Titelthema
Kindheit ist nicht kinderleicht
Probleme sind für Kinder allgegenwärtige Lern- und Entwicklungsnotwendigkeiten. Rainer Strätz zeigt, welche Bewältigungsstrategien sie dabei anwenden.
Vor Schicksalsschlägen und unvorhersehbaren Enttäuschungen können wir Kinder leider nicht schützen, wir können sie nur trösten, begleiten und auf ihre Resilienz vertrauen. Vor Gefährdungen hingegen, die Kinder noch nicht abschätzen können, müssen wir sie bewahren. Probleme aber sind zunächst nicht problematisch, denn Kinder können mit ihnen umgehen lernen (Bewältigungsstrategien, siehe unten) und an ihnen wachsen: Selbstvertrauen ist »das Zutrauen zu sich selbst, Probleme und Konflikte angemessen lösen zu können, und die daraus entstehende angstfreie Grundeinstellung gegenüber der dinglichen und sozialen Umwelt« (Niermann 1979, S. 274). Selbstvertrauen ist die unerlässliche Voraussetzung für ein gelingendes Leben; bewältigte Probleme sind die kleinen Stufen auf dem Weg dahin.
Durch die Auseinandersetzung mit Problemen entwickelt sich nämlich die Fähigkeit, Erfolge und Misserfolge angemessen und flexibel zu reflektieren und einzuschätzen: Was genau ist problematisch gewesen? Was hat geholfen? Habe ich Hilfsangebote genutzt? War ich zu ungestüm oder unvorsichtig? Habe ich mich genügend angestrengt? Hätte ich besser die Finger davon gelassen? Diese einzelfallbezogenen Reflexionen, die den eigenen Anteil und die äußeren Umstände immer wieder neu abwägen, sind die entscheidende Voraussetzung dafür, die nächste Herausforderung sachgerechter, entschlossen und zuversichtlich anzugehen und entweder zu bewältigen oder zu verarbeiten.
Wenn das nicht gelingt, schleifen sich starre Haltungen ein, die entweder zu Selbstüberschätzung oder zu Vermeidungshaltungen und pauschalen Schuldzuschreibungen führen: Einige Menschen reagieren bei Misserfolgen immer extrapunitiv (»Es lag an anderen oder an äußeren Gegebenheiten«), andere ständig intropunitiv (»Es lag an mir«), wieder andere impunitiv (»Keiner ist schuld«). Diese Reaktionsmuster gehören zu den ältesten, die die Persönlichkeitspsychologie erforscht hat (Rosenzweig 1934). Später zeigte sich, dass dieselben Muster auch bei Erfolgen und anderen Ereignissen greifen können (Rotter 1966, Piontkowski 1989).
Definition
Ein Problem ist eine Anforderung, in der zwischen unerwünschtem Anfangszustand und gewünschtem Endzustand ein Hindernis auftritt, das den Übergang (zunächst) verhindert. Für uns Erwachsene sind kleine, aber nervige Probleme Einzelereignisse: die festgerostete Schraube, die unterschätzte Fahrzeit, die Blume, die vor sich hin kümmert, das unbekannte Fremdwort, der vergessene Einkaufszettel. Für Kinder sind Probleme allgegenwärtige Lern- und Entwicklungsnotwendigkeiten. Drei Problemtypen lassen sich unterscheiden:
1. Sachliche Probleme
Kinder arbeiten sich an vielem ab, was sie noch nicht kennen oder nicht verstehen und daher auch nicht nutzen können. Oft fehlt es an körperlichen Voraussetzungen: an Kraft, Geschicklichkeit oder Koordinationsfähigkeit.
Manche Probleme ergeben sich erst im Lauf des Geschehens. Ein Beispiel: Kinder haben im Treppenhaus der Kita eine lange Bällebahn gebaut und finden es bald lästig, immer wieder nach unten laufen zu müssen, um die Bälle zurückzuholen. Ihre Lösung: die »Ball-nach-oben-bring-Maschine«, eine Art Flaschenzug (s. Henning/Hilmer 2009).
