Titelthema
Auf der Suche nach dem Glück
Das Wort »Glück« klingt selbstverständlich und alltäglich, wird aber schwierig, sobald wir versuchen, darüber zu reden oder zu schreiben. Noch in der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die im ersten Absatz darstellt, warum es notwendig sei, einen neuen, besseren Staat zu gründen, steht ganz selbstverständlich: »Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.« Im deutschen Grundgesetz steht ein solcher Satz nicht mehr; Glück ist offenbar von einer politischen Kategorie zur Privatangelegenheit geworden.
Ist »Glück« wenigstens noch eine pädagogische Kategorie? Wenn wir in die Bildungspläne der Bundesländer schauen, sehen wir, dass die Wörter »Glück« oder »glücklich« in vielen überhaupt nicht auftauchen. In anderen gibt es Glück zwar nicht als pädagogische Zielsetzung, trotzdem werden ab und zu (im Berliner oder im Hamburger Bildungsplan) glückliche Kinder erwähnt: »Jeder, der mit einem Kind zusammenlebt, erlebt, wie glücklich und stolz es ist, wenn es etwas herausgefunden hat, etwas kann und weiß. Und jeder kann mitempfinden, wie sehr dieses Glücksgefühl antreibt und das Kind herausfordert, mehr erfahren, wissen und können zu wollen.« (Hamburger Bildungsempfehlungen für die Bildung und Erziehung von Kindern in Tageseinrichtungen, S. 19) Möglicher- weise werden Kinder »von selbst« glücklich, oder vielleicht ist das die Hoffnung.
Es scheint in der Tat schwierig zu sein, »Glück« als pädagogische Zielvorstellung erstens zu formulieren und zweitens zu »operationalisieren«, also zu beschreiben, was eine pädagogische Fach- kraft konkret tun kann, um Kinder glücklich zu machen. Es wäre wohl auch schwierig, die Fachkräfte zu verpflichten, für glückliche Kinder zu sorgen. Vielleicht lautet das Minimalprogramm: Sie sollten den Glücksmomenten der Kinder nicht im Weg stehen. Wir können nämlich ohne weiteres das Leben, das Lernen beziehungsweise die Bildung von Kindern so gestalten, dass Glück verhindert wird - durch Gleichgültigkeit zum Beispiel, durch Hektik, (unterschwellige) Feindseligkeit, Besserwisserei, Überforderung, Ungeduld, Prinzipienreiterei, Ironie und Sarkasmus.
Oder geht es vielleicht darüber hinaus doch dar- um, dem Glück der Kinder auf die Sprünge zu helfen? Ist es für die pädagogische Praxis doch wichtig, darüber nachzudenken, was Kinder glücklich macht oder machen kann - auch dann, wenn uns Hirnforscher neuerdings sagen, dass Glück sowieso nur die Ausschüttung von Dopamin (beziehungsweise eines ganzen Drogencocktails) bedeuten würde?
Wenn wir Kinder beobachten, sehen wir, dass sie manchmal - im Unterschied von vielen von uns - »rundum« glücklich sind. Dabei könnten wir mindestens fünf Formen des Glücks unterscheiden.
Erarbeitetes Glück
Oft hat Glück mit dem erfolgreichen Überwinden von Schwierigkeiten zu tun. Wenn etwas nicht sofort klappt, versuchen die meisten Kinder es nochmals, notfalls wieder und wieder. Und je länger das gedauert hat, desto größer ist das Glücksgefühl, wenn es schließlich klappt. Ihr Gesichtsausdruck zeigt, dass die Kinder in diesem Moment mit sich und der Welt völlig im Reinen sind. Meistens ist das übrigens ein stilles Glück, kein überschwänglich geäußertes und »abgefeiertes«, übertriebene Lobeshymnen von Erwachsenen sind daher überflüssig.
Damit ein Kind sich Glück erarbeiten kann, dürfen wir ihm Schwierigkeiten nicht vorenthalten, sie ihm nicht abnehmen, ihm nicht vorschnell helfen. Das kann eine große Herausforderung sein an unsere Fähigkeit, das auszuhalten.
Manchmal können wir sogar Dinge, die »unmöglich« sind, durch »Hilfe zur Selbsthilfe« ermöglichen. Bei einem Besuch in einer integrativen Einrichtung hat mir zum Beispiel imponiert, wie selbstverständlich auch kleine und weniger geschickte Kinder ihren Anorak anziehen konnten, weil sie gelernt hatten, ihn in bestimmter Weise zunächst auf den Boden zu legen und dann aufzunehmen.
