Titelthema
Wolkig bis trüb?
Zwei Dinge vorweg: Das Ziel einer Erziehungs- und Bildungspartnerschaft mit Eltern bleibt auch dann bestehen, wenn es nicht leicht, nicht immer oder nicht gleich zu erreichen ist. Und: Viele Eltern haben heute viel um die Ohren, stehen unter Dauerstress, sind oder wirken überfordert. Viele brauchen Hilfe, nur ein Teil holt sie sich selbst, der andere Teil nicht. Auch diese Eltern im Blick zu haben und ihnen Unterstützung und Beratung anzubieten, war die bedeutsame Idee der »Familienzentren«. Sofern sie personell und finanziell angemessen ausgestattet sind, können sie viel Gutes tun.
Die Eltern gibt es nicht. So wie zehn Prozent der Eltern neunzig Prozent der Vorarbeiten für das nächste Sommerfest leisten, sorgen zehn Prozent der Eltern mit ihren Verhaltensweisen und Erwartungen für neunzig Prozent des Gesprächsstoffs. Unser Gedächtnis stellt uns allerdings die Falle, dass besondere und schwierige Ereignisse besonders gut und lange haften bleiben.
Weil es die Eltern nicht gibt, ist es auch schlicht unmöglich, es allen recht zu machen, weil die einen oft das Gegenteil von dem möchten, was die anderen erwarten. Spätestens dann muss die Einrichtung den eigenen Weg finden und begründen. Damit sich völlig unterschiedliche pädagogische Grundeinstellungen aber erst gar nicht begegnen, sind ausführliche Informationen und Gespräche über die Einrichtungskonzeption schon vor der eventuellen Aufnahme des Kindes so wichtig.
Einzelne Eltern kümmern sich überhaupt nicht oder zu wenig um ihr Kind, um seine Entwicklung und manchmal sogar um sein Wohlergehen. Die »Frühen Hilfen« können inzwischen im Vorfeld vieles bewirken. Jedes Kita-Team versucht, einem so vernachlässigten Kind zusätzlich zur Familie einen Raum anzubieten, in dem es Verlässlichkeit, Zuwendung und Vertrauen erfahren kann. Manchmal ist trotzdem die Frage, ob das Wohl des Kindes gefährdet ist; für die Kita gibt es dann festgelegte Verfahrensweisen gemäß § 8a SGB VIII. Allerdings gibt es auch subtile Formen der Vernachlässigung, die besonders schwer zu (be-)greifen sind; zum Beispiel Eltern, die ihrem Kind in emotionaler Kälte begegnen und ihm so Vertrauen und jede Sicherheit nehmen. Mit solchen Eltern als Anwältin des Kindes zu sprechen, ist schwierig genug.
Andere Eltern würden sich aus ihrer Aufgabe der Erziehung am liebsten verabschieden und es der pädagogischen Fachkraft überlassen, Grenzen zu setzen oder an Regeln zu erinnern. Manchmal wird ihr geschmeichelt (»Sie sind die Fachfrau, Sie können das doch viel besser.«), manchmal verschwinden die Eltern einfach und stellen die pädagogische Fachkraft vor vollendete Tatsachen. Öfter wird das Verhalten zu begründen versucht: »Wenn ich mein Kind wirklich liebe, darf ich ihm keine Grenzen setzen.« oder »Mein Kind darf doch keinen Misserfolg oder Frust erfahren.« Wer ein solches Missverständnis anspricht, zum Beispiel darauf hinweist, dass Kinder nur an Herausforderungen wachsen, kann zur Antwort bekommen: »Sie mögen ja recht haben, aber ich kann nicht anders.« An dieser eingestandenen eigenen Schwäche lässt sich arbeiten. Schwierig wird es allerdings, wenn Begründungen ins Spiel kommen wie: »Mein Kind soll selbst merken, was richtig und falsch ist.« oder »Das soll das Kind selbst entscheiden.« Selbstverständlich soll ein Kind entscheiden können, wie viel es essen oder was es anziehen möchte. Wenn es aber entscheiden soll, ob es sich im Auto anschnallen oder ob es geimpft werden will, wird ein an sich richtiges pädagogisches Prinzip überspitzt und damit wertlos gemacht, vielleicht auch nur als vorgeschobenes Argument missbraucht, um sich vor eigenen Entscheidungen zu drücken. Wenn Eltern es aber in dieser verabsolutierten Form ernst meinen - und auch das gibt es vereinzelt - setzen sie ihr Kind unter Dauerstress und machen es auch sich selbst schwer.
