Titelthema
Anders ist normal
Petra Evanschitzky plädiert dafür, Kinder nicht entlang einer Norm zu erfassen, sondern in jedem Kind seine Stärken zu sehen und es in seiner Eigen-Art zu begleiten.
Mein Aufreger der Woche: In einem Team-Workshop fiel in einer Nebenbemerkung der Hinweis, dass das Mädels- und Bubenturnen ja eine wirklich gute Sache sei. Das getrennte Turnen hatten die pädagogischen Fachkräfte auf Basis ihrer Beobachtungen eingeführt: »Die« Jungs wollten lieber körperlich robustere Dinge machen und Fußball spielen, »die« Mädchen waren in der Bewegungsbaustelle eher ruhiger zugange, hatten Interesse daran, szenische Elemente, also Rollenspiel, in ihre Bewegungsaktivitäten einzubauen.
Unterschiede in den Bewegungsbedürfnissen - wunderbar, dass das die pädagogischen Fachkräfte erkannt hatten! Und jetzt das große Aber: Warum die Schublade Mädchen - Jungs? Weil sich das eben häufig zeigt? Weil Jungs normalerweise lieber Fußball spielen und ein größeres Tobebedürfnis haben? Weil Mädchen normalerweise ruhiger spielen? Was heißt schon normal? Allein dieses Thema der Geschlechtsrollenstereotype, der Rollenerwartungen könnte jetzt dieses ganze Heft füllen. Es ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie aus Normvorstellungen konkretes Handeln wird und über dieses Handeln eine Norm weiterhin bedient wird, ohne sie weiter zu hinterfragen.
Und der nächste Aufreger folgte auf dem Fuß: Eine Kollegin berichtete mir, dass ein Kita-Träger sich entschieden hatte, seinen Einrichtungen einen bestimmten Beobachtungsbogen zur Entwicklungsdiagnostik vorzugeben. Die Idee: Die Aussagen der pädagogischen Fachkräfte bekommen mehr Gewicht, sei es bei Kinderärzt*innen, bei Eltern, bei Schulpädagog*innen, denn diese Aussagen beruhen dann ja auf überprüfbaren Ergebnissen.
Hier sind Irrlichter am Tanzen, die den Blick verstellen. Verhalten im Einzelfall wird an die Messlatte einer normierten Skala gelegt. Was ist, wenn diese Normierung selbst problematisch ist? Welche Daten liegen der Normierung zugrunde? Wie kamen diese zustande? Welche Aussagekraft haben sie tatsächlich?
Verhalten/Handeln wird für diese Einschätzung isoliert betrachtet. Kinder scheinen zu passiven Empfängern von Entwicklungsanreizen degradiert. Denn was sollte eine Diagnostik anderes im Sinne haben, als daraus einen Therapieplan und damit ein Trainingsprogramm für das aufzustellen, was als entwicklungsbedürftig eingestuft wurde? Diagnostik erfordert eine bewusste Isolierung von Alltagssituationen und eine Abgrenzung der verschiedenen Einflussfaktoren untereinander - sonst ist es keine Diagnostik. Ist das Aufgabe der Kita? Testsituationen zu schaffen, um herauszufinden, welche Förderung ein Kind braucht?
Es lebe der Unterschied!
Was war das Leben als Salatgurke früher doch schön! Wachsen, wie man wollte, und sich der Sonne entgegenstrecken. Doch dann kam die Verordnung Nummer 1677/88/EWG, die Norm zur Festlegung von Güteklassen bei Gurken. Vorbei war’s mit der Freiheit! Sollte unsere Gurke zur »Handelsklasse Extra« eingestuft werden, musste sie unter anderem eine Krümmung von 10 Millimetern auf 10 Zentimetern Länge nachweisen1. Die Verbände, die für diese Festsetzung gekämpft hatten, hatten durchaus Positives im Sinn. Gurken sollten in ihrer Qualität vergleichbar werden, die Festsetzung von Preisen sollte sich anhand bestimmter Gütekriterien nachvollziehen lassen. Und die Verpackungsindustrie stellte fest: Wenn alle Gurken gerade sind, lassen sich mehr davon in eine Kiste packen. Mehr Gurken in der Kiste, mehr Gurken je Transporteinheit, also günstigere Transportkosten je Gurke. Hinter der Festlegung von Normen standen also Interessen von Verbänden. Normen sind menschengemacht. Die Kriterien und Einteilungen folgen entlang bestimmter Ziele und Vorstellungen, wie etwas zu sein hat.
