Titelthema
Auch Jesus war ein Flüchtling!
»Wir schaffen das«,
sagte eine junge Frau aus Galiläa,
als sie erfuhr,
dass sich ihr Leben radikal verändern würde.
Flucht ist keineswegs ein neues Thema unserer Tage. Es ist so alt wie die Menschheitsgeschichte. So ist es nicht verwunderlich, dass dieses Thema auch die Bibel wie ein roter Faden durchzieht. Die biblischen Geschichten im Alten und Neuen Testament erzählen immer wieder davon, dass Menschen sich gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen. Sie fliehen vor persönlicher Verfolgung, vor Hungersnöten, vor Krieg, vor Strafverfolgung und aus vielen anderen plausiblen Gründen. Aber um es gleich zu Beginn in aller Kürze vorwegzunehmen: Der Gott des Alten und Neuen Testaments mag Ausländer! Er ist gerade denen in besonderer Weise nahe, die fremd und verloren sind!
Frauen und Männer auf der Flucht - biblische Beispiele
Es gab eine Hungersnot im Land -
deshalb zog Abraham nach Ägypten,
um dort als Fremder zu sein,
da die Hungersnot schwer auf dem Land lastete
(Gen 12,10)
Abraham und Co - Die Erzväter auf der Flucht
Abraham und seine Frau Sarah verlassen auf Geheiß Gottes ihre Heimat und ziehen in das fremde Land Kanaan. Als dort eine Hungersnot ausbricht, müssen sie nach Ägypten fliehen. Das hebräische Wort »Fremder«, mit dem Abraham hier gekennzeichnet wird, lässt sich heutzutage wohl am ehesten mit dem Begriff »Flüchtling« übersetzen. Mit dieser Flucht beginnt die große Familiengeschichte des Volkes Israel, die sich insgesamt als Flucht-Geschichte lesen lässt. Denn wie Abraham muss auch Isaak wegen einer Hungersnot in ein anderes Land fliehen und dort als Fremder leben (Gen 26,1 - 3). Jakob, der Enkel Abrahams, flieht wegen des Zorns seines Bruders Esau zu seinem Onkel Laban (Gen 27,41 - 43). Joseph wird als Sklave nach Ägypten verkauft (Gen 37,28) und lebt dort viele Jahre als Fremder.
Mose und die große Flucht aus Ägypten
Unter der Führung von Mose - der zunächst selbst auf der Flucht vor dem Pharao ist (Ex 2,15) - flieht das Volk Gottes vor der unterdrückenden und tödlichen Fremdherrschaft und erlebt auf diesem beschwerlichen Weg den Kampf um Leben und Tod. In der Erinnerung des Volkes Israel haben die Sklavenherrschaft in Ägypten und der rettende Zug ins gelobte Land sehr hohe identitätsstiftende Kraft (vgl. dazu Dtn 26,6 - 9).
König David und andere renommierte Flüchtlinge im Alten Testament
Wenn wir die Geschichte Israels verfolgen, treffen wir auf weitere Flüchtlinge: Rut und ihre Schwiegermutter Naomi leben als Fremde in verschiedenen Ländern. Der von Gott auserwählte David flieht vor König Saul und bezieht politisches Asyl im Lande der Philister (1 Sam 27,1 - 4). Der Prophet Elia flüchtete vor der Königin Isebel in die Wüste (1 Kön 19,1 - 18). Der Prophet Jona flieht vor dem Auftrag Gottes auf ein Schiff, das ihn in die entgegengesetzte Richtung bringt (Jona 1,3 - 16). Diese wenigen Beispiele zeigen schon, dass die Geschichte Gottes mit Israel auch die Geschichte Gottes mit Flüchtlingen ist. Und diese Tendenz setzt sich im Neuen Testament fort:
Steh auf,
nimm das Kind und seine Mutter
und flieh nach Ägypten … (Mt 2,13)
Jesus von Nazaret
Kaum geboren, war auch Jesus schon auf der Flucht! Als kleines Kind muss er mit seinen Eltern nach Ägypten ziehen, um der grausamen Willkür des Kindermörders Herodes zu entgehen. Die Botschaft ist eindeutig: Gott beschützt nicht nur die Fremden und Flüchtlinge, sondern er wird selbst zu einem solchen. Der Plan Gottes, Mensch zu werden, ist unmittelbar mit einer Flüchtlingsexistenz verbunden.
Jüngerinnen und Jünger - Fremdsein, Verfolgung, Flucht
Das Schicksal Jesu als politischer Flüchtling wird auch auf die Apostel übertragen: Nach dem Tod Jesu werden sie wegen ihres Bekenntnisses zu ihm verfolgt und müssen fliehen (Apg 8,1). In der Apostelgeschichte wird mehrfach von Verfolgung und Flucht der ersten Christen berichtet. Der Weg, den die Fliehenden beschreiten, ist der Weg des jungen Christentums in die Welt. Es ist zunächst ein recht steiniger Weg, denn die Christen leben als »Fremde in der Welt« (1 Petr 1,1 oder 2,11) - aber auch der Beginn einer langen und nachhaltigen Reise.