Fragen der Eltern ernst nehmen
Die große Mehrzahl der Eltern jedoch hat ihre Kinder im Blick, sorgt sich um ihr Wohlergehen und ihre bestmögliche Entwicklung, versucht ihnen möglichst vielfältige Anregungen zu geben und sie von Gefahren fernzuhalten. Eltern, auch eine steigende Anzahl von Vätern, verbringen viel Zeit mit ihren Kindern. Das sollten wir zunächst ohne Einschränkung und ausdrücklich würdigen. Eine zwangsläufige Folge der Sorge um das Kind ist dann auch, dass es diesen Eltern manchmal nicht leicht fällt, ihr Kind vorbehaltlos einer Tageseinrichtung anzuvertrauen. Sie wollen informiert sein, haben viele Fragen und erwarten zu Recht, dass die Einrichtung sich Zeit für ausführliche Gespräche und ihre Fragen1 ernst nimmt. Vieles lässt sich manchmal überraschend schnell ansprechen und klären; schwierig wird es nur, wenn vorgefasste Meinungen nicht mehr infrage gestellt werden dürfen beziehungsweise können. Mit einer Anmeldung geben diese Eltern dann der Einrichtung einen riesigen Vertrauensvorschuss, der anerkannt werden sollte.
Wenn Eltern sich für die Entwicklungsschritte ihres Kindes interessieren, können sie auch dem Missverständnis erliegen, dass sich Kinder alle gleich beziehungsweise entlang einer Norm entwickeln. Dann sind sie besorgt, wenn ihr Kind etwas noch nicht weiß oder kann, was gleichaltrige Kinder angeblich oder tatsächlich können. Sie verwechseln Bildungsprozesse mit Wettrennen und setzen so ihr Kind und sich selbst unter Druck. Auch darüber lässt sich mit den meisten Eltern sprechen2, allerdings nicht mit allen.
Eltern haben notwendigerweise eine andere Perspektive als pädagogische Fachkräfte. Auf deren Vorwurf: »Frau Schulze denkt immer nur an ihr eigenes Kind!« lässt sich nur antworten: Woran soll Frau Schulze sonst denken? Manchmal entsteht jedoch daraus das Missverständnis: »In der Kita muss alles so laufen wie in der Familie.« Wobei sich manche Eltern wundern würden, wie schnell Kinder die beiden Lebensbereiche und die damit verbundenen Erwartungen voneinander trennen lernen und hochzufrieden damit sind, dass sie nicht identisch sind.
Ebenso selbstverständlich haben pädagogische Fachkräfte andere Aufgaben und auch eine andere Beziehung zu einem Kind als dessen Eltern. Vielleicht braucht die pädagogische Konzeption jeder Einrichtung auch einen kurzen Abschnitt mit der Überschrift: »Was wir für Sie und Ihr Kind nicht tun können.«
Die andere Perspektive von Eltern muss auch bei der formalen Elternmitwirkung ernst genommen werden. Das Wichtige dabei sind die Gelegenheiten, Standpunkte offenzulegen und zu begründen, sich mit anderen Auffassungen auseinanderzusetzen und - wo möglich - gute Kompromisse zu finden. Dieser Prozess der Aussprache und Diskussion ist wichtiger als ein formales Abstimmungsergebnis, aber nur möglich, wenn die jeweils andere Seite nicht mit fertigen Beschlussvorlagen überfallen wird.
Es gibt immer mehr Berichte über einzelne Eltern, die ihr Kind sehr genau, vielleicht zu genau im Blick haben, die sogenannten »Helikoptereltern«. Oft gehört die Überzeugung dazu, dass sich die Entwicklung eines Kindes auch mittel- und langfristig genau planen und bis ins Detail fördern lässt, verbunden mit einer Missachtung beziehungsweise Ausblendung der tatsächlich vorhandenen Interessen, Stärken und Schwächen des Kindes. Das führt zu ständiger Überwachung, Überforderung und Fremdbestimmung des Kindes, womöglich noch auf die Spitze getrieben mit dem Satz: »Ich habe dich eben lieber als andere Eltern ihre Kinder.«3 Wenn die Eltern sich hier untereinander nicht einig sind, kann das zur Belastung für die Beziehung werden und auch dazu führen, dass pädagogische Fachkräfte als »Schiedsrichterinnen« in Anspruch genommen werden.
