Titelthema
Herausfordernde Chancen
Wie könnte ein katholisches Profil aussehen, das Pluralität der Mitarbeitenden als Selbstverständlichkeit, aber auch als Teil des eigenen Selbstverständnisses ernst nimmt? Antworten von Peter Neher.
Martinsumzug: Eine schiitische Erzieherin, die in einer evangelischen Einrichtung angestellt ist, erarbeitet mit den Kindern die Martinsgeschichte, übt sie mit ihnen ein und leitet das Spiel im Rahmen des gemeinsamen Umzugs an. Was mir ein Mitarbeiter vor kurzem vom Martinsumzug seiner Kinder berichtete, mag auf den ersten Blick nicht zusammenpassen. Dieses Beispiel zeigt aber, welche Möglichkeiten Einrichtungen haben, die sich ihrer eigenen Multireligiosität bewusst sind und diese zu gestalten wissen. Es macht aber auch deutlich, welche Impulse religiös gebundene Einrichtungen in einer sich zunehmend pluralisierenden und säkularen Gesellschaft setzen können.
Längst sind Kitas zu zentralen gesellschaftlichen Orten geworden, in denen sich Menschen unterschiedlicher religiöser Sozialisation treffen, miteinander leben und lernen. Dies gilt nicht nur für Kinder, sondern auch für die Teams. Was heißt dies aber für caritative Einrichtungen? Welche Chancen und Herausforderungen bieten sie?
1. Multireligiös und multispirituell
Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich in der Bundesrepublik auch aufgrund der Zuwanderung vieler Menschen eine vielfältige Gesellschaft entwickelt. Sie zeichnet sich durch ein Nebeneinander unterschiedlichster Religionen und Weltanschauungen aus. Auch wenn es regionale Unterschiede gibt, ist diese Vielfalt insgesamt doch zu einem alltäglichen Phänomen unserer Gesellschaft geworden.
Sie besteht aber nicht nur zwischen religiösen und säkularen Weltanschauungen. Auch die Religionsgemeinschaften und Konfessionen sind in sich plural, schließlich handelt es sich bei der religiösen Identitätsbildung um einen höchst individuellen Prozess. »›Meine‹ Identität hängt ab von gegebenen Beziehungen, und meine eigene Interpretation ist immer eine Reformulierung oder Repräsentation dessen, was Gegenstand der Erfahrung gewesen ist.«1 Nur wenige haben die Konsequenz dessen so pointiert auf den Punkt gebracht wie der Soziologe Hans Joas mit seiner bekannten Formulierung vom Glauben als Option.2 Das Leben besteht aus einer Vielzahl an religiösen Optionen, die individuell angeeignet werden müssen. »›Sinn‹ ist in der modernen Gesellschaft eben nicht mehr fraglos Gegebenes und Selbstverständliches, zumal eine Fülle von Sinnangeboten und beruflichen Sinnstifter(inn)en konkurrieren: um Handlungssinn, institutionellen Sinn und um Lebenssinn.«3
Was dies konkret heißt, macht beispielsweise die sogenannte »Würzburg-Studie« deutlich, in der mehr als 5000 Mitarbeitende des Caritasverbands für die Diözese Würzburg zu ihrem Glauben befragt wurden. Die Ergebnisse machen eine Vielfalt an Spiritualität und individuellen Glaubenszugängen und -überzeugungen unter den katholischen Mitarbeitenden deutlich, die es notwendig machen, nicht nur von multireligiösen, sondern auch von multispirituellen Teams zu sprechen.4 Konsequent fordern die Autoren der Studie die Vielfalt als Zeichen der Zeit »im Lichte des Evangeliums zu deuten und kreativ wie lernend zu gestalten«.5 Kirchliche Einrichtungen sind Teil einer hoch differenzierten Gesellschaft. Diese Pluralität ist dort längst zu erleben. Religiös und spirituell plurale Teams sind aber nicht nur Ausdruck einer gesellschaftlichen Entwicklung, sie bieten auch die Möglichkeit, diese Vielfalt aufzugreifen und als Ausdruck des eigenen Sendungsauftrags zu verstehen.
2. Caritatives Selbstverständnis in vielfältiger Gesellschaft
Von ihrem Selbstverständnis her, richtet sich die sozial-caritative Arbeit an alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft oder ihres weltanschaulichen Hintergrunds.6 Damit weiß sie sich einem Solidaritätsverständnis verpflichtet, wie es beispielsweise das II. Vatikanische Konzil formuliert hat: »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen dieser Zeit, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind Freude und Hoffnung, Trauer und Angst auch der Jünger Christi, und es findet sich nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihrem Herzen widerhallte.« (GS 1,1)7.
Dennoch liegt es auf der Hand, dass die Vielfalt an Lebenswelten sowohl der Mitarbeitenden als auch der Kinder zu einer Herausforderung für das christliche Profil einer Einrichtung geworden ist. Kitas haben die Aufgabe, ihre katholische Identität zu leben beziehungsweise diese unter den Gegebenheiten weiterzuentwickeln. Gleichzeitig haben sie mehr denn je die Aufgabe, eine Offenheit für die kulturelle und religiöse Vielfalt zu entwickeln, die eine Einrichtung durch ihre Menschen prägen. Dabei können sich die Einrichtungen von der christlichen Botschaft eines bedingungslos liebenden Gottes bestärkt wissen. Dass diese Liebe allen Menschen gilt, wollen caritative Einrichtungen greif- und erfahrbar machen.
