Titelthema
Wie lernen die Jüngsten?
Da raschelt doch etwas! Der 13 Monate alte Jonas schaut neugierig auf, entdeckt seine große Schwester Patrizia auf dem Sofa liegend und Zeitung lesend. Das Rascheln scheint sein Interesse geweckt zu haben, denn er krabbelt sehr zielstrebig auf das Sofa zu. Ermuntert von Patrizias Lächeln zieht er sich, begleitet von tiefen und raschen Atemzügen, an der Sofakante hoch, streckt seine Hand nach einem Stück Zeitung aus, das neben Patrizia liegt, und bekommt sie zu fassen. Geschafft! Jetzt nur nicht locker lassen! Patrizia schaut Jonas an, lässt ihn gewähren. Er strahlt sie an, lässt sich mit seinem »Beutestück« auf den Boden zurückfallen und kommentiert den Plumps mit einem »Oh!«. Nun wird er sich in der nächsten halben Stunde ausgiebig mit der Zeitung beschäftigen.
Diese Szene ist voller Hinweise für das Lernen junger Kinder. Lernen? Wieso lernen? Jonas spielt doch nur ein bisschen mit der Zeitung! Genau! Er spielt, denn das ist seine Art zu lernen. Dieser Begriff ist spätestens seit dem Einzug des neuseeländischen Ansatzes der Lerngeschichten fest in der Fachsprache der Frühpädagogik angekommen. Damit ist klar, dass Lernen mehr ist als das, was wir im schulischen Kontext darunter verstehen. Im Kopf von uns Erwachsenen ist der Begriff »Lernen« verknüpft mit bewusstem Aneignen von Fähigkeiten und Wissen. Doch das ist nur ein Teil des Lernens. Der andere Teil läuft implizit ab, nämlich ohne dass es uns bewusst ist und ohne ein bewusst gesetztes Ziel. Wir Menschen lernen - ein Leben lang - und dank dieser Fähigkeiten sind wir in der Lage, uns das anzueignen, was wir brauchen, um in der jeweiligen Umgebung, in der wir leben, klarzukommen. Kinder, und besonders die Jüngsten, begeben sich dabei auf ihre individuelle Entdeckungsreise. Sie setzen alles ein, was ihnen zur Verfügung steht, um zu verstehen, zu handeln und in Beziehung zu gehen. Das Lernen der Jüngsten hat dabei wesentliche Merkmale:
- Kinder lernen nebenbei: Sie handeln, kommunizieren, machen sinnliche Erfahrungen, sind in Kontakt mit ihrer Umgebung - und dabei lernen sie.
- Kinder lernen ständig: Lernen, verstanden als der Zugang zu sich und der Welt und die sinnliche Auseinandersetzung mit ihr, ist ein permanenter Prozess. Auch Ruhe-/Schlafphasen können in einem gewissen Sinne zum Lernen dazugenommen werden, quasi als das »Lernen nach dem Lernen«. Denn diese Phasen nutzt das Gehirn für das Verarbeiten der Sinneseindrücke.
- Und Kinder lernen das für sie Interessante, das, was für sie in diesem Moment von Bedeutung ist. Sie lernen nicht für die Zukunft. Es geht um den Moment jetzt.
Jonas ist von der Zeitung und ihren begleitenden Geräuschen angezogen, er interessiert sich dafür, wie die Zeitung sich anfühlt, wie sie riecht, wie sie sich in ihrer Form verändert, wenn er sie mit seinen Händen bearbeitet.
