Titelthema
Von Bürokratie umzingelt
Wörtlich übersetzt bedeutet Bürokratie »die Herrschaft der Schreibtische«. Wir müssen uns das vorstellen wie bei den »Transformers« im Kino: Im Prinzip sind Schreibtische harmlose, praktische Möbelstücke, können sich aber offenbar plötzlich in bedrohliche Akteure verwandeln, die verschiedene üble Dinge tun. Vergleichen Sie doch einfach mal anhand der folgenden Beispiele, welche Varianten Ihnen in der letzten Zeit das Leben schwer gemacht haben.
Sie können auch »Bürokraten-Bingo« spielen: Machen Sie auf einem Zettel ein Kreuz für jede hier beschriebene Form von Bürokratie, die Ihnen tatsächlich begegnet ist. Bei fünf Kreuzen haben Sie gewonnen, dürfen aufspringen und laut in den Saal rufen: »Sch… Bürokratie!«
»Du bist ein Hase!«, sagt der Bürokrat zum Eichhörnchen
Ein Prinzip, das den Opfern mit Sicherheit auf die Nerven geht, besteht darin, Regelungen auf den Kindergarten anzuwenden, obwohl sie dafür nicht passen. Falls Sie sich zum Beispiel wundern, warum in Ihrer Kita eine dermaßen helle Beleuchtung eingebaut wurde, die alles andere als gemütlich ist und die sich niemand im Wohnzimmer wünschen würde: Jeder Kindergarten wurde auf der Grundlage der »Arbeitsstättenverordnung« so ausgestattet, weil die Erzieherin bei ihrer Arbeit angeblich so viel Licht braucht wie die Goldschmiedin oder der technische Zeichner.
Eine Kinderärztin trägt bei der Untersuchung eines Kindes Einmal-Handschuhe, um hygienische Gefahren auszuschließen, die bei kranken Kindern vorhanden sind. Eine Mutter tut das beim Wickeln ihres Kindes üblicherweise nicht, weil solche Gefahren zu Hause kaum bestehen. Wo ist jetzt die Erzieherin einzuordnen? Der Bürokrat sagt ihr: »Euer Wickelraum ist in Wirklichkeit eine Arztpraxis: Alle Kinder dort sind wahrscheinlich krank und Infektionen schutzlos ausgeliefert. Und dass du im Einzelfall entscheidest, wann Handschuhe besser wären, glaube ich dir sowieso nicht.« Im Vertrauen gesagt: Bürokratisches Vorgehen ist oft von Misstrauen geprägt.
Wenn Musikstücke öffentlich aufgeführt werden, sind Gebühren fällig, die den Komponisten beziehungsweise Textern zugutekommen. »Das droht nun auch Kindergärten. Zwar folgt das Vorhaben, künftig auch für dort gesungene und zuvor kopierte Lieder Gema-Gebühren zu verlangen, der Logik des Urheberrechts, absurd ist es aber trotzdem. Es kann ja nicht sein, dass für jedes Singen der ›Si-Sa-Singemaus‹ Geld bezahlt werden muss. Damit wird die deutsche Bürokratie mal wieder auf die Spitze getrieben. Zumal die Forderung der Gema völlig an der Realität vorbeigeht.«1
Als nächstes Thema droht schon die Kennzeichnungspflicht für Lebensmittel: »Egal ob beim Bäcker, Metzger, im Restaurant, im Supermarkt oder in der Eisdiele - Allergiker erfahren künftig auch bei unverpackten Lebensmitteln, in welchen Produkten potenziell allergene Zutaten enthalten sind.«2 Ich stelle mir schon die Zettelreihen am Frühstücksbüffet im Kindergarten vor. Selbstverständlich gibt es Kinder, die gegen bestimmte Zutaten allergisch sind. Deren Eltern lesen dann auch sorgfältig die Zettel im Lebensmittelgeschäft. Im Kindergarten aber ist das Unsinn, weil die Eltern dort nicht mal eben einkaufen, sondern sich mit der Einrichtung auf Dauer darauf verständigen müssen, was ihr Kind zu essen bekommt und was nicht. Immerhin: »Bundesminister Schmidt stellt noch einmal klar, dass der von Eltern gebackene Kuchen für den Kindergeburtstag nicht mit einer Allergenkennzeichnung versehen werden muss. […] In Zweifelsfällen liegt es im Ermessen der zuständigen Kontrollbehörden der Bundesländer, im Einzelfall zu entscheiden, ob eine Kennzeichnungspflicht vorliegt oder nicht.«3 Ehrlich gesagt: Beruhigt bin ich nicht, wenn ich mir überlege, was die »Kontrollbehörden« aus dieser Steilvorlage machen werden.
