Titelthema
Die Kita als Ort gelebter Vielfalt
In Kindertageseinrichtungen erleben pädagogische Fachkräfte die Vielfalt unserer Gesellschaft in konzentrierter Form. Kinder und Eltern mit unterschiedlichsten kulturellen und religiösen Hinter gründen, in verschiedensten Familienformen, mit vielfältigen sozialen Hintergründen und auch mit sehr individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten kommen in Kitas zusammen. Im Lebens und Lernort Kita, im Alltag der Einrichtung, trifft sich unsere Gesellschaft in ihrer gesamten Vielfalt.
Daraus ergeben sich für KitaFachkräfte viele Fragen:
- Selbstreflexion:
Wie können Fachkräfte pädagogisch handeln, auch wenn die in der Kita erlebte Vielfalt von den eigenen Werten und Normen stark abweicht? - Inklusion und Integration:
Wie können Kinder und ihre Familien gut in die Kita integriert werden, auch wenn sich deren Lebensstil sehr von dem der anderen unterscheidet? - Vorurteilsbewusste Bildung:
Wie kann Fällen von Diskriminierung und Ausgrenzung aktiv begegnet werden? Wie kann hier präventiv gearbeitet werden? - • Vernetzung:
Wie gelingt es, das Umfeld der Einrichtung konstruktiv einzubeziehen, um die Kita zu einem Ort gelebter Vielfalt inmitten der Gesellschaft zu machen?
Kindertageseinrichtungen stehen vor der Herausforderung, Vielfalt anzunehmen und konstruktiv zu gestalten – gleichzeitig gilt es ein eigenständiges Profil zu entwickeln und zu bewahren, für gemeinsame Wertvorstellungen einzustehen und Menschenrechte entschieden zu vertreten. Kitas haben dabei die Chance, zu einem sehr frühen Zeitpunkt Kinder, Eltern und Umfeld für Ausgrenzungen zu sensibilisieren und aktiv gegen Diskriminierungen vorzugehen.
Vielfalt und Ausgrenzung – eine religionspädagogische Perspektive
Die christliche Botschaft ist ganz grundsätzlich eine vielfaltsbejahende und inklusive Botschaft. Bereits in der biblischen Schöpfungsgeschichte ist Vielfalt ein Thema: Gott schafft den Menschen als Mann und Frau (Genesis 1,27). In der gleichen Passage ist auch von der Menschenwürde die Rede. Diese gründet sich darauf, dass Gott den Menschen zu seinem Ebenbild geschaffen hat. Von Anfang an wird Unterschiedlichkeit mit eingeschlossen. Zentrale biblische Botschaft im Neuen Testament ist die Nächsten und Feindes liebe. Ausgrenzung und Diskriminierung stehen folglich im Widerspruch zu einer christlichen Ethik, da Liebe stets einen inkludierenden, einschließenden Charakter hat. Für das Leben in Gemeinschaft entwickelt die Bibel auch den Gedanken der Gemeinde als einen Leib mit vielen Gliedern (1. Korinther 12 ff.). Der Apostel Paulus vergleicht hier die christliche Gemeinde mit einem menschlichen Körper mit unter schiedlichen Körperteilen, wie Augen, Ohren, Händen und so weiter. Jedes dieser Körperteile ist völlig verschieden, einzigartig und kann nur so seine Funktion für die Gemeinschaft erfüllen. Paulus geht so weit, dass er die einzelnen Glieder als notwendig für das gesamte Wohlbefinden erachtet: »Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit.« (1. Korinther 12,26).
Jesus Christus und seine inklusive Botschaft
Über das biblischtheologische Reden hinaus geht Jesus Christus mit seinem Leben und Wirken. Seine Heilsbotschaft kann als radikal inklusiv verstanden werden. Ausgrenzung und Diskriminierung sind zu seiner Zeit an der Tagesordnung, doch Jesus geht entschieden dagegen an. So finden sich in den Evangeli en zahlreiche Beispiele, wie Jesus sich ausgegrenzten Menschen fernab der Gesellschaft bewusst zuwendet.
Beispielsweise besucht er in Jericho das Haus des Zöllners Zachäus, der zu einer damals sehr schlecht angesehenen und der Korruption bezichtigten Berufsgruppe gehörte (Lukas 19,1 ff.). Er zeigt große Wertschätzung gegenüber Prostituierten (Lukas 7,36 ff.), heilt Leprakranke ohne irgendeine Form von Berührungsangst (Matthäus 8,1 ff.), um nur wenige Beispiele zu nennen. Auf die Frage, wer denn sein Nächster sei, antwortet er mit dem Gleichnis des barmherzigen Samariters (Lukas 10,25 ff.). Dadurch positioniert er sich deutlich gegen die damals allgemein übliche Ausgrenzung der Leute aus Samarien, also die Ausgrenzung von »Ausländern«.