Wir müssen Kindern das Lernen nicht beibringen. Sie können es! Sie nutzen ihre Hilfsmittel. Sie setzen ihren ganzen Körper ein und machen Erfahrungen. Jonas’ Hilfsmittel sind in der Zeitungsszene zu erkennen:
Er beobachtet seine Schwester beim Lesen, er ahmt ihre Arm- und Handbewegungen nach, ja, auch er blättert in der Zeitung, schaut sich Seiten an, wandert mit den Augen über die ganze Fläche, und er ist dabei in einem steten Kontakt zu seiner Schwester. Denn immer mal wieder schaut er sie an, so als ob er sie fragen würde: »Mach ich das gut so? Siehst du mich? Wie findest du das, was ich mache?« Sie antwortet mit Lächeln, kommentiert seine Handlungen, und er strahlt sie an! Alles in Ordnung! Patrizia ist auf seiner Seite, ohne sich einzumischen.
Ein wichtiges Hilfsmittel setzt Jonas hier ein: Man spricht von sozialer Rückversicherung. Kinder sind von Beginn an in Kontakt mit ihrer Umgebung und den Menschen. Sie versuchen aus den Handlungen der anderen zu erkennen, was diese wollen. Sie lesen in ihren Gesichtern und Gesten. Sie suchen dabei nach Mustern, nach Regelhaftem. Denn diese zu verstehen ist ihr Ziel: Damit können sie Beobachtetes auf ihr eigenes Handeln übertragen. Aus vielen einzelnen Erfahrungen filtern Kinder heraus, was sich als Regel ableiten lässt. Jonas sieht bei Patrizia vielleicht diese Muster: Das zeitweise Umblättern erzeugt Rascheln, und das Umblättern erfolgt mit bestimmten sich ähnelnden Handbewegungen. Das prüft er für sich: Macht die Zeitung auch bei ihm diese Geräusche? Wie verhält sich die Zeitung, wenn er sie mit seinen Fingern und Händen »umblättert«? Und noch ein Muster: Wenn er Patrizia anlächelt, lächelt sie zurück! Wenn er intensive Geräusche macht, schaut sie zu ihm!
Jedes Scheitern ist ein Schritt auf dem Weg zum Erfolg
Jonas Handlungen in der Szene wiederholen sich häufig, über viele Versuche und auch Fehlversuche hinweg arbeitet er sich langsam an die geeigneten motorischen Techniken heran. Versuch-und-Irrtum- Lernen, im Englischen Trial and Error, ist ein legitimes und absolut wichtiges Hilfsmittel der Kinder. Jedes Scheitern ist ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Erfolg. Und wenn Kinder ausreichenden Gestaltungsspielraum bekommen, wählen sie das für sich optimale Maß an Herausforderung. Sie vermeiden Langeweile. Denn wenn sie sich nicht mehr für eine Sache oder Situation interessieren, kann das ein Hin- weis dafür sein, dass sie für sich bereits genug daraus gelernt haben und sich nun Neuem, Unbekanntem zuwenden.
Was treibt Kinder nun an? In diesem Alter nehmen sie sich ja nicht bewusst vor, was sie lernen wollen. Sie haben nicht in unserem erwachsenen Sinn das Ziel vor Augen, Laufen, Sprechen oder Zeitunglesen zu lernen. Was sind dann ihre inneren Quellen für ihr Handeln?
Damit beschäftigt sich die Motivationspsychologie schon sehr lange intensiv. Und über viele Studien hinweg konnten drei Komponenten herausgearbeitet werden, die wir Menschen über alle Kulturen hinweg gemeinsam haben. So, wie wir auf der körperlichen Ebene Grundbedürfnisse haben, die uns in unserem Handeln beeinflussen (Schlafen, Essen/Trinken et cetera) gibt es auch auf der psychischen Ebene basale Bedürfnisse. In ihnen liegt der Motor zum Lernen.
Drei basale Bedürfnisse
Jonas erlebt sich als autonom: Er krabbelt zielstrebig auf die Zeitung zu und schafft es, sich allein am Sofa hochzuziehen. Er selbst greift nach der Zeitung.
Der Erfolg stellt sich unmittelbar ein: Er steht an der Sofakante, hat das Ziel seiner Neugierde in Händen und kann sich nun ausgiebig weiter damit beschäftigen. Er erlebt sich hier bereits als kompetent, denn er hat die Situation gemeistert.
