Titelthema
Von drinnen nach draußen und zurück
Das Außengelände der Kita war gerade während der heiklen Phasen der Pandemie oft die Rettung: frische Luft, wenig Viruslast und genug Platz für Kinder, die ansonsten zu Hause in viel zu engen Räumen eingesperrt waren. Diese intensive Nutzung sollten wir unbedingt in den Nach-Corona-Alltag retten, meint Pit Brüssel. Denn draußen sind ganz andere Erfahrungen möglich als drinnen.
Montagmorgen in einer Kita in Deutschland: Das Wetter am Wochenende war durchwachsen, Wind und Sprühregen - eigentlich kein Grund, drinnen zu bleiben, denn wie haben wir doch alle gelernt: »Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung« -, aber alle Kinder kommen in die Kita mit viereckigen Augen vom vielen Genuss der elektronischen Medien und haben entsprechend einen enormen Bewegungsbedarf. An eine Entspannung im Sockenraum ist nicht zu denken - also, was tun? Na klar: ab nach draußen, und zwar sofort. Toben, rennen, hüpfen, schaukeln, klettern, in Pfützen springen und mit nassem Sand bauen, Wind im Gesicht und Regen auf der Zunge - wie toll ist das denn!
Aber es ist nicht nur das Ausleben des Bewegungsdrangs, das die Kinder endlich zu sich kommen lässt. Es ist der Raum, die Weite, dass sie sich anders erleben als in geschlossenen Räumen, die sinnlichen Erfahrungen, die hier möglich und andere sind als drinnen, und die Luft, die anders schmeckt. Wie oft habe ich schon an Frühlings- oder Herbsttagen mit Kindern die Luft entdeckt, die als Wind oder gar als Sturm daherkam und uns verblüfft hat. Man kann den Wind nicht sehen, aber fühlen und seine Wirkung beobachten, an Bäumen, an Blättern, an den Fahnen und Sonnensegeln und, wenn er besonders stark ist, auch an den fliegenden Regenschirmen und Kopfbedeckungen. Wenn wir später bei einem heißen Kakao in einer »Senfrunde« (jedes Kind kann sich äußern und »seinen Senf dazugeben«) zusammensaßen, haben wir uns dann Gedanken gemacht über unsere Erlebnisse. Dann kamen die Fragen, und es wurde unter den Kindern diskutiert, wie sich das so verhält mit dem Wind und der Luft, worin sie sich denn unterscheiden oder ob Wind nur ein anderes Wort für Luft sei.
Miri (5,5 Jahre) hatte nach längerem Hin und Her eine bemerkenswerte Hypothese: Wind sei Luft, die es eilig hat. Super, welch eine interessante Idee! Andere Kinder meinten, das könnte nicht sein, weil der Wind anders riechen würde als die normale Luft, deshalb müsse er auch etwas anderes sein. Miris Argument: Weil der Wind eilige Luft ist, also schneller ist als die normale Luft, bringt er Gerüche aus der Ferne mit (zum Beispiel von der Keksfabrik am Stadtrand) und deshalb würde er anders riechen. Das musste überprüft werden. Also: Alle noch mal anziehen und wieder raus! Nase in den Wind halten und schnuppern, welchen Geruch der Wind mitgebracht hat. Nach Keksen roch es nicht, aber die Kinder waren sicher: Heute riecht es nach Himbeeren.« Wie kann das denn sein? Luca wusste Bescheid, sein Papa arbeitet nämlich in der Marmeladenfabrik und die machten offenbar gerade Himbeermarmelade.
Das könnte jetzt so weitergehen, mit vielen Fragen, zum Beispiel wie man denn Marmelade machen kann, und da würden wir dann nach dem Rezept suchen, das Vorlese-Oma Hilde uns mal geschenkt hat - und los ginge sofort das nächste Abenteuer: Marmelade kochen!
Eine Vielzahl an Funktionsbereichen
So oder so ähnlich könnte es passieren - eine Bewegung von innen nach außen und wieder zurück im stetigen Austausch, denn das Außengelände ist nicht nur von 11 bis 12 Uhr eine fantastische Ergänzung zu unseren Funktions- oder Gruppenräumen in der Kita, sondern das Außengelände ist ein eigener Funktionsraum, oder besser: Es handelt sich beim Außengelände um eine Vielzahl von Funktionsbereichen, die zum Teil sehr schön kompatibel mit den Funktionsräumen oder Tätigkeiten der Kinder im Haus sind.