In dieser Nachfolge stehend haben Christen ein gutes Vorbild im Umgang mit Vielfalt – Kindertageseinrichtungen aller Trägerschaften können in diesen Botschaften wichtige Impulse für den pädagogischen Umgang mit Vielfalt finden. Der grundsätzlich inklusive Charakter der christlichen Botschaft lehrt dabei, jedem einzelnen Menschen positiv zu begegnen, Vor urteile zu hinterfragen und somit Raum für die Entwicklung eines positiven Selbstbilds zu schaffen – bei sich selbst und bei anderen.
Vielfalt und Ausgrenzung in Kitas
Die Entwicklung eines solchen positiven Selbstbilds ist sehr stark davon abhängig, welcher sozialen Gruppe ein Kind angehört, welche gesellschaftliche Stellung damit einhergeht und wie die Familie dies auf fasst (vgl. Wagner 2010 a). Wird die eigene soziale Gruppe von den Kindern als positiv bewertet erlebt, haben sie die Möglichkeit, ein positives Selbstbild auf zubauen. Wird die eigene soziale Gruppe hingegen als negativ bewertet erlebt, leidet das Selbstwertgefühl oft erheblich, insbesondere wenn Ausgrenzung und Diskriminierung hinzukommen. Merkmale, die zu solch einem negativen Selbsterleben führen können, sind Behinderung, kulturelle und ethnische Herkunft (hier ist insbesondere die Hautfarbe von Bedeutung), Sprache, soziale Ungleichheit, Armut, Religion, Geschlecht und sexuelle Orientierung (vgl. Wagner 2010 b). Um Kinder mit negativ besetzten Merkmalen in ihren Bildungsprozessen bestmöglich zu unterstützen, ist es wichtig, diese Heterogenität im Alltag auf zugreifen. In der Kita und im Umfeld der Einrichtung muss für alle klarwerden, dass jedes einzelne Kind und jede Familie unbedingt angenommen und will kommen sind. Einem negativen Selbsterleben müssen eine positive Bestärkung und ein aktives Vorgehen gegen Vorurteile und Diskriminierungen entgegen stehen.
Vielfaltssensible Arbeit in Kitas
Vielfaltssensible Pädagogik versteht sich in diesem Zusammenhang »als vielfalts und kultursensibel, antidiskriminierend und antirassistisch« (Kölsch Bunsen, Morys, Knoblauch 2015). Orientiert an Demokratie und Menschenrechten möchten vielfalts sensible Ansätze allen Kindern gleichberechtigte Bildungsteilhabe ermöglichen. Um dies zu erreichen, muss Vielfalt in allen Bereichen berücksichtig werden (Vielfalt in Nationalität, Sprache, Kultur, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung, Behinderung, Familienkonstellation, sozialem und finanziellem Status …). Vielfaltssensible Arbeit in Kitas zielt also nicht auf eine spezifische Dimension ab, sondern nimmt Vielfalt in ihrer Gesamtheit in den Blick. Basierend auf dem AntiBiasAnsatz aus den USA von Louise DermanSparks (vgl. DermanSparks 2010) wurde im Rahmen des Projekts Kinderwelten der Ansatz »vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung« entwickelt (vgl. www.kinderwelten.net). Bei der Fachstelle Kinderwelten erhalten Einrichtungen konkrete Hinweise, praktische Anregungen und Vorschläge für passende Materialien.
Mit kleinen Schritten beginnen
Die Etablierung pädagogischer Konzepte in Kitas braucht Zeit und kann nicht ad hoc umgesetzt wer den. Auf dem Weg zu einem vielfaltssensiblen Mit einander in der Einrichtung zeigen aber schon erste kleine Schritte große Wirkungen.
- Wichtig ist der bedingungslos wertschätzende Blick auf das Kind und seine Familie. Ein Gefühl des AngenommenenSeins bei den Kindern und ihren Familien ist von zentraler Bedeutung.
- Hierfür ist es notwendig, eigene Normalitätsvorstellungen infrage zu stellen (vgl. KölschBunsen, Morys, Knoblauch 2015).
- Selbstreflexion kann als zentraler Ausgangspunkt für vielfaltssensible Bildung betrachtet werden und ist ein wichtiger Prozess für das pädagogische Team jeder Einrichtung (lesen Sie hierzu auch unsere Beilage SPEZIAL mit konkreten Übungen zur Selbstreflexion, Anm. der Red.). Beispiels weise sind die Begriffe Kultur und Religion durch vielfältige Vorstellungen und Erfahrungen geprägt - die Reflexion und Diskussion dieser Begriffe im Team ist stets ein konstruktiver und lohnender Prozess.
Doch häufig fängt es mit kleinen Dingen an. Vielfalts sensibel ist es beispielsweise, die Kinder nach der Sommerschließzeit in der Kita nicht zu fragen, wohin sie gereist sind. Denn damit wird es als »normal« an gesehen, in Urlaub zu fahren (vgl. KölschBunsen, Morys, Knoblauch 2015). Viel offener und sensibler ist doch die Frage, was die Kinder während der Sommerschließzeit gemacht haben. Auf den ersten Blick mag dieser Unterschied keine allzu große Bedeutung haben. Doch im Perspektivwechsel kann deutlich werden, wie sich Kinder fühlen, die nicht verreist sind und durch diese Frage und die Antworten anderer Kinder herabgesetzt werden: »Wir verreisen nie, denn meine Eltern haben nicht das nötige Geld. Sind wir arm? Sind meine Eltern faul? Bin ich dadurch weniger wert?« Solche und ähnliche Gedanken können durch unachtsame Fragen ausgelöst werden.
Vielfaltssensibel ist es beispielsweise auch, nicht von dem (einen) Christentum oder dem (einen) Islam zu sprechen. Nicht jede Kirche ist groß und mit Gold verziert, nicht jede Moschee hat vier »Türme«. Wenn in der Einrichtung zum Beispiel beim Thema »Gottes große Häuser« das Bild vermittelt wird, dass alle Muslime in einer prächtigen Moschee und in weißen Gewändern zum Freitagsgebet gehen, werden sich einige Kinder wundern: »Unsere Moschee hat gar keine Türme und wir tragen Jeans zum Gebet. Sind wir keine richtigen Muslime? Machen wir etwas falsch?«
Von großer Bedeutung ist bei diesen Prozessen das Abrücken von eigenen Normalitätsvorstellungen. Eine achtsame Interaktion mit den Eltern ist hier im mer die Grundlage, die konstruktive Gespräche er möglichen kann. Neigen manche Eltern beispielsweise dazu, ihre Kinder an bestimmten Ausflugstagen zu Hause zu behalten, kann nur ein von Respekt und Wertschätzung geprägtes Gespräch die Gründe für dieses Handeln und die dahinterstehenden Bedenken aufzeigen. Erst dann kann die Unterstützung zur Teil habe beginnen. Insbesondere bei religionspädagogischen Angeboten ist der enge Austausch aller Beteiligten notwendig, um zu vermeiden, dass aufgrund unterschiedlicher Religionszugehörigkeiten eine institutionelle Ausgrenzung entsteht.
Mit kleinen Schritten Großes bewirken
Ausgrenzungen begegnen uns in vielfältiger Form und in unterschiedlichsten Zusammenhängen. Häufig werden Diskriminierungen dabei gar nicht erkannt, da sie seit langer Zeit Bestand haben und für uns zu einer Art Normalität geworden sind. Nur die intensive Reflexion von Stereotypen, Vorurteilen und Diskriminierungen – individuell und im Team – kann Ausgrenzungen wahrnehmbar und ein gezieltes Handeln möglich machen.
Die Lebens und Bildungswelt Kita bietet hier die Chance, Ausgrenzungen und Diskriminierungen zu einem sehr frühen Zeitpunkt aktiv zu begegnen und Kinder und Eltern für dieses Thema zu sensibilisieren. Wenn Kinder früh lernen, dass Vorurteile zu hinterfragen sind und man Diskriminierungen gemeinschaftlich begegnen kann, ist dies eine elementare Kompetenz für die weitere Entwicklung und ein wichtiger Prozess für unser gesellschaftliches Zusammenleben. Damit können Kitas Inklusion vorleben und als erste Bildungseinrichtung einen elementaren Grundstein für Vielfaltssensibilität legen.
StR. Dr. Christoph Knoblauch
leitet die Abteilung »Frühe Bildung« am Katholischen Institut für berufs- orientierte Religionspädagogik (KIBOR) der Universität Tübingen.
Nathalie Lichy
ist akademische Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und promoviert zum Thema religiöse und kulturelle Diversität in Kindertageseinrichtungen.
Literatur
- Derman-Sparks, Louise (2010): Anti Bias Pädagogik: Aktuelle Entwicklungen und Erkenntnisse aus den USA; in: Wagner, Petra (Hrsg.): Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung;
- Kölsch-Bunzen, Nina/Morys, Regine/Knoblauch, Christoph (2015): Kulturelle Vielfalt annehmen und gestalten. Eine Handreichung zur Umsetzung des Orientierungsplans für Kindertageseinrichtungen in Baden-Württemberg; Freiburg: Herder
- Wagner, Petra (2010 a): Wie erleben junge Kinder Vielfalt? – Einführung; in: Wagner, Petra (Hrsg.): Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung; Freiburg: Herder, S. 56 – 58
- Wagner, Petra (Hrsg.) (2010 b): Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vor- urteilsbewussten Bildung und Erziehung; Freiburg: Herder