»Katholische Profilbildung verläuft immer in einer Dynamik von Bezogenheit für die eigene Religion und der in ihr gegebenen Entgrenzung (›Liebe für alle Menschen erfahrbar machen‹).«8 Auf dieser Basis hält die christliche Botschaft Perspektiven für ein Miteinander bereit, das Leben in seiner Vielfalt wertschätzt und einen Beitrag zu einem toleranten Miteinander leisten will. Diese Offenheit für kulturelle und religiöse Vielfalt, die aus einer christlichen Identität kommt, muss sich dabei auf die Kinder einer Einrichtung und ihre Eltern beziehen und bei Bedarf und nach sorgfältiger Abwägung auch auf die Mitarbeitenden.
Es ist eine Grundvoraussetzung, dass Mitarbeitende diesen Sendungsauftrag kirchlich-caritativer Einrichtungen mittragen. Hierzu gehört es auch, dass Träger und Einrichtungen deutlich machen, wofür sie stehen. Denn caritative Arbeit erfordert als wertegebundener Dienst eine besondere Identifikation und Loyalität, die aber nicht einer abstrakten Caritas gilt, sondern der Einrichtung, die als caritativer Ort den Sendungsauftrag der Kirche verwirklicht.9 Mitarbeitende sollen die Ziele und Werte einer Einrichtung vertreten. Das gemeinsame caritative Handeln im Sinne des diakonischen Auftrags der Kirche ist die Basis einer Dienstgemeinschaft, die versucht ihr Handeln an gemeinsamen Werten wie Solidarität, Personalität, Subsidiarität und Gemeinwohlorientierung auszurichten. An diesem Auftrag, die universale Liebe Gottes erfahrbar zu machen, können auch Menschen ohne Religionszugehörigkeit oder mit anderer Religionszugehörigkeit teilhaben.
Die damit verbundene Vielfalt an Zugängen zum Sendungsauftrag bietet Chancen. Denn Caritaseinrichtungen sind Orte der gegenseitigen Begegnung und damit auch Orte der gemeinsamen Auseinandersetzung mit dem, was Menschen ausmacht und was sie trägt. »Caritasorganisationen sind sichtbare und erlebbare Orte der Kirche und Teil der Zivilgesellschaft. In diesen Begegnungsorten wird der christliche Glaube konkret in der Lebenswelt der Hilfesuchenden sowie der Mitarbeitenden und deren Wirkungsfeld. Caritasorganisationen sind Lernorte für Mitarbeitende, für die Caritas selbst, die Menschen vor Ort und die ganze Kirche.«10
3. Caritaseinrichtungen als Orte des religiösen Dialogs
Eine katholische Einrichtung, die sich im eben beschriebenen Sinn auf die Welt einlässt, wird sich verändern, weil sie durch die Begegnung mit anderen Lebenswelten mehr über sich und die christliche Botschaft lernen wird. Teams in katholischen Kitas sind längst spirituell und mitunter auch religiös vielfältig. Diese Pluralität kann bereichernd sein, wenn es gelingt, religiöse und spirituelle Erfahrungs- und Lernorte zu schaffen - und das im Wissen um die eigenen Wurzeln und die eigene Identität. Trotz oder gerade aufgrund ihrer Pluralität können sich Dienstgemeinschaften »durchaus als vitale Kommunikationsgemeinschaften erfahren, in denen die angehörenden Menschen in Glaubens- und Sinnfragen über Verständigungsfähigkeit verfügen«.11
Erfahrungen im interreligiösen Dialog zeigen, dass Auseinandersetzungen mit anderen Perspektiven und Glaubensüberzeugungen positive Auswirkungen auf die Ausbildung einer religiösen Identität haben können. Sie können neue Perspektiven auf Altbekanntes mit sich bringen. Sie können aber auch helfen, eigene Glaubensüberzeugungen neu zu formulieren, oder neue Einsichten mit sich bringen, die das eigene Gottesbild verändern. »Der Dialog mit anderen ist maßgebend für die eigene religiöse Identität. Dialog kann so auch als spirituelle Praxis verstanden werden, die den Lernenden auf dem eigenen religiösen Weg voranbringt.«12
Themen wie Tod, Krankheit oder Liebe prägen das menschliche Leben und sind durch gesellschaftliche oder religiöse Vorstellungen geprägt. Die Auseinandersetzung fördert nicht nur gegenseitiges Verstehen, sie hilft auch das eigene Verständnis deutlicher werden zu lassen. So könnte beispielsweise die Fastenpraxis eines muslimischen Mitarbeitenden genutzt werden, um das damit verbundene Verständnis mit den Vorstellungen des katholischen Glaubens in Beziehung zu bringen. Was natürlich auch in umgekehrter Weise gilt: ausgehend von der katholischen Praxis das Fastenverständnis anderer zu thematisieren.
