Titelthema
"Unsere Kinder kennen die Getreidesorten ..."
Mit den erweiterten Öffnungszeiten sind den Kindergärten Aufgaben zugewachsen, die früher ganz selbstverständlich in den Familien angesiedelt waren, zum Beispiel das Thema Ernährung. Sind die Kindergärten dazu überhaupt in der Lage? Verfügen sie über eine adäquate Küche und die dazu gehörenden Utensilien oder Räume? Und: Sind die Erzieherinnen ausgebildet in „richtiger Ernährung“? Was ist überhaupt „richtige Ernährung“? Es ist nicht einfach, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln täglich ein gesundes Essen bereitzustellen. Und häufig gehen die Ansichten, wie denn eine gesunde Mahlzeit aussehen sollte, weit auseinander. Diese Erfahrungen machte auch Andrea Rosenbaum, Leiterin des Kindergartens Regenbogen in München. Sie ist „Ärztlich geprüfte Gesundheitsberaterin GGB“ (Gesellschaft für Gesundheitsberatung, Lahnstein) und kennt den Unterschied zwischen industriell gefertigten Nahrungsmitteln und vollwertigen Lebensmitteln. Und dieses Wissen versucht sie Tag für Tag in den Kita-Alltag einzubringen.
Der Kindergarten Regenbogen im Münchner Stadtteil Sendling ist eine kleine Einrichtung mit 40 Kindern, sechs festangestellten Pädagoginnen und zwei Jahrespraktikantinnen. Vom Einzugsgebiet her könnte man die Einrichtung als „Mittelschicht-Kindergarten“ bezeichnen, wäre da nicht das angrenzende Mutter-Kind-Haus. „Wir haben hier täglich zehn Stunden ein volles Haus. Unsere Einrichtung gehört zu einem Mutter-Kind-Haus, in dem etwa 65 von Obdachlosigkeit bedrohte Frauen mit einem oder mehreren Kindern wohnen“, erzählt Andrea Rosenbaum, die Leiterin des Kindergartens. „Die Kinder haben zum Teil Gewalterfahrungen hinter sich, fast immer mehrfache Trennungserfahrungen, auch Traumata sind nicht selten. Viele unserer Eltern sind alleinerziehend. Zeitweise haben wir hier Kinder aus bis zu 26 verschiedenen Herkunftsstaaten, aber auch unser Team kommt aus sechs Nationen“, berichtet die Kita-Leiterin. „Neben den Kindern aus dem Mutter-Kind-Haus nehmen wir auch Kinder aus dem Stadtteil auf. Auch hier schlägt unser Herz oft für diejenigen, die übrig bleiben, die ein wenig ›neben der Spur‹ laufen. Bei uns tummelt sich also ein buntes Völkchen, das viele Stunden in unserem Haus verbringt. Die meisten unserer Kinder werden zu Hause mit Billigessen ernährt, sitzen endlos vor dem Fernseher und bekommen oft wenig Futter – im geistigen wie im wörtlichen Sinne. Und genau aus diesem Grund ist es uns wichtig, den Kindern möglichst vielfältige Erfahrungsmöglichkeiten zu bieten. Dies tun wir auf pädagogischem Gebiet (viele Anregungen, Angebote und Verlockungen, sich wohlzufühlen und zu lernen), vor allem aber auch im gesundheitlichen Bereich.“
Schon beim Betreten ist mir die „heimelige“ Atmosphäre der Kita aufgefallen. Andrea Rosenbaum wirkt ruhig und gelassen. Bei einer Tasse heißem Tee erzählt sie: „Ich habe meinen Abschluss als Gesundheitsberaterin GGB im Jahr 1996 gemacht und 2001 die Leitung dieser Einrichtung übernommen. Von Anfang an wurden meine Vorschläge zu gesunder Ernährung positiv aufgenommen. Die damalige Leiterin des Mutter-Kind-Hauses kaufte auf meine Bitte hin eine robuste Getreidemühle und bat mich um eine Einführung in die Vollwerternährung für sämtliche Mitarbeiterinnen des Mutter-Kind-Hauses. Dieser Bitte kam ich natürlich gerne nach – mit Vortrag, Buffet und Büchertisch. Für Fragen stand ich selbstverständlich auch immer zur Verfügung. Als unser Kindergarten 2001 neu gebaut wurde, konnte ich in beiden Gruppen eine wunderbar große und vollständige Kinderküche durchsetzen.“
Die will ich mir natürlich genau ansehen. Da ich an einem Dienstag zu Besuch bin, wurde das montägliche Brotbacken extra um einen Tag verschoben. Die Kinder sind mit Eifer dabei und zählen auf, was sie für das Brot alles brauchen: Wasser, Hefe, Salz, ein wenig Essig und natürlich Getreide, das sie selbst mit der Mühle zu Mehl mahlen dürfen. „Das fasziniert sie immer wieder aufs Neue“, erzählt Erzieherin Gloria Odi. Ihr ist es auch wichtig, dass die Kinder die Kornsorten auseinanderhalten können. Routiniert rühren die Kinder Teig und füllen die Masse in Backformen.
Im Nebenraum ist Simone Hermann mit einer anderen Gruppe zugange. Sie stellen leckere Vollwert-Plätzchen her. Ich darf natürlich als Erster davon naschen. Mein Lob bleibt nicht aus, und die kleinen Bäcker und Konditoren sind sichtlich stolz. In einem anderen Raum stellen die Kinder mit den Erzieherinnen Wieslawa Mahl und Lucie Alizada leckere Brotaufstriche her.
Diese Aktivitäten sind beispielgebend, zeigen sie doch, dass auf viele der üblichen Naschereien und Süßigkeiten verzichtet werden kann, wenn die Kinder an der Herstellung von gesundem Essen beteiligt werden.
