiel der Kinder. Es ist unsere Aufgabe, ihnen zu zeigen, wie Kinder in der Kita lernen.
Wachsender Druck
Bei meinem Wiedereinstieg in den Beruf im Jahr 2007 hatte ich das Gefühl, dass Eltern immer mehr von mir wollen, immer mehr Ansprüche und Forderungen an die Kita stellen. Ich fühlte mich unter Druck gesetzt, wurde immer unzufriedener. Ich wollte nicht, dass der Tag der Kinder verplant wird mit Programmen, Projekten, Aktionen, die keinen Platz mehr lassen zum Spielen.
Im Team haben wir viel überlegt, diskutiert, auf die Ansprüche der Eltern geschimpft, unsere Arbeit reflektiert, um dann zu einem gemeinsamen Punkt zu gelangen: Wir müssen unsere Arbeit transparent machen, Einblicke gewähren, mit den Eltern ins Gespräch kommen. Bildung in der Kita muss für Eltern erfahrbar und nachvollziehbar sein. Dies kann geschehen durch Elternbriefe, Aushänge, Gespräche, Lerngeschichten, Fotos, Elternabende.
In der Eingewöhnungsphase hospitieren die Eltern bei uns in der Krippe, so können sie sehen und erleben, was wir mit den Kindern tun. Auch den Tagesrückblick gestalten wir so, dass die Eltern ihn gerne lesen. Wir greifen Bildungsbereiche auf, erzählen, was die einzelnen Kinder gemacht und gelernt haben. Zum Info-Elternabend im Herbst suchen wir uns einen Bereich aus dem Kindergartenalltag aus, um diesen den Eltern näherzubringen und zugleich aufzuzeigen, was ihre Kinder dabei lernen können.
Ein Beispiel: Im Frühling brachte Romy, noch keine zwei Jahre alt, täglich eine Schnecke mit in den Kindergarten. Anfangs haben wir sie gemeinsam betrachtet und dann im Garten freigelassen. Nach einem besonders regnerischen Tag fanden wir viele Schnecken im Gras und entdeckten Schleimspuren auf den Steinen. Wir suchten ein geeignetes Gefäß, setzten einige Schnecken zum Beobachten hinein, fütterten sie mit Gurkenscheiben, ließen sie über unsere Arme kriechen, schauten in Büchern nach, wie Schnecken wohnen, betrachteten die unterschiedlichen Muster der Schneckenhäuser, kneteten selbst Schneckenhäuser ...
Mit Fotos und täglichen Tagesrückblicken haben wir die Eltern an unserem Schnecken-Projekt teilhaben lassen. Wir verwiesen auf die verschiedenen Lernkompetenzen und Erfahrungen, die die Kinder machen konnten. Gespannt verfolgten die Eltern die täglichen Fortsetzungsgeschichten und waren stolz, ihre Kinder auf den Fotos zu entdecken. So konnten die Eltern nicht nur das Projekt verfolgen, sondern ihr Kind auch unterstützen, entsprechendes Material sammeln oder, so wie Romys Mama, jeden Morgen auf dem Weg zur Kita gemeinsam nach Schnecken suchen.
Wir haben es in der Hand!
Und so erlebe ich es immer wieder: Sobald wir unsere Arbeit in irgendeiner Form transparent, nachvollziehbar, erlebbar für die Eltern machen, hört der Ruf nach "immer mehr" sofort auf. Es hat sich zwar nichts daran geändert, dass Eltern Ergebnisse sehen wollen, aber wir haben es in der Hand, wie wir Lernergebnisse darstellen. Dies habe ich in den letzten Jahren gelernt, und das erleichtert mir meinen Umgang mit den Eltern. In einem lebendigen Dialog kann ich die Eltern vom Lernen ihrer Kinder überzeugen und sie dafür begeistern.
Heute liebe ich die Herausforderung im Umgang mit den Eltern. Es spornt mich an, herauszufinden, welche Kompetenzen die Kinder im Kita-Alltag in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt erwerben. Es macht mich offener und sensibler im Umgang mit den Kindern. Ich sehe mich als Lernbegleiterin der Kinder und als Unterstützerin ihrer Lernprozesse.
Mir macht meine Arbeit Spaß - vor 20 Jahren genauso wie heute. Ich liebe diesen Beruf. Ich liebe meine Arbeit mit den Kindern und mit den Eltern. Und auch ich lerne nie aus.
Silke Mende
Seit über 20 Jahren Erzieherin.