Nun ja, Kinder sind doch keine Gurken, und sie sollen ja nicht alle gleich werden … Oder vielleicht doch? Welchen Sinn hat es, Kinder entlang einer Norm zu erfassen? Wer definiert, was normal ist?
In einem Gespräch mit einem Ausbilder eines großen Maschinenbauunternehmens in Südwest-deutschland kamen wir auf das Thema Noten, Klassifizierung, Einschätzung von Leistungen. Er erzählte, dass das Unternehmen sich schon lange davon verabschiedet hat, sich bei der Auswahl von Auszubilden-den nur auf Noten und standardisierte Einschätzung von Schulen zu verlassen. Sie haben Assessments entwickelt, bei denen junge Menschen an komplexen Aufgaben arbeiten. Der Blick auf die jungen Menschen ist sehr breit. Das Unternehmen weiß: Die Viel-falt in den Teams erzeugt die gesamte Performance! Jede und jeder hat irgendwo seine Stärken, und die gilt es, wachzuküssen! Die Assessments schaffen den Möglichkeitsraum: Entdecke deine Leidenschaft, entdecke deine Stärke, zeige, was in dir steckt!
Richtig? Falsch? Normal? - Keine hilfreichen Kategorien!
Die Wege des Lernens sind unterschiedlich. Dafür lassen sich vielfältige Beispiele aus allen Entwicklungsfeldern bringen. Remo Largo (2010) machte es am Beispiel laufen lernen deutlich: erst robben, dann kriechen, schließlich der Vierfüßlergang und dann in die Senkrechte - oder? Eben nicht immer! Da wird der Vierfüßlergang übersprungen, andere rollen durch die Wohnung, das Rutschen im Sitzen lässt manche schneller zum Ziel kommen. Was ist hier die Norm? Und vor allem: Was sagt sie mir im Hinblick auf ein einzelnes Kind aus, das ich in seinem Lernen fördern soll?
Kinder wählen unterschiedliche Eingangstüren, durch die sie zu einem für sie wichtigen Thema vor-dringen. Wie lernt ein Kind den »richtigen« Umgang mit der Schere? Geben Sie dem Kind die Chance, es selbst herauszufinden - die »Übeschere« mit Grifflöchern für die Erwachsenenhand sollte wieder in der Schublade verschwinden, und zwar ganz tief hinten!
Bevor Sie sich Gedanken darüber machen, was Kinder lernen sollen - Achtung: Erwachsenenbrille! - sollten Sie wissen, wie Kinder lernen, wie sie selbst vorgehen, um ihre Entwicklung voranzutreiben.
Ich sehe, was ich sehen will - die Filter der eigenen Wahrnehmung
Auch wenn Sie keine Brillenträger*in sind: Sie haben eine innere Brille auf der Nase sitzen. Oder, um es nicht nur auf das Sehen zu beschränken: Ihre Sinneskanäle laufen durch den Filter Ihrer Wahrnehmung. Und Ihre Wahrnehmung ist zutiefst subjektiv. Sie können gar nicht anders als das zu sehen und zu hören, was zu Ihnen selbst passt. Der Epidemiologe Alvan Feinstein bemerkte dazu einmal: »In der Medizin hat sich nahezu jede plausible Vorstellung, die man über Jahrhunderte hinweg über Ursachen, Mechanismen und Behandlung von Krankheiten gehegt hatte, entweder als komplett falsch oder als so fehlerhaft erwiesen, dass man sie über den Haufen geworfen hat.« Und an anderer Stelle weist er darauf hin, dass auch die Wahl der Forschungsmethoden eng verknüpft ist mit dem, was Menschen an inneren Vorstellungen und Überzeugungen mitbringen: »Wenn die Ergebnisse bestätigen, was wir glauben, neigen wir Menschen in der Regel dazu, anzunehmen, dass sie richtig sein müssen. Die Forschungsmethoden müssen nicht genau überprüft werden. […] Wenn die Ergebnisse dem widersprechen, was wir glauben, müssen die Methoden falsch sein, egal, wie gut sie auf den ersten Blick wirken mögen.« (Feinstein 1985, S. 408)
»Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.« Soll das Ihre Schlussfolgerung sein? Be-vor Sie über mich herfallen oder irritiert den Kopf schütteln: Ich rede nicht davon, Kinder einfach laufen zu lassen, da, wo sie sich in Gefahr begeben. Die Unfallstatistiken im Straßenverkehr nehme ich sehr wohl ernst. Ich rede auch nicht davon, (über-)lebenswichtige medizinische Erkenntnisse in den Wind zu schlagen. Auch habe ich großen Respekt vor dem, was Therapeut*innen in aufwendigen Verfahren herausarbeiten, um Kindern bestmögliche Bedingungen zu ermöglichen, in ihrer Entwicklung weiterzukommen: Anhaltspunkte für verbesserte Lernangebote, die möglichst spezifisch für ein Kind zugeschnitten sind. Diagnostik ist ein sehr gründlich zu erlernendes Fachgebiet, das seine Berechtigung hat. Es kommt jetzt kein Aber. Dies hier ist ein klares Ja zur Arbeit von Frühförderstellen, sozialpädiatrischen Zentren und ähnlichen Anlaufstellen. Und: Das ist nicht der Job von pädagogischen Fachkräften in Kitas. Weder die Diagnostik noch die gezielte therapeutisch begründete Förderung. Diese Art Einschätzung im Kontext Kita führt zu einem Tunnelblick und verstärkt sowieso das, was wir Menschen machen: Attributionsfehler. Wir sehen das, was wir wollen und was wir bestätigt haben wollen. Ein trauriges Beispiel dafür ist eine spöttische Bemerkung aus meinem früheren Jugendhilfekontext Kevin ist kein Name, Kevin ist eine Diagnose.« Und ja, es gab viele Kevins in meinen ersten Berufsjahren. Und mein Kopf war voller Vorannahmen, wenn der nächste Kevin zu uns in die Gruppe kam!
Beobachtungsbögen aus der Diagnostik verstellen den Blick. Dieser Fachblick sollte bei den Therapeut*innen bleiben, mit den entsprechenden - hoffentlich sauber validierten - Instrumenten!
Pädagogische Fachkräfte haben eine andere, ebenso wichtige Expertise, die sie selbstbewusst vertreten und für die sie werben sollten: Sie sind Expert*innen für Beziehungsgestaltung. Sie haben einen Blick für das Ganze. Sie sehen das Kind in seinen Kontexten. Und sie wissen: Sie sind immer Teil des Geschehens, sie sind nicht objektiv. (Zwischeneinschub: Das sind Therapeut*innen bei ihrer Diagnostik auch nicht, aber sie erliegen hier manchmal der Selbsttäuschung - siehe das Zitat von Feinstein oben!)
Pädagogische Fachkräfte in der Kita schaffen Gelegenheiten, damit Kinder ihr mögliches Selbst entwickeln können. Empowerment heißt das Motto! So, wie der Ausbilder in besagtem Unternehmen seinen Blick frei macht und Gelegenheiten für die jungen Menschen schafft, um sich dabei auch überraschen zu lassen - ja, nicht wenige Hauptschüler*innen packten ihre Chance beim Schopfe! -, wünsche ich mir pädagogische Fachkräfte in der Kita, die selbstbewusst für die Kinder einstehen und in jedem Kind seine Stärken sehen.
Damit mögliche Entwicklungsverzögerungen erkannt werden, die problematisch werden können, wenn man nicht genauer schaut, helfen und reichen die validierten Grenzsteine nach Michaelis2. Nur die 5 - 10 Prozent der Kinder, die den Grenzstein nicht passieren, brauchen die Chance eines genaueren, dann diagnostischen Blicks. Alle anderen Kinder brauchen keine Einteilung in Entwicklungsstufen, es braucht keine zusätzlichen Meilensteine. Denn wozu sollte das nützen? Wollen Sie Ihren Alltag einteilen in einen genau ausdifferenzierten Förderplan? Heute Morgen bauen wir einen Turm, denn das muss geübt werden, wegen der Feinmotorik und so. Heute Nachmittag ist dann Seilhüpfen dran, denn der Wechselschritt ist ja auch wichtig. Really?