Konsequenzen der biblischen Texte für ein gelingendes Miteinander
Wenn wir die Stichproben aus dem Alten und Neuen Testament in einem Zwischenbefund nun im Blick auf eine Pastoral in der Kita auswerten, kommen wir zu folgenden vier stichwortartigen Konsequenzen:
Schutz der Fremden und Flüchtlinge
Weil die Geschichte des Volkes Israel eine Flucht-Geschichte ist, genießt der Fremde in der biblischen Tradition einen besonderen Schutz des göttlichen Rechts. Er darf nicht ausgebeutet oder unterdrückt werden, er ist dem Einheimischen gleichgestellt, vom Gesetz geschützt und die Versorgung seiner Grundbedürfnisse ist abgesichert. Der Fremde soll in Frieden dort leben dürfen, wo es ihm gefällt. Allerdings werden die Fremden auch darauf verpflichtet, nach den Gesetzen der Einheimischen zu leben (vgl. Ex 20,20).
Der Fremde, der sich bei euch aufhält,
soll euch wie ein Einheimischer gelten
und du sollst ihn lieben wie dich selbst
(Lev 19,34)
Konzept der Gastfreundschaft
»Vergesst nicht, Gastfreundschaft zu üben, denn auf diese Weise haben einige, ohne es zu wissen, Engel bei sich aufgenommen …« (Hebr 13,2). Das Beherbergen von Fremden und Flüchtlingen ist eine Selbstverständlichkeit in der biblischen Tradition. Es gilt ihnen zu zeigen, dass sie willkommen sind. Sie müssen nicht draußen übernachten, ihnen steht immer die Tür offen (Hiob 31,31 f.). In der Pastoral wird es darum gehen, eine Willkommens- und Einladungskultur zu pflegen, die die Fremden und Flüchtlinge in ihrem jeweiligen Anderssein ernst- und aufnehmen, ohne dabei den eigenen Standpunkt zu verleugnen.
Begegnung zwischen Einheimischen und Flüchtlingen
Die biblischen Geschichten verdeutlichen, dass die Fremden nicht am Rande der Gesellschaft stehen, sondern vielmehr dazugehören. Sie sind nicht nur willkommen, sondern grundsätzlich Teil der Gesellschaft, Teil des Sozial- und Pastoralraums. Es wird entschieden gegen Vorurteile und Ablehnung votiert, vielmehr wird zur freundschaftlichen und produktiven Begegnung aufgerufen. Dazu ist es notwendig, Ängste zu überwinden, über den eigenen Schatten zu springen, Neues zuzulassen.
Flüchtlinge in unserer Mitte - »Wer ist denn dein Nächster?« (Lk 10,29)
Der ethische Ansatz der Botschaft Jesu entgrenzt im Rückgriff auf die alttestamentlichen Traditionen das Gebot der Nächstenliebe: Jedem, der Hilfe sucht, soll geholfen werden. Die klassische Beispielgeschichte dafür ist die Erzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25 - 37). Ein Samaritaner, der im Judentum als religiös Abtrünniger gilt, wird zur Modellfigur der von Gott gewollten Nächstenliebe. Durch sein Tun wird er zum Nachahmer Gottes. Die Barmherzigkeit formuliert den ethischen Anspruch, Recht und Gerechtigkeit unter der Bedingung gestörter Gleichheitsverhältnisse zu üben.
Impulse für eine Pastoral in der Kita
Die religionspädagogische Arbeit mit den oben genannten (und ja meist gut bekannten) Fluchtgeschichten kann und wird sicher einen Schwerpunkt der Pastoral in der Kita bilden. Die methodischen Zugänge sind vielfältig, in Kindertageseinrichtungen oft gut bekannt und selbst bei bestehenden Sprachbarrieren bestens umsetzbar: kreative Zugänge, biblische Erzählfiguren, Kett-Methode, Arbeit mit Bildern und Fotos, Kinderbibeln und Bilderbücher, musikalische Elemente …
Aber es wird auch und vielleicht vor allem darum gehen, ein Gesamtkonzept zu entwickeln, das all die genannten Aspekte aus dem biblischen Verständnis von Fremdsein und Flucht für eine gelingende Pastoral in der Kita aufbereitet. Einen solchen integrativen Ansatz verfolgt das Praxisprojekt »Uferbogen - Pastorale Ideen am Rande«, das im Rahmen des Münsteraner Projekts »Kita - Lebensort des Glaubens« in Duisburg Walsum entwickelt wurde.1 Das Projekt skizziert eine umfassende und nachhaltige Idee davon, wie sich Pastoral in Kita, Gemeinde und Sozialraum realisieren lässt, und stellt in einladender Weise auch einen Integrationsansatz für Fremde und Flüchtlinge dar. Hier werden die interkulturellen Potenziale in Kita, Pfarrei und Sozialraum genutzt und ausgebaut, verschiedene Glaubensorte in der Nähe für alle zugänglich gemacht, qualifizierte Begleitung durch pädagogisches und pastorales Personal zur Verfügung gestellt, Transparenz durch zeitgemäße Medienarbeit hergestellt sowie hilfreiche und kooperative Netzwerke geschaffen.
Es zeigt, dass die oben genannten biblischen Perspektiven (Schutz, Gastfreundschaft, Begegnung, Kommunikation, Barmherzigkeit) nicht nur Utopie sind, sondern sich tatsächlich realisieren lassen. Allerdings bedarf es dazu Menschen, die bereit sind, über den eigenen Schatten zu springen, und die sich trotz aller Widrigkeiten immer wieder von einem Perspektivwechsel leiten lassen. Und man braucht ein breit vernetztes Konzept, das langfristig ausgerichtet ist und das neben der viel beschworenen Willkommenskultur auch die Möglichkeit der Beheimatung ins Auge fasst.
Dr. theol. Andreas Leinhäupl
Projektleiter »Kita - Lebensort des Glaubens«, Bistum Münster.