Titelthema
Gemeinsam stark
Kita-Fachkräfte machen mobil: Innerhalb von wenigen Monaten haben sie in fast allen Bundesländern ihre eigenen Fachverbände gegründet oder sind auf dem Weg dorthin. Sie fordern die Politik auf, die Rahmenbedingungen zu ändern - für kindgerechte Einrichtungen.
Ein Bericht von Dagmar Trüpschuch.
Dienstagabend, 20 Uhr. Nach und nach wählen sich die Teilnehmenden in das Zoom-Meeting ein. Organisiert hat es der Kita-Fachkräfteverband Rheinland-Pfalz. Eingeladen sind alle pädagogischen Fachkräfte, sich mit ihren Sorgen und Fragen zu beteiligen. Ziel neben dem fachlichen Austausch ist, den Fachkräfteverband bekannt zu machen und neue Mitglieder zu gewinnen. Treffen wie diese finden derzeit in vielen Bundesländern Deutschlands statt. Noch ist sie jung, die Graswurzelbewegung der Fachkräfte in der Frühpädagogik. Aber seitdem es sie gibt, schlagen die Wellen hoch.
Die Fachkräfte in Rheinland-Pfalz machten den Anfang
Am 1. September 2020 ging die Homepage des ersten Fachkräfteverbands online. Es waren die Erzieher*innen in Rheinland-Pfalz, die den Anfang machten. Angestoßen hatte die Aktion Claudia Theobald. Die 53-Jährige arbeitet seit rund 30 Jahren in der Kita, die letzten davon als Erzieherin und Qualitätsbeauftragte in einer katholischen Kindertageseinrichtung im pfälzischen Haßloch. »Ich liebe meinen Beruf und die Frühpädagogik mit ihren Möglichkeiten, mit Kindern zu forschen und die Welt zu entdecken«, sagt sie. Doch in den vergangenen Jahren habe sich schleichend, aber doch beständig der Alltag in der Kita geändert: Zu viele Kinder auf zu engem Raum, zu große Gruppen und Fachkräftemangel sind nur einige der Kritikpunkte, die sie nennt. »Unser Problem sind die unzureichenden Rahmenbedingungen, um qualitativ gute Arbeit mit den Kindern gewährleisten zu können.«
Diese Feststellung ist wissenschaftlich belegt. Seit 15 Jahren aktualisiert beispielsweise die Bertelsmann Stiftung jährlich ihren bundesweiten Ländermonitor Frühkindliche Bildungssysteme und zeigt, wie weit die Bundesländer von den Mindestanforderungen an eine qualitativ gute Kinderbetreuung und frühkindliche Bildung entfernt sind. Über Rheinland-Pfalz heißt es für das Jahr 2020: 64 Prozent aller Gruppen seien zu groß und für fast 80 Prozent der Kinder gebe es nicht genug Fachpersonal. Um eine kindgerechte Personalausstattung zu gewährleisten, würden bis 2030 knapp 16000 zusätzliche Fachkräfte benötigt.