»Das ist jetzt aber dein Problem!«, sagt der Bürokrat gelassen
In einer Sitzung des »Runden Tisches« zum Übergang vom Kindergarten zur Schule schildern die beteiligten Fachleute den Ablauf des »Verfahrens zur Feststellung eines besonderen Förderbedarfs« und betonen den Stellenwert der vielen einzelnen Schritte. Anschließend meldet sich ein betroffener Vater zu Wort und würdigt die Bemühungen der Fachleute. Allerdings hat die Komplexität des Verfahrens dazu geführt, dass seine Frau und er den Bescheid erst eine Woche vor Beginn des neuen Schuljahrs erhalten haben. Deshalb bestand keine Chance mehr, sich um die Aufnahme ihrer Tochter in derjenigen Schule zu bemühen, die sie sich gewünscht hatten.
Rund um den Tisch herrscht Betroffenheit - das war den Fachleuten nicht bewusst. Jetzt könnten Änderungen besprochen werden, die das Verfahren beschleunigen. Vielleicht aber stellen sich die Fachleute auf den Standpunkt, dass es »leider, leider« nicht anders geht und beharren auf einem Verfahren, obwohl aus anderer Perspektive viel dagegen spricht. Das zu ändern, setzt das Bemühen voraus, andere Interessenlagen überhaupt kennenzulernen; insofern war der beschriebene »Runde Tisch« schon ein Fortschritt. Das ist aber selten - meistens bleibt alles, wie es war. Trotzdem: Seien Sie unbequem, sagen Sie immer, wie problematisch sich ein Sachverhalt aus Ihrer Perspektive darstellt.
»Das haben wir schon immer so gemacht!«, beharrt der Bürokrat
Manchmal sieht die Bürokratie nicht, dass heute etwas problematisch sein kann, was gestern vielleicht noch »passte«. Und so gibt es dann Aufnahmeverträge immer noch ausschließlich in deutscher Sprache. Dann wird der Caterer nicht gewechselt, obwohl es in letzter Zeit Beschwerden gab.
Manchmal fahren Bürokraten umgekehrt mit der Postkutsche über die Autobahn und übersehen, dass es heute andere Möglichkeiten gibt als früher. Dann lautet der Spruch: »Das haben wir ja noch nie so gemacht!«
»Irgendwas machst du immer falsch!« − Zwickmühlen schaffen, die hohe Schule der Bürokratie
Bei einem Thema wie »Ernährung und Gesundheit« sind bürokratische Spitzenleistungen möglich. Einerseits verlangen die Kita-Gesetze zu Recht, dass in jeder Tageseinrichtung für Kinder Mahlzeiten bereitgestellt werden, andererseits wird genau das mit Hygienevorschriften immer schwieriger gemacht. Dass Kinder sich an der Zubereitung von Mahlzeiten beteiligen, ist fast schon unmöglich. Natürlich ist es nachvollziehbar, dass die Gäste eines Restaurants nicht in der Küche herumspazieren sollten; bei einem Kindergarten, der schließlich einen Bildungs- und Erziehungsauftrag hat, ist dieselbe Vorschrift allerdings fragwürdig. Liebe Hygieniker: Nehmt bitte zur Kenntnis, dass »Ernährung und Gesundheit« auch verpflichtende Bildungsthemen sind. Sollen wir den Kindern vielleicht Videos vom Kochen und Backen vorführen? Hier entsteht eine »bürokratische Zwickmühle« durch Bestimmungen, die jeweils für sich betrachtet vielleicht noch einsichtig sind, uns aber zusammen entweder zur Weißglut oder in die Resignation treiben.
