Titelthema
Diskriminierung erkennen und entgegenwirken
Was ist Diskriminierung? Wo beginnt Ausgrenzung? Was können wir tun, um Diskriminierungen in der Kita zu verhindern? Nuran Ayten und Tajan Ringkamp geben Antworten.
Bei uns werden alle Kinder gleichbehandelt«, ist ein gängiges Arbeitsmotto in vielen Kitas. Dieser gut gemeinte Satz soll meistens ausdrücken, dass kein Kind »vergessen« wird. Dahinter steht vielleicht die Vorstellung, die Kita könne frei sein von sozialer Ungleichheit und den sie umgebenden diskriminierenden Verhältnissen. Doch die Kita als öffentlich verantwortete Institution ist Teil der Gesellschaft: »Bildung findet unter Bedingungen von Ungleichheit statt. Darüber sind sich inzwischen sämtliche politische und wissenschaftliche Positionen durch die Bank weg einig. Die Realität von Ungleichheitsverhältnissen beeinflusst daher wesentlich die Bedingungen frühkindlicher Bildung.« (Eggers 2012, S. 1)
Die bereits genannte Absicht »Wir behandeln alle gleich« kann Kinder nicht vor Diskriminierung schützen. Wenn wir uns die Arbeit in Kitas anschauen, wird deutlich, dass pädagogische Fachkräfte sehr schnell an Grenzen stoßen. Dies zeigt sich zum Beispiel darin, dass ein Kind mit Be_Hinderung1 nicht aufgenommen werden kann, weil es seit Jahren kein Geld für einen Fahrstuhl gibt. Oder dass Kinder sich nicht an der Essensplanung beteiligen dürfen, weil der Cateringservice sich weigert, mit der Kita zusammenzuarbeiten. Bestimmte Familien kommen nicht zum Elternabend, weil sie die Sprache, die dort zumeist gesprochen wird, nicht verstehen und sie nur in dieser Sprache angesprochen werden. Manche Kinder müssen mittags abgeholt werden, weil ihre Familien das Essengeld nicht bezahlen können und die Kita wiederum kein Mittagessen für die Kinder finanzieren kann.
Was an diesen Beispielen deutlich wird: Diskriminierung findet auch in der Kita auf verschiedenen Ebenen statt - auf struktureller, einrichtungsbezogener, personaler und diskursiver Ebene (Fachliteratur, Redewendungen, Kinderbücher). Diskriminierung zeigt sich in den medialen Repräsentationen von Menschen (Abbildungen in Büchern, in Materialien …) und auch in pädagogischen Theorien, Konzepten und Aushandlungen. Dabei werden Zuschreibungen konstruiert, entlang geschlechtlicher und sexueller Vielfalt, rassifizierter Merkmale, Herkunft, Sprachen, Religionen, Alter, Be_Hinderungen, sozialem Status und so weiter. Die Zuschreibungen enthalten Bewertungen darüber, wer als »normal« und zugehörig gilt und wer nicht. Mit den bewertenden Zuschreibungen werden Benachteiligungen und Ausschlüsse von Menschen gerechtfertigt, wie auch die Privilegien und Bevorzugungen von anderen. Sie bestätigen die soziale Ungleichheit und festigen bestehende Machtverhältnisse.
Um daran etwas zu ändern, braucht es ein Wahrnehmen von gesellschaftlichen Ungleichverhältnissen in der Kita, das Erkennen der eigenen Verwobenheit in ebendiese sowie eine genaue Analyse der Ausschlussmechanismen und letztendlich ein entschiedenes Entgegentreten. Nachfolgend möchten wir beispielhaft auf einzelne Diskriminierungsebenen, die nicht immer eindeutig voneinander zu trennen sind, etwas genauer eingehen.
Zugangshürden: Nicht alle Kinder kommen in die Kita
Zugang zu Bildungsinstitutionen zu haben, ist für alle Kinder und ihre Familien wichtig. Hier werden meist die ersten Erfahrungen mit einer öffentlichen Betreuungsinstitution gemacht, in welcher demokratische Werte in der Gruppe erprobt werden und Kinder in allen sie betreffenden Belangen beteiligt werden sollen. Seit 2013 gibt es einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz ab dem ersten Lebensjahr, doch demgegenüber stehen die fehlenden Plätze sowie der vorhandene Fachkräftemangel2. Des Weiteren zeigen sich bei der Vergabe der begrenzten Plätze diskriminierende Strukturen.
Im Positionspapier »Zugänge zu Kindertagesbetreuung. Eine Betrachtung aus kinderrechtlicher Perspektive« der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) werden Zugangshürden wie Kosten, Sprachkenntnisse, bürokratische Anmeldeprozeduren, Anmeldefristen, Wartelisten oder auch eine geringe Offenheit gegenüber den Familienkulturen benannt (vgl. AGJ 2018, S. 4).
Der 14. Kinder- und Jugendbericht bestätigt, dass die meisten Betreuungsangebote auf »Mittelschichterwartungen und Habitus« zugeschnitten sind und somit Eltern und Bezugspersonen mit sich unterscheidenden Bedürfnissen und Zugängen nicht berücksichtigt werden (vgl. BMFSFJ 2013, S. 247). Die Bevorzugung erwerbstätiger Eltern/Bezugspersonen bei der Platzvergabe führt zu einer gleichzeitigen Benachteiligung von Menschen, die in Armutslagen leben. An den Zugangshürden bezüglich des sozioökonomischen Status hat sich bis heute leider nichts Maßgebliches geändert (vgl. BMFSFJ 2020, S. 156).
Wie und wer wird über Betreuungsangebote informiert?
Nach wie vor wird in der Kita-Landschaft vorausgesetzt, sich mit dem hiesigen Bildungssystem und den meist einsprachigen, Anmeldeverfahren auszukennen. Dies stellt für manche gesellschaftliche Gruppen ein Hindernis dar, unter anderem werden Familien mit Fluchterfahrung und deren Lebensrealitäten hierbei nicht berücksichtigt (vgl. Baisch et al. 2016, S. 28). Je nach Region verläuft die Platzvergabe hauptsächlich über Online- oder Nachweisverfahren, das heißt, eine bestimmte Anzahl an abgelehnten Plätzen muss nachgewiesen werden, um über ein Nachrückverfahren einen Kita-Platz zu bekommen. Mit dem Titel »Ein leeres Versprechen« wird anschaulich die langwierige, einjährige Suche nach einem Kita-Platz für ein vierjähriges Kind mit den zahlreichen Hürden beschrieben (vgl. Kutter 2020). Ausharren, dranbleiben, immer wieder anrufen, sich vorstellen, nachfragen, Fristenregelungen beachten, lautet die Devise. All das müssen Familien wissen und umsetzen können. Hinzu kommt, dass bereits erlebte Benachteiligungen in der eigenen Bildungsbiografie oder mangelnde Offenheit der pädagogischen Fachkräfte gegenüber den unterschiedlichen Familienkulturen ebenfalls zu Barrieren werden. Nach welchen Kriterien werden Kita-Plätze an welche Familien vergeben? Gibt es Ausschlüsse beim Zugang zur Kindertagesbetreuung, zum Beispiel über das Anmeldeverfahren? Diese Fragen gilt es diskriminierungskritisch zu betrachten.
Die Rolle, die Träger und einzelne Einrichtungen bei der Vergabe von Plätzen spielen, muss diskriminierungskritisch betrachtet werden, um Ausgrenzungsmechanismen auf struktureller und institutioneller Ebene zu erkennen. Hilfreiche Prüffragen können sein: Nach welchen Kriterien werden Kita-Plätze an welche Familien vergeben? Wie viele Plätze werden vorgehalten? Gibt es Ausschlüsse beim Zugang zur Kindertagesbetreuung, zum Beispiel über das Anmeldeverfahren?
Klinkhammer und Erhard (2018) empfehlen, dass die Vergabe von Betreuungsplätzen transparent gemacht werden müsste und dass auch die unterschiedlichen Vielfaltsaspekte der Kinder und deren Familien mehr Berücksichtigung finden sollten. Eine auf den Abbau der sozialen Ungleichheit gerichtete Platzvergabe müsste flächendeckend und bundesweit angewendet werden.
Diskriminierung von Kindern in der Kita
Erfahrungen mit Be- und Abwertungen können sich in vielen Handlungen und Routinen im Kita-Alltag zeigen, zum Beispiel
• wenn einem Kind, dessen Familiensprache Arabisch ist, gesagt wird: »Du kannst noch nicht richtig sprechen!«;
• wenn eine pädagogische Fachkraft eine Gruppe von Kindern anschaut und sagt »Jetzt brauche ich drei starke Jungs, die mir helfen, den Tisch zu tragen!«;
• wenn Kinder hören: »Du hast aber einen schwierigen Namen«3;
• wenn Kinder sich mit ihrem Erscheinungsbild nicht in den Materialien und in den Räumen wiederfinden können;
• wenn Aylin in den Kinderbüchern nie ihre Familienkonstellation findet;
• wenn Max, der im Rollstuhl sitzt, oft nicht mitspielen darf;
• wenn Leon immer wieder hört, dass nicht mit den Händen gegessen wird.