Glück im »Flow«
Hier entsteht Glück dadurch, dass Kinder sich auf eine für sie interessante Sache oder Aufgabe, ein gehaltvolles (Rollen-)Spiel oder einen komplizierten Bewegungsablauf fokussieren und darin »aufgehen«. Mit »Engagiertheit«, wie Ferre Laevers das nannte, schirmen die Kinder in diesen Momenten ihr eigenes Glück ab - um sie herum könnte die Welt einstürzen und sie würden das wahrscheinlich nicht einmal bemerken.
Ein solcher »Flow« ergibt sich in der Regel nur bei selbst gestellten Aufgaben, selbst gewählten Tätigkeiten, selbst erdachten und ausgestalteten Spielen. Mihály Csíkszentmihályi, der Schöpfer der »Flow- Theorie«, siedelt den »Flow« zwischen Langeweile und Angst an: Was ich gerade tue, ist einerseits bedeutungsvoll und interessant, andererseits machbar, überfordert mich nicht.
»Engagiertheit« oder gar »Flow« bei den Kindern können wir nicht punktgenau planen oder erzwingen. Wir können aber den Boden dafür bereiten, indem wir
- uns erstens ständig bemühen, bei der Wahrnehmung der Interessen eines Kindes auf dem Laufenden zu bleiben, die dahinterstehenden »Themen« (Hans Joachim Laewen) zu erspüren, um auf dieser Grundlage dem Kind interessante Angebote im besten Sinn des Wortes machen zu können, und:
- dann zweitens, wenn es so weit ist, die Tätigkeit der Kinder abschirmen, gegen Störungen schützen, mit Materialien oder Ideen anzureichern versuchen, flexibel mit Zeit, Raum und Regeln umgehen. Manche wichtige Entdeckung im Labor wäre nicht gemacht worden, wenn die Forscherin immer pünktlich zum Essen gerufen worden wäre. Das ist kein Plädoyer für Anarchie im Kindergarten. Aber es bedeutet: auch einmal fünf gerade sein lassen. Für dieses wundervolle Bauwerk zum Beispiel kann das Mittagessen warten und es kann längere Zeit stehen bleiben.
Glück durch Entschleunigung
Viele Kinder stehen heute unter Zeitdruck, werden zur Eile getrieben und gehindert, sich auf interessante Dinge einzulassen, sie bewusst zu erleben, sie auszukosten und zu genießen. Das sind oft (für uns) ganz banale, eigentlich »selbstverständliche« Dinge: barfuß über eine nasse Wiese laufen, Ameisen in Pflasterfugen betrachten, zuschauen, wie aus Kartoffelscheiben in der Pfanne langsam Bratkartoffeln werden.
Glück hat hier damit zu tun, dass Erwachsene die Bedeutsamkeit, die scheinbar banale Erfahrungen für ein Kind haben, weil sie für es neu und deshalb interessant sind, nicht nur akzeptieren, sondern wertschätzen. Es darf sich ausdrücklich die Zeit nehmen, die es braucht. Es darf nicht nur, sondern soll Dinge selbstständig machen, auch wenn es die dreifache Zeit dauern sollte. Es darf sich Zeit lassen, um sich zu entscheiden, und wird nicht genervt angeschaut. Auch wenn es (zunächst) »nur zugucken« will, ist das in Ordnung.
Glück durch »Kopfstand
Glück entsteht besonders leicht, wenn einmal nicht das Übliche, Gewohnte passiert, sondern das genaue Gegenteil davon. Kinder wachsen zum Beispiel mit der ständigen Erfahrung auf, dass sie den Erwachsenen in vielen Dingen unterlegen und von deren gutem Willen abhängig sind. Umso glücklicher sind sie, wenn es einmal umgekehrt ist: In einer Kindertageseinrichtung gab es einmal eine Woche unter dem Motto »Unsere Hände haben Urlaub«. Um die Kinder darauf vorzubereiten, dass bald ein Kind die Einrichtung besuchen würde, das seine Hände nur sehr eingeschränkt bewegen konnte, wurden in dieser Woche die Hände möglichst wenig benutzt. So entstanden unter anderem Bilder, die nicht mit den Händen, sondern mit dem Mund oder mit den Füßen gemalt wurden. Davon redeten die Kinder noch Monate später - und am glücklichsten machte sie die Erfahrung, dass die pädagogischen Fachkräfte, die dabei mitmachten, sich deutlich ungeschickter anstellten als sie. Das hatte nichts mit Schadenfreude zu tun, sondern mit einem geänderten Bild von sich selbst.