Oft werden Probleme auch zielstrebig gesucht, um die eigene »Selbstwirksamkeit« auf die Probe zu stellen. Typische Redewendungen dabei: »Ich auch!« oder »Selber machen!«
Auf die Fähigkeit, sachliche Probleme zu meistern, zielt übrigens auch der Ansatz der PISA-Studien: Untersuchungsgegenstand dort ist nicht schulisch vermitteltes Wissen, sondern die Fähigkeit, das verfügbare Wissen zur Bewältigung von (Alltags-)Problemen und Handlungszusammenhängen einzusetzen (»fächerübergreifende Problemlösekompetenz«). Angesichts der rapide sinkenden Halbwertszeit des aktuellen Wissens in der heutigen Informationsgesellschaft kommt es nämlich vor allem darauf an, ständig (»lebenslanges Lernen«) neues Wissen zu erwerben, sich verfügbar zu machen und zu Problemlösungen einzusetzen (vgl. Baumert et al. 1999).
2. Soziale Probleme oder Konflikte
Hier geht es um Schwierigkeiten bei der Kommunikation, der Interaktion oder der Kooperation. Wir bewundern oft, wie gut sich Kinder auch ohne Sprache verständigen können, aber manchmal gelingt es doch nicht. Darüber hinaus geht es um Abstimmung, Hilfestellung, Fairness oder Rollentausch. Eine entscheidende Bewältigungsstrategie ist die »Perspektivenübernahme«, die Bereitschaft und Fähigkeit, die Situation auch einmal aus der Sicht der/des anderen zu sehen.
3. Wertprobleme
Wir haben verschiedene Werte, daraus können im Zusammenleben Probleme entstehen. Wechselseitiger Respekt hilft dann oft, eine Lösung zu finden:
»Wenn dir das wichtig ist, dann …« Das hat allerdings auch Grenzen, bekanntlich »kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt« (Schiller, Wilhelm Tell). Zudem erzeugen wir selbst Probleme, wenn wir spontan nicht immer in Einklang mit den eigenen Werten handeln. Auch wenn wir das im Nachhinein bedauern, muss das so entstandene Problem gelöst werden.
Problemlösestrategien
Eine Möglichkeit: Üben, das heißt immer wieder dasselbe versuchen. Das trainiert bei körperlichen Herausforderungen Kraft beziehungsweise Schnelligkeit. Eher in Richtung Geschicklichkeit geht das Training der Angemessenheit des Krafteinsatzes oder der Koordination von Auge und Hand.
Bei Problemen, die zunächst einmal durchschaut werden müssen, ist ständige Wiederholung allerdings nutzlos und frustrierend. Hier gilt es innezuhalten, die Schwierigkeit möglichst genau zu analysieren und einen neuen Lösungsweg zu suchen.
Häufig helfen Strategien des sozialen Lernens: Anderen etwas abschauen, gemeinsam überlegen und ausprobieren, andere um Rat beziehungsweise Hilfestellung fragen. Die Auseinandersetzung mit Problemen ist daher auch eine der besten Möglichkeiten der Sprachförderung, denn oft geht es darum, Problem und Lösungsmöglichkeiten verständlich zu beschreiben und präzise zu kommunizieren. Übrigens: Kinderkönnen oft anderen Kindern besser etwas erklären oder beibringen, als Erwachsene das könnten.
Selbstbildung im Sinne von Gerd E. Schäfer hat viel mit Problemlösen zu tun. Schäfer beschreibt eindrücklich, wie genau Kinder hinschauen, sich ihren Reim auf das machen, was passiert, Sinnzusammenhänge erkennen. Ein besonders wichtiges »Selbstbildungspotenzial« in seiner Liste (vgl. Schäfer 2011) ist der »Umgang mit Komplexität«: Wenn Kinder erkennen, dass etwas (noch) zu schwierig wäre, lassen sie meistens die Finger davon; was aber machbar erscheint, wird hartnäckig versucht.
Das Problemlösen von Kindern ist in vielen Aspekten dem der Erwachsenen ähnlich, hat aber drei Besonderheiten, wie sorgfältige Analysen von Videoaufzeichnungen ergaben. Danach »ist das gestalterisch-konstruktive Problemlösen von Sechs- und Achtjährigen gekennzeichnet durch das Zusammenspiel von Rationalität und Emotionalität, durch die Art, direkt auf die Lösung zuzusteuern und durch eine sehr subjektive Weise, das Problem zu erfassen« (Wyss 2016, S. 280).
