Titelthema
»Ich weiß schon, was gut für dich ist!«
Vermutlich erinnert sich jede und jeder an diesen Spruch aus der eigenen Kindheit, verbunden mit unguten Gefühlen wie Wut, Beschämung oder Traurigkeit. In aufgeklärten Pädagogenkreisen ist der Spruch inzwischen vielleicht verschwunden - aber gilt das für die dahinterstehende Haltung auch?
Aus tatsächlicher oder vermeintlicher Fürsorge und Verantwortung wird Kindern mit dieser Haltung häufig ihr Recht auf Selbstbestimmung versagt. Oft geschieht dies ohne beziehungsweise mit bester Absicht in vielen kleinen und größeren Situationen des Alltags. Essen und Schlafen zum Beispiel sind für viele Eltern und pädagogische Fachkräfte nach wie vor über lange Zeit sich täglich wiederholende Situationen, bei denen regelrechte Machtkämpfe ausgetragen werden. Und das obwohl fast alle Erwachsenen, wenn sie nach Erinnerungen an ihre eigene Kindheit befragt werden, schnell antworten, dass dies zu ihren schlimmsten Kindheitserfahrungen gehört: Zum Essen gezwungen und ins Bett geschickt worden zu sein, obwohl sie gar nicht müde oder bereit zum Schlafen waren. Was eigentlich dem Wohlbefinden dienen soll, essen und schlafen, wird zum Stress für alle Beteiligten. Für die Erwachsenen ist das dann schnell vorbei, wenn sie sich durchgesetzt haben. Für die Kinder bleibt die Erfahrung, unterdrückt zu werden und mehr oder weniger ohnmächtig zu sein.
Ist das in unseren Kindertageseinrichtungen wirklich noch so? Erst kürzlich habe ich in einer Fortbildung zum Thema »Beteiligung - wie gelingt das auch in der Arbeit mit den jüngsten Kindern?« eine Arbeitsphase mit der These eingeleitet: »Die Zeiten, in denen Kinder zum Essen gezwungen wurden, gehören ja wohl der Vergangenheit an.« Sofort erhob sich eine aufgeregte Diskussion. Man selbst wisse ja … und würde das nicht mehr tun. Aber die Kolleginnen und die Eltern - da gäbe es doch immer wieder Versuche, die Kinder nicht gerade zu zwingen, aber doch zu drängen, wenigstens zu probieren.
In der Diskussion wird deutlich, dass das Thema vielschichtig ist. Vordergründig geht es um das jeweilige Kind, das nicht, nicht ausreichend oder immer nur dasselbe essen will, oder um das Kind, das nicht schlafen will, obwohl es doch offensichtlich müde ist und den Schlaf braucht. Man stehe doch in der Verantwortung, für das gesunde Aufwachsen des Kindes zu sorgen. Doch schnell wird deutlich, dass es nicht nur darum geht.
Die Eltern fragten täglich und hartnäckig nach, was und wie viel das Kind gegessen und wie lange es geschlafen habe. Das interessiere die Eltern leider mehr als die Frage, an welchen Aktivitäten sich das Kind beteiligt, mit wem es was und wo gespielt habe. Und um die Eltern zufriedenzustellen, müsse man halt manchmal auf das Kind einwirken, etwas zu tun, wozu es von sich aus nicht bereit ist.
Und dann sind da ja auch noch die anderen Kinder. Wenn man dem einen Kind zugestehe, dass es nichts Grünes essen mag, dann wollen plötzlich auch andere Kinder nichts Grünes mehr, obwohl ihnen bis dahin der Brokkoli oder die frischen Kräuter immer gut geschmeckt haben. Die Köchin erwarte auch, dass die Kinder von allem essen, schließlich sei die Kita nach den Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) für ausgewogenes und gesundes Essen zertifiziert. Die Leiterin sei dafür verantwortlich, dass alle Kinder davon profitieren. Es ginge dabei auch um Chancengerechtigkeit.
An diesem Beispiel zeigt sich exemplarisch, dass es hier wie in vielen anderen Alltagssituationen in der Kita um ein komplexes Beziehungsgefüge geht, in dem es immer auch um Machtfragen geht: Macht der Erwachsenen über die Kinder, Macht der Kinder untereinander, Macht unter den pädagogischen Fachkräften, die nicht immer einer Meinung sind, Machtfragen zwischen Eltern und pädagogischen Fachkräften, Macht der Wissenschaft (in unserem Beispiel der Ernährungswissenschaft) über die pädagogische Praxis, Macht innerhalb der Institution Kita.
Vielfältige Machtbezüge
Über Macht nachzudenken, fällt pädagogischen Fachkräften nicht leicht. Eigentlich wollen sie keine Macht ausüben. Ein probates Mittel scheint hierfür zu sein, die eigene Macht zu leugnen: Wenn ich keine Macht habe, kann ich sie auch nicht ausüben.
Wir stehen aber alle in vielfachen Machtbezügen, in denen wir unsere Position bestimmen und sie mehr oder weniger gestalten können. In unserem Konzept der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung haben wir uns unter anderem mit Theorien über »verinnerlichte Dominanz« und »verinnerlichte Unterdrückung« auseinandergesetzt, um die eigene Macht zu reflektieren. Sich der eigenen Macht (und auch Ohnmacht) bewusst zu werden, ist unseres Erachtens erforderlich, um sie verantwortlich auszuüben und sie auch abgeben beziehungsweise teilen zu können.
Dazu gehört, sich darüber klar zu werden, was mir Macht gibt und was mir Macht nimmt. Der Status des Erwachsenseins ist dabei ein Faktor. Er gibt uns per se Macht über Kinder und damit das Recht und die Pflicht, für sie zu sorgen. Dieses Recht kann - wie am obigen Beispiel aufgezeigt - mit den Rechten der Kinder kollidieren.