Fünf Dinge, die bedacht werden sollten
Bei der kritischen Reflexion von Verhaltensweisen oder Äußerungen von Eltern sollten fünf Dinge bedacht werden:
• Was ist das Positive? Ein Förderverein schlug der Einrichtungsleitung vor, einen Ausflug der Fünfjährigen in einen Vergnügungspark zu finanzieren mit dem Argument, dass so vor allem den Kindern, deren Familien sich das nicht leisten können, eine solche Erfahrung ermöglicht werden könnte. Wenn zunächst ausdrücklich gewürdigt wird, dass es den Initiierenden um die Schaffung von Erfahrungsmöglichkeiten und um in dieser Hinsicht benachteiligte Kinder ging, dann lässt sich anschließend auch die Frage besser diskutieren, ob es ein Besuch im Vergnügungspark sein muss.
• Wo kommt der Druck her? Manche Eltern erleben heute viel Stress. Und so wollen sie vielleicht ihr Kind mit Fieber in der Einrichtung abgeben, weil sie glauben, pünktlich am Arbeitsplatz erscheinen zu müssen. Das muss klar angesprochen und an die Möglichkeit erinnert werden, sich bei einer Krankheit des Kindes beurlauben zu lassen. So stellt sich dann gegebenenfalls auch heraus, dass das Argument nur vorgeschoben war.
• Um wen geht es wirklich? Wenn Eltern sagen: »Meine Tochter kann sich nicht von mir trennen!«, kann es manchmal sein, dass es tatsächlich den Eltern schwerfällt, Abschied zu nehmen.
Die sachliche Feststellung des Kindes: »Du kannst jetzt gehen!«, ist dann keine Erleichterung, sondern eine emotionale Belastung. Eltern, die sich so verhalten, leiden oft selbst unter ihrem Verhalten, können es aber nicht von selbst ändern. Nur wenn das wertschätzend, aber klar angesprochen wird, können Änderungen angestoßen werden.
Manche Eltern erwarten von ihrem Kind, dass es all das erreicht, was sie selbst nicht erreicht haben. Daraus folgen unrealistische Erwartungen, die deshalb so unerbittlich verfolgt werden, weil es gar nicht um das Kind geht, sondern um die unbewältigte Biografie der Mutter oder des Vaters. Kritisch wird es immer, wenn Eltern nicht mehr in der Lage sind, zwischen sich und dem Kind zu trennen, und alles, was dem Kind widerfährt, als persönlichen Affront wahrnehmen (»Wie stehe ich denn da?«). Manchmal zählt nur noch die eigene Perspektive: »Ich weiß am besten, was gut ist für mein Kind.«
• Wer hat wovor Angst? Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Manche Eltern fürchten, dass ihrem Kind etwas Schlimmes passieren könnte, dass es Anforderungen nicht gewachsen ist oder sich nicht optimal entwickelt. Oft spielen hier schlechte »Elternratgeber« eine Rolle. Und so entstehen Überbehütung und ständige Bevormundung. Für die zahlreichen und manchmal skurrilen Anweisungen und Verbote kommen dann Rationalisierungen und vorgeschobene Gründe ins Spiel. Manchmal können einem nicht nur die betroffenen Kinder, sondern auch die Eltern leidtun. Leider lässt sich über Ängste schlecht reden, mso dass Versuche, diese Dinge zu klären, nur selten erfolgreich sind.
• Was hätten wir anders machen können? Haben wir die Eltern mit bestimmten Maßnahmen und Veränderungen überfallen, sie damit in Schwierigkeiten gebracht? Haben wir unsere Absichten und Erwartungen zu wenig begründet? Haben wir nicht zugehört, Einwände und Wünsche einfach »abgewimmelt«?