In diese angespannte Situation hinein wurde in Rheinland-Pfalz 2019 ein neues Kita-Gesetz verabschiedet. Trotz erheblicher Proteste seitens der pädagogischen Fachkräfte. Denn das Gesetz stellt die Kitas seit Inkrafttreten im Juli 2021 vor ganz neue Herausforderungen. Seitdem haben alle Kinder mit der Vollendung des zweiten Lebensjahrs einen Rechtsanspruch auf eine Betreuung von sieben Stunden täglich. Damit einher gehen bedarfsgerechte Angebote für eine Mittagsverpflegung. Eigentlich eine gute Initiative, findet Claudia Theobald, doch viele Kitas hätten weder entsprechende Räumlichkeiten noch genügend Personal, um das Angebot adäquat umsetzen zu können. Ein Beispiel aus ihrem Kita-Alltag: Im Laufe des Tages müssen die pädagogischen Fachkräfte nun die Räume zum Spielen, Essen, Ruhen oder Vorlesen immer wieder umbauen, um die neuen Vorgaben auch umsetzen zu können. In ihrer Stimme schwingt der Ärger darüber mit, dass ihre Bedenken vorab von den politisch Verantwortlichen nicht gehört wurden. Das neue Kita-Gesetz wurde über den Kopf derjenigen formuliert und verabschiedet, die jeden Tag mit den Kindern arbeiten. »Wir aus der Praxis wissen, wie es vor Ort aussieht und was wir brauchen. Doch wir wurden nicht gehört.«
Claudia Theobald reichte es und mit ihr 22 anderen pädagogischen Fachkräften, die sich nach langen Beratungen kopfüber in ein neues Abenteuer stürzten. Sie gründeten einen Berufsverband, den ersten seiner Art, denn bislang war das Fachpersonal in der frühkindlichen Erziehung weder organisiert noch vernetzt. Das formulierte Ziel des Verbands »Stimme aus der Praxis« ist, sich dafür einzusetzen, die Rahmenbedingungen in der Kita so zu verbessern, dass es sowohl den Kindern als auch den Fachkräften in ihrem täglichen Miteinander gutgeht. Unter den gegebenen Bedingungen könnten sie ihrem Bildungsauftrag nicht zu hundert Prozent gerecht werden und den Erzieher*innen kein gesundes Arbeitsumfeld bieten, so Claudia Theobald. »Wir betreuen unsere Jüngsten weitab von Mindeststandards für eine gute pädagogische Qualität.«
Seit der Gründung des Vereins ist viel passiert. Anfangs von allen Seiten noch müde belächelt, wurde er immer stimmgewaltiger. Seine Mitglieder sind unbequem, legen den Finger in die Wunde. Nerven die Politik, weil beispielsweise in Kitas - anders als in Schulen - trotz Pandemie keine Testpflicht besteht. Ein Brandbrief an das Bildungsministerium wurde bereits verschickt. Ebenso ein Positionspapier mit den zentralen Forderungen, um kindgerechte Bedingungen in Kitas zu schaffen: Anhebung des Personalschlüssels, Verkleinerung der Gruppengrößen, Verbesserung der räumlichen Voraussetzungen, bessere Unterstützung von Leitung und Trägern, Anpassung der Ausbildungsmodalitäten wie eine praxisintegrierte und bezahlte Ausbildung. Mittlerweile hat der Fachkräfteverband Rheinland-Pfalz fast 500 Mitglieder. Er hat einen Stein ins Rollen gebracht, der so schnell nicht zu stoppen ist. Neun weitere Bundesländer haben nachgezogen, in weiteren wird über eine Verbandsgründung diskutiert.
Auch in Berlin klafft eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit
In Berlin ist der Stein ebenfalls ins Rollen gekommen. Im März 2021 gründeten einige engagierte Erzieher*innen ihren eigenen Fachkräfteverband. Kerstin Schönherr-Faust war bei der Gründung dabei, gemeinsam mit zehn weiteren Kita-Fachkräften. »Ich engagiere mich, um die Rahmenbedingungen für die Kinder und für meine Kolleg*innen zu verbessern«, sagt sie. Die Probleme, die die Berliner Kitas haben, sind ähnlich wie die der Kolleg*innen in Rheinland-Pfalz, obwohl jedes Bundesland sein eigenes Bildungssystem hat. So haben in Berlin beispielsweise schon seit Anfang 2018 alle Kinder ab ihrem ersten Geburtstag einen Anspruch auf frühkindliche Förderung von sieben Stunden täglich. Den Kampf der rheinland-pfälzischen Kolleg*innen kämpfen sie schon seit Jahren. Denn auch in der Landeshauptstadt hinkt der Anspruch der Realität hinterher. »Eines unserer Probleme ist die Fachkraft-Kind-Relation«, sagt Kerstin Schönherr-Faust. Berlin sei ein Zuzugsgebiet, immer mehr Kinder kämen in die Kita. »Wir brauchen eigentlich mehr Personal für weniger Kinder«, sagt sie. »Wir erwarten, dass die Politik das zu ihrem Ziel erklärt.«
Würden die von der Bertelsmann Stiftung empfohlenen Personalschlüssel für alle Kitas in Deutschland verbindlich gelten, wären stante pede 120 000 zusätzliche Fachkräfte erforderlich. Bei drei- bis sechsjährigen Kindern empfiehlt die Stiftung einen Personalschlüssel von 1 : 7,5 und im Krippenbereich von 1 : 3. Bei diesen Zahlen kann Kerstin Schönherr-Faust nur lachen. »Gerade im Krippenbereich ist der Unterschied zwischen Empfehlung und Realität besonders groß«, sagt sie. Sie leitet eine Kita in Berlin-Moabit, in der 14 Erzieher*innen, zwei Sozialassistent*innen und drei Studierende in der berufsbegleitenden Ausbildung arbeiten. Wegen des Personalmangels kann die Kita nicht, wie eigentlich vorgesehen, 130 Kinder betreuen. Die Politik sei gefordert, zu handeln, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, indem sie zum Beispiel unterschiedliche Wege in den Beruf ermögliche. »Ohne die Qualität der Ausbildung zu mindern«, betont Kerstin Schönherr-Faust.
Personalschlüssel, Leitungsfreistellung und Verfügungszeiten stehen in Niedersachsen im Fokus
Das Thema Fachkräftemangel treibt auch Melanie Krause, Leiterin einer Kita in Leer im Landkreis Nie- dersachsen, um. In ihrer Kita mit 80 Kindern fehlen drei Fachkräfte. »Die Stellen bekomme ich nicht besetzt«, sagt sie. Sie ist die treibende Kraft hinter dem Fachkräfteverband Bremen/Niedersachsen, den sie am 1. Mai 2021 mitgegründet hat. Wie sehr den Kita-Fachkräften die mangelhaften Rahmenbedingungen unter den Nägeln brennen, zeigt der große Zulauf. »Innerhalb der ersten 24 Stunden nach Gründung hatten wir 24 Mitglieder«, sagt sie. Über Social Media verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Heute hat der Verband 70 Mitglieder. Neben dem schlechten Fachkraft-Kind-Schlüssel kämpft der norddeutsche Verband besonders um zwei Punkte: Leitungsfreistellung und Verfügungszeiten.
»Leitungen sollten in ihrer Funktion komplett freigestellt werden und nicht auch noch als Fachkraft im Gruppendienst arbeiten müssen«, sagt sie. Bei den immer steigenden Ansprüchen an gute Führungskräfte wären beide Rollen nicht miteinander vereinbar. »Kita-Leitungen, die gleichzeitig im Gruppendienst arbeiten, sind in mehrfacher Hinsicht möglichen Konflikten ausgesetzt: Gegenüber Teammitgliedern sind sie mal Kollegin, mal Vorgesetzte, gegenüber den Eltern ebenfalls in einer Doppelrolle als Bezugsperson ihrer Kinder und Einrichtungsleitung«, sagt Petra Strehmel, Professorin für Psychologie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg, in einem Interview mit dem Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung (nifbe). Melanie Krause ist in ihrer Kita als Leiterin vom Gruppendienst freigestellt, was nicht in jeder Einrichtung so ist. Sie kann sich ganz ihren vielfältigen, anspruchsvollen Aufgaben widmen: pädagogische Leitung und Betriebsführung, Mitarbeiterführung, Organisationsentwicklung, Personalmanagement.
Sie spricht einen weiteren Punkt an: Jeder Gruppe stünden pro Woche insgesamt 7,5 Stunden Vor- und Nachbereitungszeit zur Verfügung. »Das ist mit der Organisation und Durchführung von Elternabenden, Entwicklungsgesprächen und Dokumentationen zu wenig«, sagt sie. Im schlimmsten Fall würde dies zulasten der Zeit für die Arbeit mit den Kindern gehen oder auf Kosten der Freizeit der pädagogischen Fachkräfte. »Deswegen fordern wir fünf Stunden Vor- und Nachbereitungszeit pro Woche für jede Fachkraft«, sagt Melanie Krause. Und fügt ein bestimmtes »mindestens« hinzu.