Wie vielschichtig dieser Prozess sein kann, zeigt exemplarisch die Darstellung von Martin Rötting: »Wir erfahren etwas […], reflektieren das Erfahrene […], vergleichen es mit vorhandenen Kategorien und Konzepten […] und gehen mit diesem Wissen aktiv in neue Erfahrungen. […] Dabei begegnen sich Menschen mit ihrer je eigenen Lebenswelt, ihrer Geschichte, ihren eigenen Erfahrungen und Hoffnungen und ihrem Glauben. In der Begegnung sind es immer einzelne Aspekte der anderen Religion, die als Anfrage oder Herausforderung besonders auffallen und einen Anknüpfungspunkt für den interreligiösen Lernprozess darstellen.«13
4. Religionspluralität als Chance
Religiöse Weltanschauungen gibt es nicht einfach. Sie entwickeln sich und leben von den Menschen, die sich mit ihnen auseinandersetzen. Gerade interreligiöse Konstellationen können eine positive Wirkung auf die Ausbildung und Weiterentwicklung einer religiösen Identität haben. Interreligiöse Dialoge bieten die Möglichkeit, Gemeinsamkeiten, aber auch die Besonderheiten und Unterschiede von Weltanschauungen zu entdecken. Sie laden aber auch dazu ein, den eigenen Glauben neu zu entdecken und darüber zu lernen. Dies ist eine weitere zentrale Botschaft des II. Vatikanischen Konzils: »Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet.« (NA 2)14
Was in einem Team gelebt wird, hat Auswirkungen auf das Arbeiten und Leben von Einrichtungen. Denn mehr denn je sind Kitas zentrale lebensweltliche Einrichtungen, die einen bedeutenden Beitrag zum interreligiösen Dialog und zur Ausbildung von Toleranz leisten können. Insofern gilt es die Mitarbeitenden zu befähigen, eigene interreligiöse Lernprozesse zu gestalten, aber auch die der Kinder und möglicherweise die der Eltern zu begleiten. Die Grundordnung bietet Möglichkeiten, Andersgläubige einzustellen. Das Wort der Deutschen Bischöfe zum Profil von Einrichtungen in katholischer Trägerschaft15 macht deutlich, dass es durchaus möglich ist, in einer Kita in katholischer Trägerschaft beispielsweise eine muslimische Erzieherin einzustellen. Vorausgesetzt, diese trägt im oben genannten Sinne die katholischen Werte und Überzeugungen mit, die das Profil und die Ziele der Einrichtungen prägen. Diese Möglichkeit sollten wir nicht nur nutzen, wir sollten sie vor allem gestalten.
Prälat Dr. Peter Neher
Präsident des Deutschen Caritasverbands.
Anmerkungen
1 Michael von Brück: Identität und Dialog, in: Martin Rötting, Simone Sinn, Aykan Inan
(Hrsg.): Praxisbuch Interreligiöser Dialog. Begegnungen initiieren und begleiten, Sankt
Ottilien: eos 2016, S. 35.
2 Vgl. Hans Joas: Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg: Herder 2012, S. 10.
3 Michael N. Ebertz, Lucia Segler: Spiritualitäten als Ressource für eine dienende Kirche. Die
Würzburg-Studie, Würzburg: echter 2016, S. 26.
4 Vgl. ebd., S. 251.
5 Ebd., S. 253.
6 Vgl. Die deutschen Bischöfe: Das katholische Profil caritativer Dienste und Einrichtungen in der pluralen Gesellschaft, Arbeitshilfe Nr. 98, Bonn 2014, S. 36.
7 Pastorale Konstitution Gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute; www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19651207_gaudiumet-
spes_ge.html (Zugriff: 03.12.19).
8 Prälat Wolfgang Tripp/Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart (Hrsg.): Die christliche Botschaft als Basis für den Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt, in: Vielfältig glauben - gemeinsam engagiert, Impulse Nr. 16 (2013), S. 6.
9 Vgl. Wegmarken Zukunftsdialog Caritas 2020, Freiburg 2015, A2.
10 Deutscher Caritasverband: Merkmale verbandlicher Caritasidentität für berufliche Mitarbeitende, in: neue caritas 21 (2015), S. 32.
11 Boris Krause: Vielstimmiger Glaube in der Caritas, in: neue caritas 11 (2017), S. 20.
12 Martin Rötting: Interreligiöse Lernprozesse und Dialog-Typen, in: Martin Rötting, Simone Sinn, Aykan Inan (Hrsg.): Praxisbuch Interreligiöser Dialog. Begegnungen initiieren und begleiten, Sankt Otilien: eos 2016, S. 107.
13 Ebd., S. 108.
14 Vgl. Erklärung Nostra Aetate über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, Nr. 2; www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_decl_19651028_nostra-aetate_ge.html (Zugriff: 03. 12. 19).
15 Die deutschen Bischöfe: Das katholische Profil caritativer Dienste und Einrichtungen in der pluralen Gesellschaft, Arbeitshilfe Nr. 98, Bonn 2014.