Ein anderes Beispiel ist im Film »Lust auf Sprache« von Michaela Ulich zu sehen: Die fünfjährige Kübra sagt der deutschsprachigen Erzieherin, nachdem die sich mehrmals bemüht hat, ein türkisches Gedicht vorzulesen: »Jetzt hast du’s richtig gesagt!« Ihr strahlendes Gesicht dabei zeigt deutlich, wie sie es genießt, einmal die Sprachexpertin zu sein und nicht diejenige, die immer verbessert wird. Wir sind Kindern die Gelegenheit schuldig, auch einmal die Überlegenen zu sein. Hier ist es der Erzieherin gelungen, aus einem (vermeintlichen) Nachteil einen Vorteil zu machen.
In diese Kategorie gehört auch das Glück, das Kinder empfinden, wenn ihnen zugetraut wird, echte Verantwortung zu übernehmen, zum Beispiel für ein anderes Kind zu sorgen, das neu in der Gruppe ist.
Glück durch unverhoffte Resonanz
So, wie wir an ein unverhofftes Kompliment noch lange zurückdenken, wirkt ein Lächeln, ein aufrichtiges Lob oder eine Bemerkung im Vorübergehen auf Kinder, weil sie das ehrliche Interesse und die Wertschätzung spüren und genießen, die dahintersteckt.
Ein Kind ist glücklich, wenn die Erzieherin »erraten« hat, was es sagen wollte, aber - aus welchen Gründen auch immer - nicht ausdrücklich gesagt hat.
Es ist glücklich, wenn die Erzieherin nicht viel Aufhebens über ein Missgeschick macht, etwas für sich behält, Dinge nicht »breittritt«.
Kinder genießen die (seltenen) Momente ungeteilter Aufmerksamkeit durch die Erzieherin beziehungsweise Momente der ungestörten Zweisamkeit. Junge Kinder müssen ab und zu an der emotionalen Tankstelle, die ihre Bezugserzieherin darstellt, durch Körperkontakt »auftanken«, um sich gut aufgehoben zu fühlen.
Geschenktes Glück
Wir können Kindern ganz bewusst Glücksmomente schenken: mit Überraschungen, mit denen sie nicht gerechnet haben, aber auch mit geplanten Situationen wie der Gestaltung einer Geburtstagsfeier oder wenn wir verlässlich sind.
Wenn wir gemeinsam mit ihnen in einem »Könnerheft« ihre Leistungen und Kompetenzen genau beschreiben und festhalten. Wenn nachgewiesene Kompetenzen mit Privilegien verbunden sind wie beim »Werkstatt-Führerschein«.
Wenn wir mit Humor reagieren, was nicht bedeutet, »Spaß zu haben«, sondern die Bedeutung von Dingen und die eigene Wichtigkeit zu relativieren. Wenn wir imstande sind, auch einmal über uns selbst zu lachen.
Zum Glück ist Glück keine Einbahnstraße; das Zusammenleben mit Kindern kann uns sehr glücklich machen, wenn wir die spontanen und ehrlichen Reaktionen und die unverstellten Handlungsweisen der Kinder miterleben dürfen. Kinder verlängern unsere eigene zeitliche Perspektive, weil wir anders über die Zeit denken, die wir selbst nicht mehr erleben werden. Die Wahrnehmung der vielen, fundamentalen Entwicklungsschritte der Kinder, bei denen wir dabei waren oder bei denen wir geholfen haben, bedeutet immer wieder Glücksmomente. Das mag entscheidend zur Berufszufriedenheit von pädagogischen Fachkräften und zur höheren Lebenszufriedenheit von Eltern und Großeltern gegenüber Kinderlosen beitragen. Und so kann das Glück der Kinder und unseres weitere Kreise ziehen - in beide Richtungen.
Prof. Dr. Rainer Strätz
Ehemals Lehrtätigkeit im BA-Studien- gang »Pädagogik der Kindheit und Familienbildung«, Fachhochschule Köln - Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften.