Standpunkt
Nur Ochsen büffeln!
Was ist eigentlich los in Deutschlands Kindergärten? Seit Jahrzehnten beschäftigen wir uns damit, wie Kinder lernen und was sie charakterisiert. Wir wälzen Texte von Fröbel und Montessori. Wir sind entzückt über die scheinbar neue Erkenntnis, Bildung als eigentätigen Prozess des Kindes zu definieren. Wir sind davon überzeugt, dass die Interessen, die Themen und die Lernvoraussetzungen von Kindern unumstößlich wichtig sind. In der Kita-Szene schwören wir auf ein ganzheitliches Bildungsverständnis. Das Lernen in Alltagssituationen und die herausragende Bedeutung des Spiels ist in den Konzeptionen vieler Kitas festgeschrieben. In zahlreichen Leitbildern wird die unantastbare Würde des Kindes als fest verankerte Prämisse hervorgehoben. »Bei uns steht das Kind im Mittelpunkt«: Es gibt kaum eine pädagogische Fachkraft, die diese Aussage nicht unterschreiben würde.
Eine Reise durch das »deutsche Kindergartenland« erweckt jedoch den Eindruck, dass unsere pädagogische Logik, an was auch immer, zerbricht. Vielleicht liegt es an zu starren Strukturen, an zu vielen bürokratischen Regeln, an zu wenig Freiraum, an fehlendem Personal, an zu wenig Geld. Vielleicht sind auch ganz einfach wir das Problem oder die eigentliche Aufgabe − und nicht die Eltern, schon gar nicht die Kinder. Warum ist es denn immer noch so, dass Projektarbeit mit Kindern eher einer Angebotspädagogik gleicht? Dass durch standardisierte Förderprogramme Kinder vielfach isoliert und Lerninhalte von deren Lebenswelt und Erfahrungen abgekoppelt werden? Warum werden nach wie vor kindliche Lernprozesse von hölzernen Tagesabläufen durchbrochen? Warum reißen wir Kinder aus ihrer Versunkenheit, nur weil der Stuhlkreis auf der Tagesordnung steht? Warum geben wir Kindern Antworten, obwohl sie überhaupt keine Frage gestellt haben, und blockieren damit ihre eigenen Lernprozesse? So weit das Auge reicht, immer noch schablonisierte Bastelprodukte, fein säuberlich ausgeprickelt, damit es den Erwachsenen gefällt. Und nicht selten fest vorgegebene Zeiten fürs Nach-draußen-Gehen oder Vorgaben dahingehend, wie viele Kinder sich wann in den Forscherecken aufhalten dürfen.
Die Interessen und Themen der Kinder in den Mittelpunkt stellen, ihre Lernrhythmen berücksichtigen, sich auf deren Wirklichkeit einlassen und sie nicht bevormunden. Kinder darin unterstützen, ihre Talente zu entfalten, sie ermuntern, selbst Antworten auf ihre Fragen zu finden. Ihre Würde achten und sie herausfordern. Ihren Eigensinn wertschätzen, ihre Leidenschaften teilen. All dies setzt voraus, dass wir uns einmal durchschütteln, unsere Scheuklappen ablegen und im pädagogischen Alltag eine Balance aus Nähe und Distanz gegenüber Kindern erreichen.
»Pädagogischer Takt« nennen die beiden Reformpädagogen Theodor Litt und Herman Nohl das.
Pädagogisch taktvoll handeln wir dann, wenn wir Kindern gegenüber Nähe zeigen, das heißt sie unterstützen, weil sie es wollen. Distanz ist dann gefragt, wenn Kinder ohne uns klarkommen, wenn wir uns zurückhalten, weil sie uns nicht brauchen. Pädagogisch taktvoll Handeln setzt Vertrauen gegenüber Kindern voraus. Und das ist unumgänglich. Denn wie heißt es so schön bei Erich Kästner: »Der Mensch soll lernen, nur die Ochsen büffeln.«
Frank Jansen
Geschäftsführer des Verbands Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder (KTK) - Bundesverband e. V.
»Pädagogisch taktvoll Handeln setzt Vertrauen gegenüber Kindern voraus.«