Nehmen wir zum Beispiel den Bauraum: Lego, Kapla, Schleichtiere, 400 Kaffeebecher aus Pappe oder was sich sonst so alles dort findet - alles eher handgerecht. Draußen bauen die Kinder anders: Da gibt es Einmalpaletten, Kabeltrommeln aus Holz und zwei Meter lange Dachlatten, Gerüstbretter und Kalksandsteine. Da muss man zusammenarbeiten, schon we-gen der Gewichte, aber auch weil die Sachen unhandlicher sind. Deshalb lassen sich dabei in der Gruppe andere Erfahrungen machen als drinnen mit Lego und Co. Draußen gibt es viele Probleme, die gelöst werden müssen, etwa was die Statik der Bauwerke angeht, damit es hält und nicht schon vor der Benutzung zusammenbricht, und natürlich muss der Untergrund stimmen, also eben sein. Alles Herausforderungen, die Lego den Kindern mit Bauplatten und Noppen schon abgenommen hat. Die Dimensionen sind draußen ebenfalls eine Herausforderung, weil hier sehr schnell die Arme zu kurz sind. Und dann wird eine Leiter gebraucht, die bringt die Kinder zwar näher an die Spitze ihres Turms heran, macht aber auch wieder Probleme, die gelöst werden müssen, damit sie nicht umkippt. So bemerken die Kinder recht schnell, dass Sand als Untergrund für Leitern nicht geeignet ist. Vielleicht steht die Leiter ja noch alleine auf Sand, aber wenn Kinder raufklettern, neigt sich die Leiter zur Seite und sinkt in den Sand ein. Abhilfe schafft ein Brett, das unter die Leiterfüße gelegt wird - und schon wieder ein Problem gelöst!
Andere Kinder haben sich für etwas Ruhigeres entschieden, sie sitzen mit einer pädagogischen Fachkraft im Himmelbett, genießen einige Sonnenstrahlen und lassen sich aus einem Buch vorlesen. Ruhebereiche im Außengelände? Geht denn das? Na klar, alles eine Frage von geschickter Aufteilung. Trockenhecken können da sehr hilfreich eingesetzt werden - und sind auch noch interessant für Igel, Vögel und Insekten. So kann es auch immer wieder Situationen geben im Außengelände, die nicht einsehbar sind und wo die Kinder mal unter sich sein können zum Verstecken, wo sie beobachten können, aber eben selbst nicht gesehen werden. Solche Bereiche gibt es drinnen eher weniger. Derartige Verstecke laden zu Geheimnissen ein und manchmal auch zum Träumen. Wie die Sonne durch die Blätter scheint und Lichtflecken tanzen lässt oder wie der Wind rauscht in den Bäumen - Erleben mit allen Sinnen, dazu bieten sich draußen viel mehr Möglichkeiten. Es ist eine andere, größere Welt mit vielen Herausforderungen, an denen es sich prima wachsen lässt.
Aber im Außengelände der Kita werden auch Kompetenzen getestet, die drinnen erworben wurden, zum Beispiel beim Spiel mit Wasser. Gießversuche - schon bei Maria Montessori beliebt - kriegen hier noch mal eine ganz neue Bedeutung. Wenn Wasser auf Sand trifft nämlich, stellen die Kinder sehr schnell fest, dass das Wasser im Nu verschwunden ist. Wie kann das sein? Gibt es da einen geheimen Abfluss, wie am Waschbecken, nur dass man ihn nicht sieht? Die Kinder graben nach und siehe da, sie stoßen auf Wasser unterhalb der Sandschicht. Toll! Aber warum fließt es da hin? Und dann sammelt es sich auch immer an der gleichen Stelle. Woran kann das denn liegen? Wunderbare Forscherfragen, denen die Kinder nachgehen können und auf die sie selbst eigene Lösungen finden werden. Da brauchen sie keinen »Erklärbär« oder keine Besserwisserin, das kriegen sie ganz von selbst raus. Das sind Nebenbeiexperimente, die selbsttätig und selbstwirksam sind und zu einem Selbstbewusstsein beitragen, das sich immer sicherer ist, und dann hört man die Kinder sagen: »Ich kann das, weil ich weiß schon ganz schön viel, und was ich nicht weiß, kriege ich raus, so!«
Und dann gibt es noch »ganz draußen«, jenseits des Kitageländes, also raus ins Dorf oder in den Stadtteil und mal schauen, wie es so um die Kita herum aussieht. Den »Kiez« kennenlernen, wissen, wo die Kirche ist, die Post, der Bäcker, der Dönerladen und die Currywurstbude, die Pizzeria und die Buchhandlung mit den tollen Kinderbüchern im Fenster. So lernen die Kinder ihre Umgebung kennen und bilden ihren Orientierungssinn aus.
Pit Brüssel
Künstler, Musiker, Kunstpädagoge, Fortbildungsdozent, Fachbuchautor, Kükelhausexperte.