Unfairen Verhaltensweisen begegnen
Pedanten und Perfektionisten machen ein Gespräch immer schwierig; die gelbe oder die rote Karte müssen allerdings unfaire Verhaltensweisen beziehungsweise Gesprächstechniken bekommen:
Gelbwürdige Fouls beginnen mit Überrumpelungsversuchen (»Das ist ja richtig. Aber können Sie nicht bei meinem Kind eine Ausnahme machen?«) und gehen weiter mit Behauptungen, die auf falschen und bruchstückhaften Informationen beruhen, oder mit der Technik, das Gegenüber vor vollendete Tatsachen zu stellen. In diesen Fällen heißt es: Respektvoll, aber klar ansprechen, deutlich machen, dass es so nicht gehen sollte. So etwas muss einmal geklärt werden, damit es nicht zu einer ewigen Geschichte wird.
Die rote Karte verdienen Fouls wie: sich aufspielen oder auftrumpfen (»Der Kunde ist König« oder »Dafür werden Sie doch bezahlt«), Verantwortung verschieben (»Ich mache mein Problem zu deinem«), dem Gegenüber etwas vorwerfen, das sie/er nicht ändern kann, Drohungen, Provokation, Spott, Beleidigungen. Noch übler sind Fälle, in denen Eltern das direkte Gespräch scheuen und sich sofort beim Träger, womöglich noch beim (Landes-)Jugendamt beschweren. Hier muss ruhig, aber glasklar angesprochen werden, dass Sie so nicht behandelt werden wollen. Je nach Reaktion kann anschließend aber auch ehrlich gemeint gesagt werden: »Schwamm drüber.«
Übrigens: Wer zu solchen Tricks greift, traut seinen eigenen Argumenten nicht besonders und ist auch nicht die stärkste Persönlichkeit. Solche Verhaltensweisen zeigen Eltern nicht nur gegenüber pädagogischen Fachkräften, sondern auch untereinander, im Bekanntenkreis oder in beruflichen Bezügen; fragen Sie beispielsweise Lehrkräfte, Rettungskräfte, ärztliches Personal in der Notaufnahme oder Servicekräfte. Trotzdem können sie Sie manchmal an Ihre Grenzen bringen. Dann hilft es vielleicht auch nicht mehr, sich zu verdeutlichen, dass es nicht um alle Eltern, sondern um wenige Fälle geht, dass oft Probleme, Schwächen und Ängste dieser Eltern dahinterstecken und dass aus Schwäche auch grob unfaire Techniken angewandt werden. Solche Fälle müssen offensiv geklärt werden, indem Team, Leitung und Träger an einem Strang ziehen.
Prof. Dr. Rainer Strätz
Ehemals Lehrtätigkeit im BA-Studiengang »Pädagogik der Kindheit und Familienbildung«, Fachhochschule Köln - Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften.
Literatur
• Greiner, Lena/Padtberg, Carola (2017): Verschieben Sie die Deutscharbeit - mein Sohn hat Geburtstag! Von Helikopter-Eltern und Premium-Kids; Berlin: Ullstein
• Greiner, Lena/Padtberg, Carola (2018): Ich muss mit auf Klassenfahrt - meine Tochter kann sonst nicht schlafen! Neue unglaubliche Geschichten über Helikopter-Eltern: Berlin: Ullstein
• Haug-Schnabel, Gabriele/Bensel, Joachim (2006): Kinder unter 3 - Bildung, Erziehung und Betreuung von Kleinstkindern (kindergarten heute spezial); Freiburg: Herder
• Laewen, Hans-Joachim/Andres, Beate/Hédervári-Heller, Éva (2012): Ohne Eltern geht es nicht. Die Eingewöhnung von Kindern in Krippen und Tagespflegestellen; Berlin: Cornelsen
• Largo, Remo H. (2019): Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren; München: Piper
Anmerkungen
1 Zu den »Fragen des Anfangs«, die Eltern innerlich an ihr Kind richten, gehören übrigens nicht nur: »Wirst duohne mich zurechtkommen?« und »Wird es dir hier gut gehen?«, sondern auch: »Wirst du mich vermissen?« und »Wirst du die Erzieherin vielleicht lieber mögen als mich?« (Laewen/ Andres/Hédervári 2012) Schon wegen dieser großen Betroffenheit sind Eltern keine »Kunden« einer Kindertageseinrichtung.
2 Dabei können eindrucksvolle Grafiken helfen, die die gewaltige Streubreite von einzelnen Entwicklungsschritten zeigen (zum Beispiel bei Haug-Schnabel/Bensel 2006 oder Largo 2019).
3 Lena Greiner und Carola Padtberg haben viele Beispiele für das »Helikoptern« gesammelt und veröffentlicht.