»Es könnten in China ja auch zwei Säcke Reis umfallen!« − Bedenken auf die Spitze treiben
In Verwaltungen gibt es die inoffizielle Amtsbezeichnung »Oberbedenkenträger«, eine Vorstufe ist der »Beckenrandschwimmer«. Beide verhindern sinnvolle Dinge durch Bedenken, die nicht stichhaltig sind. Ein Bürgermeister hat kürzlich seinen Kitas tatsächlich verboten, Spenden eines Wohlfahrtsverbands anzunehmen. Seine Begründung: Wegen Spenden eines Möbelhauses an einen Verein beziehungsweise einen Fußballclub ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen »Vorteilsnahme für Dritte«. Der Unterschied zwischen einem Wohlfahrtsverband und einem Möbelhaus spielte daraufhin für ihn offenbar keine Rolle mehr.4
»Vorsichtshalber« werden bürokratische Abläufe eingeführt, um auf jeden Fall »auf der sicheren Seite« zu sein. Das wird manchmal selbst den Fachleuten zu viel; eine Arztpraxis hat sich zum Beispiel gegen die »Attesteritis« gewehrt: »Immer wieder sind Kopfläuse Thema in Kindergärten und Schulen. Immer gibt es Äußerungen, die Maßnahmen empfehlen, die absolut übertrieben sind. Besonders was die Empfehlungen zur Umgebungsbehandlung (Bettwäsche, Kuscheltiere) angeht, ist Zurückhaltung angesagt. Auch die Frage der Atteste zum Schul- oder Kindergartenbesuch ist eindeutig zu beantworten: Ein Attest ist zumindest beim einmaligen Befall nicht notwendig. Nach der Behandlung kann die Gemeinschaftseinrichtung ohne ärztliches Attest wieder besucht werden.«5
»Verschriftliche dein Leben!«, fordert der Bürokrat
Kindergärten müssen immer mehr Dinge dokumentieren, immer mehr Daten sammeln und übermitteln. Viele Einrichtungen sollen inzwischen die täglichen Aufenthaltszeiten jedes Kindes detailliert in Listen festhalten. Dabei wären doch ein Elektronik-Chip im Ohr jedes Kindes und ein Scanner im Eingangsbereich viel praktischer, oder?
Vor etwa 15 Jahren griffen in den Kommunalverwaltungen die »Neuen Steuerungsmodelle« um sich, die eine einfachere Verwaltung und flache Hierarchien versprachen. Bei näherem Hinsehen bestand der Trick darin, dass Verwaltungsabläufe wie das Einholen von Angeboten, die Abwicklung von Bestellungen oder die Inventarisierung den Einrichtungsleitungen übertragen wurden. So reizvoll es ist, Abläufe »in der Hand« zu haben und zum Beispiel über die Inanspruchnahme von Fortbildungen selbst entscheiden zu können: Es erhöht den Verwaltungsaufwand und kostet wertvolle Arbeitszeit.
Damit die Sache nicht zu einfach wird, fungiert beim Dokumentieren der Datenschutz als Gegenspieler: Es soll eben nicht alles dokumentiert werden, angeblich um Persönlichkeitsrechte Betroffener zu schützen. Zugegeben, Datenschutz ist wichtig, nicht jeder soll wissen, wo ich mich im Verlauf des letzten Monats überall aufgehalten und mit wem ich telefoniert habe. Was aber soll in einer Kita zu Recht geschützt werden? Ist die Information gefährlich, dass Marie oder Felix im Kindergarten XY waren und an einem naturwissenschaftlichen Projekt teilgenommen haben? Müssen wir wirklich bald auf Portfolio-Bildern Gesichter unkenntlich machen?
»Das wollen wir doch mal sehen, ob das wirklich geht!«, sagt der Bürokrat
Herzlichen Glückwunsch: Sie haben einen »Vorleseopa« gefunden, mit ruhigem Temperament, viel Zeit und einer kräftigen, tiefen Stimme. Sie besorgen einen großen, eindrucksvollen Ohrensessel für ihn, müssen ihm allerdings noch schnell ein halbes Pfund Papier in die Hand drücken: Versicherungsfragen müssen ebenso geklärt werden wie die Abrechnung von Fahrtkosten. Vielleicht braucht er ein Gesundheitszeugnis? Ein Führungszeugnis wäre auch nicht schlecht … Und weg ist der »Vorleseopa«, Bürokratie hat mal wieder eine gute Idee abgewürgt!
Alles Gute!
Kindertageseinrichtungen sind umzingelt von Bürokratie und immer neuen Dingen, die sich auf dem Weg dorthin befinden. Lassen Sie sich trotzdem nicht unterkriegen! Nehmen Sie’s notfalls mit Humor, sofern das noch geht. Ich wünsche Ihnen alles Gute …
Prof. Dr. Rainer Strätz
Ehemals Lehrtätigkeit im BA-Studiengang »Pädagogik der Kindheit und Familienbildung«, Fachhochschule Köln - Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften.
Anmerkungen
1 http://www.volksfreund.de/nachrichten/kolumnen/kommentare/Kommentare-Absurde-Buerokratie;art158795,2642285 am 16.10.2015
2 http://www.moehrings.de/LMIV-Allergenmanagement/aktuelles-neues-zum-thema am 17.10.2015
3 Ebd.
4 http://www.maz-online.de/Lokales/Teltow-Flaeming/Spendenverbot-fuer-Volkssolidaritaet am 15.10.2015
5 http://www.kinder-und-jugendarztpraxis-reinheim.de/?page_id=214 am 22.10.2015