Die Kinderrechte
Wenn wir die UN-Kinderrechtskonvention als Grundlage nehmen, dann lassen sich die Kinderrechte einteilen in Schutzrechte, Versorgungsrechte und Beteiligungsrechte. Unsere Verantwortung als Erwachsene ist es, Kindern alle diese Rechte zu gewährleisten. In unserer wohlhabenden Gesellschaft scheint es dabei leichter, die Schutz- und Versorgungsrechte zu erfüllen, auch wenn dies bei zunehmender Kinderarmut und aktuell für Kinder, die in Notunterkünften leben, bei weitem nicht für alle Kinder gilt. Sobald sie Zugang zu einer Kita haben, sind die Voraussetzungen dazu in der Regel jedoch geschaffen.
Die Schutz- und Versorgungsrechte der Kinder sind uns auch selbstverständlicher als die Beteiligungsrechte, dies gilt umso mehr, je jünger die Kinder sind. Sie vertragen sich besser mit unserem Recht und unserer Pflicht, für die Kinder zu sorgen. Deshalb neigen wir dazu, ihnen Priorität vor den Beteiligungsrechten einzuräumen. Das entspricht aber nicht den auf Selbstbestimmung ausgelegten Rechten der Kinder auf direkte Beteiligung an Entscheidungen, die ihr Leben bestimmen. Vielmehr stehen die drei Bereiche der Kinderrechte in einem wechselseitigen Verhältnis. Ausreichender Schutz und Versorgung sind einerseits Voraussetzung für die Rechte auf Beteiligung und andererseits ist Beteiligung Voraussetzung dafür, dass die Kinder Schritt für Schritt Eigenverantwortung erwerben und zunehmend selbst Sorge für sich und andere übernehmen können.
Es geht deshalb darum, sich als Erwachsener immer wieder selbst zu befragen, was ich einem Kind zutraue und wie viel Unterstützung und Schutz es in welcher Situation benötigt. Denn schnell behindert ein Zuviel an Hilfe und Schutz das Kind in seiner Selbstbestimmung und in seinem Streben, sich zu beteiligen.
Konflikte als Lernsituationen
Neben dem Machtfaktor »Erwachsensein« spielen eine Reihe anderer Machtfaktoren eine Rolle für das Leben in der Kita. Körperliche Stärke, Wortgewandtheit, Geschicklichkeit beispielsweise können zu Machtfaktoren in der Kindergemeinschaft werden. Das ist nichts Neues. Wie wir als Erwachsene damit umgehen, hängt wiederum davon ab, wie wir bei Konflikten unter Kindern unsere eigene Macht einsetzen. Das berühmte Machtwort sprechen, damit der Konflikt schnell beendet ist? Wir wissen, dass das letztlich nicht hilft und höchstens kurzfristig für Ruhe sorgt. Kinder, gerade die ganz jungen, Schritt für Schritt an eine eigenständige Konfliktbearbeitung heranzuführen, bedarf des Konflikts als einer wertvollen Lernsituation. Das müssen wir Erwachsenen erst mal aushalten. Denn eine harmonische Kindergruppe mit ständig fröhlichen Kindergesichtern prägt oft nicht nur die eigenen Wunschvorstellungen von einem guten Kita-Alltag. Schauen wir uns die Bilder in den Medien an, dann gibt es selten Bilder von Kindern, die in Konflikt geraten. Und immer noch gilt unter Kolleginnen zuweilen als »gute« Erzieherin, wer seine Gruppe »im Griff hat«.
Auch hier ist von Bedeutung, wie die Beziehung zu den Eltern gestaltet wird. Wie viel Macht haben die Eltern mit ihren Erwartungen? Und was antwortet eine junge Erzieherin zum Beispiel überbesorgten Eltern auf die Bemerkung: »Warten Sie mal ab, bis Sie selber Kinder haben, dann werden Sie meine Bedenken teilen.« Hier ist ebenfalls das Alter ein Machtfaktor, gepaart mit dem Faktor, selbst ein Kind zu haben. Professionalität kann hier der eventuell verspürten Ohnmacht entgegenwirken. Sie kann aber auch selbst zu einem unreflektierten Machtfaktor in der Beziehung zu Eltern und auch in den Beziehungen zwischen Kolleginnen und Kollegen, zwischen pädagogischen Fachkräften werden: »Ich weiß es eben besser, was gut ist für die Kinder!« Da haben wir ihn wieder, den bekannten Satz.
Im weitesten Sinne gilt der auch für all diejenigen, die aus ihrer verinnerlichten Dominanz heraus als Wissenschaftler oder Bildungspolitiker Programme und Projekte für Kitas entwerfen, ohne mit den praktisch tätigen pädagogischen Fachkräften in den Dialog zu gehen, sie an der Entstehung solcher Konzepte zu beteiligen und diese so offen zu gestalten, dass die pädagogischen Teams im Kita-Alltag ausreichend Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum haben, um in ihrem jeweiligen Kontext daraus eine mit ihren Vorstellungen stimmige Praxis werden zu lassen.
Auf allen Ebenen gilt es deshalb, sich der eigenen Macht bewusst zu werden, die Perspektive aller anderen Beteiligten zu erkunden und in einen kontinuierlichen Dialog zu treten: ein anstrengender, aber ebenso anregender wie erfolgversprechender Weg.
Dr. Christa Preissing
Dipl.-Soziologin und Dr. phil., Direktorin des Berliner Kita-Instituts für Qualitätsentwicklung (BeKi) und Vizepräsidentin der Internationalen Akademie (INA) gGmbH an der Freien Universität Berlin.