Titelthema
"Lasst die Kinder zu mir kommen und wehrt ihnen nicht (...)"
Die Gesetze in Deutschland sind eindeutig: Es macht sich strafbar, wer sich "illegal", das bedeutet ohne Aufenthaltsbewilligung und/oder Duldung, in Deutschland aufhält. Jedes Jahr verlassen dennoch tausende Menschen ihre Heimat und machen sich auf den Weg, in der Hoffnung auf ein besseres Leben oder einfach mehr Sicherheit. Auch Papst Franziskus beton-te in seiner Botschaft zum Welttag des Migranten und Flüchtlings die Legitimität des Wunschs nach einem besseren Leben als Grund zur Migration: "Migranten und Flüchtlinge sind keine Figuren auf dem Schach-brett der Menschheit. Es geht um Kinder, Frauen und Männer, die aus verschiedenen Gründen ihre Häuser verlassen oder gezwungen sind, sie zu verlassen, Men-schen, die den gleichen legitimen Wunsch haben, mehr zu lernen und mehr zu besitzen, vor allem aber mehr zu sein."
Die Gründe für Migration sind vielfältig: Verfol-gung, existenzielle Not, Krieg, die Hoffnung auf ein besseres Leben - um nur einige zu nennen. Auf unter-schiedlichen Wegen kommen diese Menschen hierher, die allermeisten kommen und leben legal oder mit einer Duldung hier. Ein Teil der geflüchteten Menschen aber lebt im Verborgenen, im Schatten, mitten unter uns - ohne Papiere, dafür in ständiger Angst vor Entdeckung. Auch ganze Familien leben in dieser Schattenwelt - doch die Kinder hat niemand gefragt.
Das soziale Miteinander mit Gleichaltrigen - wie es sich in einer Kindertageseinrichtung abspielt - ist eine wichtige Grundlage für eine gelingende Entwicklung von Kindern. Mit dem Besuch einer Kita sind Rituale, Regelmäßigkeiten verknüpft, die den Alltag auch von Kindern in der aufenthaltsrechtlichen Irregularität ein wenig strukturieren und stabilisieren. So besteht die Möglichkeit, dass die Entwicklung des Kindes doch wenigstens teilweise in einer gewissen Normalität stattfinden kann.
Dennoch war vielen Kindern ohne legalen Aufent-haltsstatus lange Zeit der Besuch einer Kindertagesein-richtung verwehrt. Kommunal getragene Schulen und Kindergärten waren als öffentliche Stellen verpflichtet, es den Ausländerbehörden zu melden, wenn sie Kennt-nis von einem irregulären Aufenthalt erhielten. Erst vor knapp zwei Jahren wurden für Bildungs- und Erzie-hungseinrichtungen diese sogenannten "ausländerrecht-lichen Übermittlungspflichten" aufgehoben. Das hatte das "Katholische Forum Leben in der Illegalität" lange Jahre gefordert. Für diesen Schritt sind wir dankbar und wir begrüßen ihn.
Die Frage der Finanzierung
Auch wenn diese Übermittlungspflicht schon früher für katholische Kindertageseinrichtungen - die keine zur Meldung verpflichteten "öffentlichen" Einrichtungen im Sinne des Gesetzes sind - nicht galt, so gibt es auch bei diesen oftmals vor allem ein praktisches Hindernis, das statuslose Kinder am Besuch hindert: die Frage nach der Finanzierung des Kita-Platzes.
Oftmals fehlen den Eltern die finanziellen Mög-lichkeiten, um selbst zur Finanzierung beitragen zu können; öffentliche Unterstützung beispielsweise durch Kita-Gutscheine des Jugendamts können sie nicht beantragen. Menschen ohne Aufenthaltsstatus leben häufig in prekären Verhältnissen, die ständige Angst vor Entdeckung ist psychisch zermürbend. Umso wichtiger ist es aber für die Kinder dieser Familien, in einer Kita Normalität erleben zu können.
Seit vielen Jahren betrachten wir als Kirche es als unsere Aufgabe, die Probleme von Menschen in der Irregularität zur Sprache zu bringen. Ihre unveräußerli-chen Rechte dürfen weder verletzt noch unbeachtet gelassen werden. Gemeinsam mit Partnern aus Zivilge-sellschaft und Politik setzen wir uns für humanitär verantwortbare und pragmatische Lösungen ein. Aber auch wir können selbst, beispielsweise als Träger von Kindertageseinrichtungen, etwas tun.
Kinder in der aufenthaltsrechtlichen Irregularität dürfen von der Kirche nicht "draußen" gelassen wer-den. Gerade in diesen oft vergessenen Menschen be-gegnet uns Christus selbst: "Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" (Mt 25,40). Für die Achtung der Menschenwürde und für die damit verbundenen Rechte einzutreten, ist deshalb für uns unabdingbar. Unsere Sorge muss selbstverständlich auch den Kindern in der Irregularität gelten - das Wort "Lasst die Kinder zu mir kommen und wehrt ihnen nicht" (Mk 10,14) nimmt auch die Kirche, jede Gemeinde und jeden Einzelnen von uns in die Pflicht.
Unser anwaltschaftlicher Einsatz muss ergänzt werden durch tatkräftige Praxis in unseren Einrichtun-gen. Bereits in vielen Fällen werden finanzielle Fragen kreativ und großzügig gelöst, so dass Kinder ohne Aufenthaltsstatus in katholischen Kindertageseinrich-tungen Aufnahme finden. Alle, die in kirchlichen Kin-dertageseinrichtungen Verantwortung tragen − Erzieherinnen, Leiterinnen und Vertreter der Träger −, müssen sich ihrer Verantwortung als Christen bewusst sein. Ich bitte Sie: Sehen Sie genau hin, seien Sie sensibel und geben Sie den Kindern eine Chance.
Bischof Norbert Trelle
Vorsitzender der Migrationskommissi-on der Deutschen Bischofskonferenz und Vorsitzender des Katholischen Forums Leben in der Illegalität.