Und dabei ist er nicht allein! Über Blickwechsel und Lächeln ist er in Kontakt mit seiner Schwester, sein Sich-Rückversichern lässt ihn erleben: »Da nimmt jemand Anteil an meiner Entdeckungstour! Ich werde wahrgenommen!« Dieses Erleben, sozial eingebunden zu sein, erfüllt ihn ebenfalls mit hoher Zufriedenheit.
Diese drei Grundbedürfnisse tragen Menschen egal welchen Alters in sich. Im Bemühen, sie immer wieder in eine Balance zu bringen, entstehen Handlungsmotivationen. Das Streben nach Freiräumen oder aber Orientierung, wenn es um die Autonomie geht, das Streben nach Kontakt oder Rückzug, wenn es um Gemeinschaftserleben geht, und das Streben nach Herausforderung oder Sicherheit, wenn es um Kompetenzerleben geht.
Auf der Verhaltensebene kann das sehr unter- schiedliche Formen annehmen. Und nicht immer ist ein Verhalten oder ein Signal von Kindern eindeutig einem Grundbedürfnis zuzuordnen. Ein Kind, das zum ersten Mal in die Krippe kommt und die Hand der Mutter nicht loslässt, signalisiert möglicherweise: »Ich kenn mich hier noch nicht aus. Ich habe noch nicht die Ortskompetenz. Sobald ich aber weiß, wo was ist, marschier ich gerne alleine los.« Die Hand der Mutter festzuhalten kann, aber muss nicht unbedingt aus dem Bedürfnis nach sozialem Eingebundensein herrühren.
Wenn ein Kind sich mit einem Spielzeug in die Sofaecke zurückzieht, kann das bedeuten, dass es für sich allein sein möchte, weil es ihm vielleicht gerade in der Spielecke zu umtriebig geworden ist. Es kann auch sein, dass es in der ruhigeren Ecke sich besser auf das Spielzeug konzentrieren und es ausgiebig erkunden kann. Sein Bedürfnis nach Autonomie und sein Bedürfnis nach Kompetenzerleben scheinen hier zusammenzukommen. Denn wenn es das Spielzeug erkundet und vielleicht neue Funktionen entdeckt, die ihm bislang verborgen blieben, erlebt es einen kleinen Erfolg und eine Bestätigung in seiner Beharrlichkeit.
Im Streben nach Erfüllung kann es auch zu einem Widerstreit zweier Bedürfnisse kommen: Schreiend steht ein Kind am Fuße des Schneehügels, von dem es gerade heruntergerutscht ist. Es ist nichts passiert, es hat sich nicht wehgetan und trotzdem ist das Leid groß. Denn es will unbedingt an derselben Stelle wieder hochkrabbeln, an der es hinuntergerutscht ist. Zwei Meter nebenan wäre eine wunderbare abgeflachte und mit Einkerbungen versehene Stelle, die es auch zuvor ein paar Mal zum Aufsteigen genutzt hat. Das scheint ihm jetzt aber nicht mehr genug zu sein. Es sucht die Herausforderung − und scheitert. Der Wunsch nach Autonomie ist groß, gleichzeitig ist das motorische Können noch nicht ausreichend für die steilere, sehr rutschige Stelle. Für eine ganze Weile verharrt das Kind in diesem inneren Konflikt, protestierend und jede Hilfe abweisend.
Es ist also gar nicht so einfach mit der Balance dieser Bedürfnisse! Kinder lernen hier auch, sich zu regulieren, ihre Emotionen zu steuern. Dazu bringen sie selbst schon sehr viel mit - am Daumen lutschen, weinen, hin- und herlaufen, aus dem Raum gehen oder sich ablenken sind solche Selbstregulierungsbemühungen. Hier unterstützen wir Erwachsenen sie darin, sich zu steuern, so dass die Unterstützung von außen immer weniger notwendig wird. Womit wir bei der Rolle der Erwachsenen wären.
Der Einfluss der Kultur
Kinder lernen nicht im luftleeren Raum. Ihr Handeln ist eingebettet in den jeweiligen sozialen Kontext. Und dieser bestimmt ein Stück weit mit, was die Kin- der lernen und welche Gewichtung auf den jeweiligen Grundbedürfnissen liegt. Auch wenn die Grundbedürfnisse als innerer Motor überall auf der Welt die gleichen sind, so hängt es doch von der Kultur einer Gemeinschaft ab, wie viel Raum welches Bedürfnis bekommt. In der Forschung spricht man von sogenannten Prototypen der Sozialisation. Es gibt Kulturen, die betonen sehr stark die Autonomie, und es gibt Kulturen, die ein großes Gewicht auf das sozial Eingebundensein beziehungsweise die Verbundenheit le- gen. Letztlich ergeben sich daraus die Entwicklungsaufgaben der Kinder: Die eigenen Bedürfnisse sind der Antrieb fürs Lernen, und die Anforderungen, die die Gemeinschaft an das Kind stellt, geben den Rahmen. Entwicklung heißt somit, eine gute Passung zwischen dem Eigenen und dem Äußeren herzustellen.
Jonas wächst in einer Kultur auf, in der das Autonomiebedürfnis großen Raum bekommt. Sich selbst zurechtzufinden, eigenverantwortlich zu handeln und sich dabei trotzdem in der Gemeinschaft einzuordnen gehört zu den Entwicklungszielen. Dabei hilft es ihm, schon früh Gestaltungsspielräume als Erprobungsfeld zu bekommen. Seine Schwester Patrizia lässt ihn nicht nur gewähren, sie ermuntert ihn auch mit ihrer Mimik, seine Erkundungen fortzusetzen. In diesem Freiraum kommt Jonas auf viele Ideen, was er mit der Zeitung noch alles machen kann: Er zerreißt sie in viele Einzelteile, packt die Schnipsel in eine Dose, räumt die Dose auf, nimmt sie wieder hervor, öffnet und schließt sie, freut sich über die knackenden Geräusche des Clip-Verschlusses und strahlt übers ganze Gesicht. Patrizia lacht mit ihm, freut sich über sein Strahlen. Das ist Selbstwirksamkeitserleben pur! Und so geht Lernen auch mit viel Freude und Glücksgefühlen einher. Dieses Wohlgefühl ist überhaupt der Turbo beim Lernen schlechthin!
Ermöglichen wir den Kindern möglichst viele solcher Edelsteinmomente oder magic moments, wie die Neuseeländer sagen!
Petra Evanschitzky
Dipl.Sozialpädagogin, Dipl.Sozialwirtin, von 2004 bis 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZNL TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm, seitdem tätig als freie Referentin, Autorin und Coach.
Literatur
- Deci, Edward L./Ryan, Richard M. (1993): Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik; in »Zeitschrift für Pädagogik« 39/2, S. 223 − 238
- Haas, Sibylle (2012): Das Lernen feiern. Lerngeschichten aus Neuseeland; Berlin, Weimar: verlag das netz
- Hille, Katrin/Evanschitzky, Petra/Bauer, Agnes (2016): Das Kind − Die Entwicklung in den ersten drei Jahren. Psychologie für pädagogische Fachkräfte; Bern, Köln: hep verlag
- Hille, Katrin/Evanschitzky, Petra/Bauer, Agnes (2013): Das Kind − Die Entwicklung zwischen drei und sechs Jahren. Psychologie für Erzieherinnen; Bern, Köln: hep verlag
- Keller, Heidi (2011): Kinderalltag. Kulturen der Kindheit und ihre Bedeutung für Bindung, Bildung und Erziehung; Berlin, Heidelberg: Springer