Und die Eltern?
Immer wieder hört man, dass Eltern bei der Umsetzung von „gesunder Ernährung“ blockieren. Auch Andrea Rosenbaum und ihr Team kennen das. Kinder bringen Süßigkeiten von zu Hause mit, oder die Eltern äußern bestimmte Vorstellungen, was ihre Kinder in der Kita essen sollen. Dem kann sie auch nur mit Aufklärung und Information begegnen. „Das klappt erstaunlich gut“, so Rosenbaum. Ein Infoblatt, an die Eltern verteilt, verfehlt in den seltensten Fällen seine Wirkung. Mitgebrachte ungesunde Süßigkeiten gehen einfach „postwendend“ zurück. Und für Kindergeburtstage hat Andrea Rosenbaum sogar einen kleinen Eltern-Leitfaden erstellt. Dieser erläutert die Bedeutung dieses Festes und enthält nebenbei Rezepte für vollwertige Kuchen. „Donnerstags bereiten die Kinder eine ‚Gesunde Brotzeit‘ für alle zu. Die Zutaten hierfür bringen die Eltern mit. Dadurch erreichen wir, dass die Eltern auch einmal Biolebensmittel kaufen oder einen Naturkostladen betreten.“
„Leider können wir es uns nicht leisten, dass alle Mahlzeiten immer bio und vollwertig sind“, räumt Rosenbaum ein. „Das Mittagessen wird von einem ‚normalen‘ Caterer geliefert. Aber im Preis enthalten ist die Lieferung von frischem Obst und Gemüse, das wir den Kindern für die Zwischenmahlzeiten anbieten können. Wir möchten den Kindern natürliche Geschmackserlebnisse bieten.“
Andrea Rosenbaum schult ihre Mitarbeiterinnen regelmäßig. Mit vielfältigen Aktivitäten versucht das gesamte Team, Kinder und Eltern für die Themen Gesundheit und Umwelt zu sensibilisieren: „Wir haben ein gezeichnetes Vollwertkochbuch erstellt mit dem Ziel, dass die Kinder die Rezepte selber ‚lesen‘ und danach mehr oder minder selbstständig kochen können. Im Garten haben wir ein Beet und große Pflanztöpfe, wo wir Obst und Gemüse anbauen, damit die Kinder lernen, wie zum Beispiel eine Kartoffelpflanze aussieht. In regelmäßigen Abständen gibt es ein themenbezogenes Projekt. Die Eltern laden wir regelmäßig zu ‚vollwertigen‘ Koch- und Backnachmittagen ein. Gerade die Mütter, die wenig oder gar kein Deutsch sprechen, werden davon besonders angesprochen und haben Spaß am gemeinsamen Kochen.“
Der Vormittag vergeht wie im Flug. Die Kinder werfen ab und zu noch einen neugierigen Blick auf mich, aber die anfängliche Scheu ist gewichen. Ich habe den Eindruck, als würden sie es sehr genießen, in dieser Einrichtung zu sein. Während sich die Kinder alle zum Mittagessen versammeln, macht Andrea Rosenbaum mit mir einen Rundgang durch die übrigen Räume. Danach gibt es auch für uns eine feine Kürbissuppe und selbst gebackenes Brot. Ich bin beeindruckt von der Breite und Vielfalt der Angebote, dem ganzheitlichen Ansatz des pädagogischen Teams und der Freude der Kinder.
„Die Vollwerternährung ist bei uns allgegenwärtig, und ich habe noch nicht erlebt, dass das jemand − Mitarbeiterinnen, Eltern oder Träger − nicht gut gefunden hätte“, sagt Andrea Rosenbaum. „Unsere Kinder kennen die Getreidesorten. Das Mahlen der Körner und das Flocken mit der Quetsche sind ihnen vertraut. Die einschlägigen Bilderbücher werden häufig angesehen. Auch den 15-minütigen Zeichentrickfilm ‚Vollkorn – Ein Baustein unseres Lebens‘ aus dem emu-Verlag schauen sich die Kinder immer wieder gerne an.“
Aber das ist noch längst nicht alles: „Zum Thema ganzheitliche Gesundheit für Kinder gehört natürlich noch viel mehr − von Entspannungstechniken über viel draußen an der frischen Luft sein, sich sicher und gerne bewegen können, bis zur Stärkung der positiven Selbstkonzepte. Ein geordneter Tagesablauf, Musik und kulturelles Erleben (Kunstausstellungen für Kinder, Theater) gehören ebenso dazu wie Zahnputztechniken oder Händewaschen.“ Nachdenklich fügt die Kita-Leiterin hinzu: „Es sind dies vielleicht nur kleine Schritte, aber ich denke mir, dass alles, was die Kinder einmal erfahren, geschmeckt, erlebt haben, seine Spuren hinterlässt: Wenn sie bei uns tagtäglich mit Kindern anderer Nationen und anderer Hautfarben spielen und das auch in ihr Bewusstsein gebracht wird, sie wohl nie andersfarbige Menschen werden verachten können. Wenn sie bei uns erlebt haben, dass jeder ein wichtiger Mensch ist, sie sich niemals klein und unbedeutend fühlen werden. Wenn ihnen bei uns naturbelassene Nahrung geschmeckt hat, sie sich irgendwann an diesen vertrauten, positiv besetzten Geschmack erinnern werden.“
Da bin ich ganz sicher. Sehr herzlich verabschiede ich mich von allen. Meine Anerkennung gehört einem Team und einer Leiterin, die sich für das Wohl der Kinder engagieren.
Herbert Mayer
Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Der Gesundheitsberater“, herausgegeben von der Gesellschaft für Gesundheitsberatung GGB in Lahnstein.