Ein gemeinsames Positionspapier mit zwölf Forderungen
Über mangelnde Verfügungszeit berichtet auch Matthias Ressler, der im September 2021 mit sechs weiteren Mitstreiter*innen den Fachkräfteverband Thüringen ins Leben gerufen hat. 24 sind sie mittlerweile, Tendenz steigend. Er ist Erzieher aus Leidenschaft, obwohl er seit knapp einem Jahr im Bereich der sozialpädagogischen Erziehungshilfe arbeitet. Als er von der neuen Bewegung hörte, war er jedoch sofort Feuer und Flamme. Denn: »Aufgrund unzureichender Rahmenbedingungen musste ich einige Abstriche bei der Umsetzung meiner Vision von einer guten frühkindlichen Pädagogik machen«, sagt er. Deswegen will er sich auch nachträglich noch für bessere Arbeitsbedingungen zum Wohl der Fachkräfte und der Kinder einsetzen und dafür kämpfen, dass aus Kitas wieder Bildungsinstitutionen werden. Dazu gehöre: gut ausgebildetes Personal, eine vergütete Ausbildung, ein adäquater Betreuungsschlüssel, moderne technische Ausstattung sowie ausreichend Platz für alle Mädchen und Jungen in einer kindgerechten Kita mit Fachkräften, die nicht kurz vor dem Burn-out stünden.
Deswegen hat auch der Kita-Verband Thüringen zusammen mit den anderen Fachkräfteverbänden ein gemeinsames Positionspapier aufgesetzt mit zwölf Forderungen an die Bundesregierung für eine gute frühkindliche Bildung und für die Stärkung der Arbeit der pädagogischen Fachkräfte1. Dazu gehören neben den schon aufgezählten Punkten auch eine Investitionsoffensive für den Ausbau und Erhalt der Kitas, eine attraktive Vergütung, Fortbildungen und Teamentwicklung sowie politische Mitsprache.
Die Arbeit der Fachkräfteverbände trägt bereits Früchte: Die Thüringer werden in ihrem Landtag dazu angehört, wie sie zur praxisintegrierten Ausbildung und zu frühkindlichen Bildungszentren stehen, Politiker*innen des Bremer Senats und der niedersächsischen Landesregierung bitten darum, in den Presseverteiler aufgenommen zu werden. In Berlin hatten die Politiker*innen vor der Wahl im Sommer 2021 Fragen eines Themenkatalogs zur frühkindlichen Bildung beantwortet. »An ihren Antworten müssen sie sich jetzt messen lassen«, sagt Kerstin Schönherr-Faust. »Da werden wir nachhaken.« Und Claudia Theobald wurde als Vertreterin des Fachkräfteverbands Rheinland-Pfalz eingeladen, den Bundespräsidenten mitzuwählen. »Ja, wir werden mittlerweile gehört«, sagt sie.
Das Zoom-Meeting der Rheinland-Pfälzer neigt sich derweil seinem Ende zu. Interesse hatten auf den Social-Media-Kanälen über dreißig Personen gezeigt, letztendlich fand man sich jedoch nur in kleiner Runde zusammen. Doch auch im Kleinen zeigte sich, wie wichtig Vernetzung ist. Wie geht ihr in eurer Kita mit Corona um? Wie mit vollen Gruppen und Wartelisten? Wie mit Personalmangel? Was will der Fachkräfteverband erreichen? Das waren nur einige der Gesprächsthemen. Vielleicht wurden ja manche Teilnehmende davon überzeugt, dass gemeinsames Handeln wichtig ist, und entscheiden sich für eine Mitgliedschaft. Denn, und daran lassen die Vertreter*innen des Fachkräfteverbands keinen Zweifel aufkommen: Jede Stimme zählt.
Dagmar Trüpschuch
Erzieherin, freie Journalistin.
Anmerkung
1 Das gemeinsame Positionspapier ist im Internet nachzulesen unter www.kita-fachkraefteverband-thueringen.de