Kinder haben feine Sensoren für Abwertungen. Sie verknüpfen ihre Beobachtungen mit Bewertungen. »Sie erfahren über sich und andere, dass es weitere Aspekte gibt, die die Machtverhältnisse zwischen Menschen/Gruppen von Menschen bestimmen, wie körperliche Beeinträchtigungen, der Hautton, das Geschlecht, Sprache(n) und so weiter, und erproben diese in ihren Aushandlungsprozessen beziehungsweise erleben, wie diese Aspekte Beziehungen nachteilig oder zum Vorteil beeinflussen können.« (Krause 2018, S. 24)
Die Erfahrung, mit Verweis auf ein Merkmal ausgegrenzt oder benachteiligt zu werden, ist extrem belastend für die betroffenen Kinder. Für alle anderen Kinder bedeutet es, dass es an diesem Ort keinen Schutz davor gibt. Mit Blick auf das Wohl der Kinder, ihre positive Identitätsentwicklung und ihre Freude am Lernen ist es Aufgabe von Erwachsenen, sich konsequent für die Beseitigung von Diskriminierungen im Kita-Alltag einzusetzen.
Selbstreflexion: Woran erkenne ich eigene diskriminierende Verhaltensweisen?
Unsere Erfahrungen mit dem Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung in Kitas machen deutlich, dass es möglich ist, diskriminierende Praxis zu reflektieren und abzubauen. Durch Fragestellungen wie die nachfolgenden können Sie Ihre Praxis diskriminierungskritisch in den Blick nehmen:
• Wissen wir, dass wir unsere eigenen Familienkulturen, unsere Werte und Normen in die Kita mitbringen und dass sie unsere berufliche Praxis beeinflussen?
• Reflektieren wir, wie sich unsere Erfahrungen mit Privilegien und Benachteiligungen auf unsere berufliche Praxis auswirken?
• Diskutieren wir im Team über diskriminierende Situationen in der Kita, die wir oder andere beobachtet haben?
• Berichten wir im Team von gelungenen Aktivitäten gegen Diskriminierung?
• Reflektieren wir im Team die Aktivitäten für Gerechtigkeit, die Kinder langfristig stärken? (vgl. ISTA 2016, S. 46, 81, 153)
»Wir müssen das gemeinsame Ziel, Gerechtigkeit für alle Kinder der Einrichtung, im Auge behalten, es in Abgleich mit existierenden Strukturen bringen und vorurteilsbewusstes Arbeiten nicht als zusätzliches Konzept verstehen, sondern als Basis, die es uns erlaubt, alle zu beteiligen und selbst beteiligt zu werden. Es benötigt die Bereitschaft jedes*r Einzelnen, sich auf den Weg zu machen, die eigenen Verstrickungen in ungleiche Machtverhältnisse zu erkennen und sie im persönlichen beruflichen Einflussbereich zu verändern.« (Richter 2019, S. 20)
Eine Literaturliste kann über die Redaktion (wdk@caritas.de) angefordert werden.
Nuran Ayten
Erzieherin, Fachkraft für Integration, Sozialarbeiterin (BA), Praxisforschung für Pädagogik (MA), Referentin für den Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung, Ko-Projektleitung »Kompetenznetzwerk Demokratiebildung im Kindesalter«.
Tajan Ringkamp
Erzieher*in, Erziehungswissenschaftler*in mit Schwerpunkt Gender Studies (MA), Multiplikator*in für den Ansatz Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung, Referent*in im »Kompetenznetzwerk Demokratiebildung im Kindesalter«.
Anmerkungen
1 Durch die Schreibweise des Worts BE_Hinderungen soll auf die gesellschaftlichen Ausschlüsse und Barrieren verwiesen werden, die Kinder und Erwachsene mit BE_Hinderungen erfahren.
2 Bis 2025 wird ein Fachkräftemangel von bis zu 329000 Personen für die Kindertages- und Grundschulbetreuung erwartet (vgl. AGJ 2018).
3 Zur Vertiefung: Fragner, Nello (2018): KiDs aktuell - Say my name! Für einen vorurteilsbewussten Umgang mit den Namen von Kindern und Familien, Hrsg.: KiDs - Kinder vor Diskriminierung schützen! Fachstelle Kinderwelten/Institut für den Situationsansatz/INA Berlin gGmbH, Ausgabe 2/2018 online abrufbar: www.situationsansatz.de/publikationen/kids-aktuell-say-my-name/