Pädagogische Fachkräfte brauchen Anhaltspunkte für das, was die Kinder selbst zeigen, wofür sie sich interessieren. Denn Kinder sind keine Gurken, die man in eine bestimmte Richtung biegen kann. Es gibt auch einen eigenen Anteil, der in die Waagschale geworfen wird. Kinder können von außen beeinflusst werden, bestimmen aber letztlich selbst, ob sie sich überhaupt darauf einlassen wollen (vgl. Harris 2007, S. 276).
Wenn ich das Kind als starken Lernenden ernst nehme, traue ich ihm zu, dass es selbst seine Entwicklung vorantreibt und für sich sorgen will. Eine Ermutigung darin ist allemal besser als eine noch so bunt gestaltete Entwicklungsdokumentation.
Deshalb, liebe pädagogische Fachkräfte, zurück zu den Wurzeln eures Metiers: Begleitet die Kinder in ihrem Eigen-Sinn, in ihrer Eigen-Art! Investiert eure kostbare Zeit in das wahrnehmende neugierige Beobachten, seid den Kindern Ermutiger*innen! Kinder bringen alles dafür mit, was sie brauchen: ihre Grundbedürfnisse, ihre Engagiertheit, ihr Interesse an Neuem und einen Rucksack voller Lernwerkzeuge (vgl. Evanschitzky 2020).
Übrigens: Die Gurkenkrümmungsverordnung ist inzwischen wieder gestrichen worden - zu bürokratisch. Manche Verbände halten noch an ihr fest, aber viele Verbraucher*innen zeigen: Krumme Gurken schmecken auch!
Und die achtjährige Petra passte nicht in die (Geschlechter-)Norm: Wie gerne hätte sie im Verein Fußball gespielt, doch das war nur für die Jungs. Bei einer Sache hatte sie Glück: Als sie 1977 eingeschult wurde, war der alte Rektor gerade in Rente gegangen - sonst hätte sie mit rechts schreiben lernen müssen!
Petra Evanschitzky
Dipl.-Sozialpädagogin, Systemische Organisationsberaterin nach SySt®, von 2004 bis 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZNL Transfer-Zentrum für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm, seitdem tätig als freie Referentin, Autorin und Coach
Literatur
- Evanschitzky, Petra (2020): Learning Storys. Der Ansatz der Lerngeschichten, in: Carmen Deffner/Ina Schenker: Das Lernen anregen, Weimar: verlag das netz
- Feinstein, Alvan R. (1985): Clinical Epidemiology: The Architecture of Clinical Research; W. B. Saunders
Harris, Judith Rich (2007): Jeder ist anders. Das Rätsel der Individualität; München: DVA - Hille, Katrin/Evanschitzky, Petra/Bauer, Agnes (2019): Das Kind. Die Entwicklung in den ersten drei Jahren; Hamburg: HT
- Michaelis, Richard et al. (2013): Validierte und teilvalidierte Grenzsteine der Entwicklung. Ein Ent- wicklungsscreening für die ersten 6 Lebensjahre, in: Monatsschrift Kinderheilkunde 2013, 161, S. 898 - 910
- Largo, Remo H. (2010): Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren; München: Piper
- Petermann, Franz/Macha Torsten (2013): Entwicklungstest für Kinder von sechs Monaten bis sechs Jahren - Revision (ET 6-6-R); Frankfurt: Pearson Assessment
- Ryan, Richard/Deci, Edward (2017): Self-Determination Theory. Basic Psychological Needs in Motivation, Development, and Wellness; New York: Guilford Press
www.leuvener-engagiertheitsskala.de/index.html (abgerufen am 18. 05. 20
Anmerkungen
1 Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Verordnung_%28EWG%29_Nr._1677/88_%28Gurkenverordnung%29
2 Eine kleine Einschränkung sei auch hier erlaubt: Die Grenzsteine sind kulturspezifisch. Das, was Kinder in bestimmten Altersstufen können sollten, hat mit dem zu tun, wie wir Kinder in unserer Kultur erziehen und welche Gelegenheiten wir ihnen bieten.