Titelthema
Auf das Leben vorbereiten?!
Eltern, Kitas und Schulen sollen - so das geflügelte und oft zitierte Wort - die Kinder auf das Leben vorbereiten und dabei möglichst gut zusammenwirken. Auf das Leben vorbereiten! Was ist denn damit gemeint? Leben die Kinder denn nicht bereits, und das schon vor der Geburt? Ist das Leben der Kinder noch nicht das richtige Leben, sondern so etwas wie ein »Vorläufer-Leben«? Von der Schule wird ja auch gerne von »Vorläufer-Fähigkeiten« gesprochen - gemeint sind damit Fähigkeiten von jungen Kindern, die noch nicht so wirklich zählen, weil sie noch nicht benotet werden können.
Welches Leben ist hier eigentlich im Blick? Das gelebte Leben der Kinder jedenfalls nicht.
Ist Kinderleben nichts wert?
Wir haben da ja auch den nicht auszumerzenden Spruch vom »Ernst des Lebens«, der angeblich immer dann zuschlägt, wenn Kinder in die Schule kommen. Und vorher ist alles Friede, Freude, Eierkuchen? Sind die unendlichen Anstrengungen, die junge Kinder erbringen, um immer selbstbestimmter und gemeinsam mit anderen ihre eigene Welt zu gestalten, nicht ernst zu nehmen? Sich fortbewegen lernen, sich von der Mutterbrust lösen, sich Sprachen erobern, sich der Macht der Erwachsenen widersetzen, sich mit anderen Kindern zusammenraufen, Freundinnen und Freunde finden, Pläne schmieden, um eigene Vorstellungen zu realisieren - ist das alles Pille-Palle-Kinderkram? Nicht wirklich ernst zu nehmen?
Ist ja eher niedlich zu beobachten, wie die Kleinen ihre Weltvorstellungen entwickeln. Sie werden schon noch sehen, wo der Hase wirklich langläuft. Dazu geben wir ihnen dann auch gerne noch großzügig etwas Zeit zum Spielen und Sich-Ausprobieren. Hat aber alles seine Grenzen. Denn die Kleinen müssen rechtzeitig von uns Großen erfahren, wie das Leben wirklich spielt. Das nennen wir Erziehung - und sehen darin unsere Verantwortung.
Verantwortung - auch so ein schönes Wort. Verordnen wir vielleicht die Antworten, die Kinder auf ihre Fragen an die Welt und damit auch an uns Erwachsene finden sollen? Wen schützen wir mit unseren Antworten und unserer Verantwortung eigentlich? Die Kinder - oder uns selbst mit unseren scheinbaren Gewissheiten, die wir nicht von diesen kleinen Störenfrieden infrage stellen lassen wollen?
Und wen oder was befördern oder behindern wir damit?
Es gab da mal im Westen der Republik, lang ist’s her - auch in der Diskussion um frühkindliche Pädagogik - den Begriff der Emanzipation. Es gab sogar Konzepte emanzipatorischer Erziehung - vielleicht ein Widerspruch in sich selbst, wenn wir das Konzept der Emanzipation auch auf Kinder beziehen.
Emanzipation: Das hatte irgendwie und irgendetwas mit Befreiung zu tun. Befreiung von unterdrückenden und einengenden Vorschriften, Konventionen und anderen beschränkenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Die Befreiung der Kinder von der Übermacht der Erwachsenen war dabei weniger im Blick. Eher die Forderungen der unterdrückten Erwachsenen-Gruppen: Frauen, Menschen mit niedrigen Einkommen, Menschen mit Behinderungen …
Kinder als Träger von eigenen Rechten waren damals auch nicht wirklich im Zentrum. Wir brauchen wohl eine neue Diskussion um die Rechte von Kindern: ihr Recht auf Kindheit, ihr Recht auf Gegenwart, ihr Recht auf die Entwicklung eigener Vorstellungen für ihr zukünftiges Leben und ihr Recht, von uns Erwachsenen die Unterstützung zu erhalten, die sie dafür von uns benötigen.
Schaffen wir das?
Dr. Christa Preissing
Dipl.-Soziologin und Dr. phil., Direktorin des Berliner Kita-Instituts für Qualitätsentwicklung (BeKi) und Vizepräsidentin der Internationalen Akademie (INA) gGmbH an der Freien Universität Berlin.