Wie immer ist das Spiel keine Spielerei, sondern eine der wichtigsten Möglichkeiten der Auseinandersetzung und der Erprobung von möglichen Lösungen, besonders bei sozialen Problemen. Das wird klarer, wenn die Thematiken betrachtet werden, die regelmäßig im kindlichen Spiel auftauchen: Aufbauen und Zerstören, Zuflucht, Besitz, (All-)Macht und Kontrolle, Selbst und Identität, Sauberkeitserziehung und deren Bewältigung, Freundschaft und Rivalität, Bindung und Bindungsunsicherheit. Kinder versuchen oft, ein Problem zunächst im Spiel zu bewältigen, indem sie sich erstens dieser Realität zumindest im Spiel stellen (und nur im Spiel ist ihnen dies zunächst möglich), indem sie zweitens die Realität (zumindest im Spiel) verändern - zumeist zu ihren Gunsten - und drittens im Spiel eine Gegenwelt schaffen, in und mit der sich dann auch die Realität besser aushalten lässt. Kinder spielen sich viel von der Seele, dabei sollten sie möglichst wenig gestört werden.
Erfolg und Misserfolg
Wenn ein Kind neunmal scheitert, hat es vielleicht beim zehnten Mal Erfolg. Und dann wächst viel innere Motivation und Selbstbewusstsein, das Lob der Erwachsenen ist meistens unnötig. Eine andere Form der Selbstbelohnung ist die anschließende genüssliche Spielphase mit dem Ding, das gerade noch so viel Mühe gemacht hat.
Nicht jede Schwierigkeit wird aber zufriedenstellend gelöst werden, dann kann und muss sich die Fähigkeit zur angemessenen, das heißt einzelfallbezogenen Reflexion von Misserfolgen entwickeln.
Auch beim Herangehen an Probleme sind Kinder verschieden, die Palette reicht vom ungestümen Drauflosstürzen bis zur übervorsichtigen Selbstlähmung. Pädagogisch geht es auch hier nicht darum, dass die Kinder gleich werden, sondern darum, dass jedes Kind beide Pole im Blick hat, das Vorsichtige auch den Reiz des Erfolgs spürt und das Draufgängerische auch die Möglichkeit des Misserfolgs in Betracht zieht.
Pädagogische Aufgaben
In der unmittelbaren Reaktion kommt zunächst die Anteilnahme zum Ausdruck, die auch bei scheinbar »kleinen« Problemen den Schmerz der Kinder ernst nimmt. Es geht ja nicht um die Größe des Problems, sondern um die der Enttäuschung. Danach braucht das Kind Hilfestellung und Hinweise. Ein Beispiel: Ein Kind fährt noch recht unsicher mit einem Tretroller und stürzt. Mit Sätzen wie »Das war doch nicht so schlimm« oder »Dazu bist du ja auch noch zu klein« kann die pädagogische Fachkraft das Kind demoralisieren. Stattdessen ist es wichtig, das Kind zu ermutigen, es noch einmal zu versuchen, und ihm dazu etwas an die Hand zu geben, was es ändern kann, zum Beispiel: »Bist du vielleicht zu schnell gefahren?« oder »Lag da etwas im Weg?«
Die Beobachtung zeigt weitere Hilfsmöglichkeiten auf. Immer wieder hört wohl jede pädagogische Fachkraft den - weinend, enttäuscht oder wütend vorgebrachten - Satz: »Die lassen mich nicht mitspielen!« Um helfen zu können, ist es notwendig, in der nächsten Zeit bewusst darauf zu achten, wie das Kind versucht, Spielkontakte zu knüpfen. Vielleicht sucht es sich einen ungünstigen Moment aus oder versucht, Zugang zu einer Gruppe zu gewinnen, die gerade völlig in ihr Spiel vertieft ist. Vielleicht versucht es, in »Hoppla, jetzt komm ich!«-Manier abrupt ins Spiel einzusteigen. Vielleicht versucht es, das gemeinsame Spiel bis ins Kleinste hinein zu bestimmen, so dass die anderen Kinder schließlich die Lust verlieren.
Manche Kinder stehen am Rand und wirken unglücklich dabei. Also wäre zu fragen: Erkenne ich, was dieses Kind will? Erkennen es die anderen Kinder? Kann ein Kind sich verständlich machen? (Manche Kinder äußern ihre Absichten und Wünsche nur sehr leise, manchmal nur versteckt/symbolisch.) Traut es sich, seine Wünsche anzumelden? (Die große »Kinderkonferenz« in der Gesamtgruppe kann hier ein Problem sein, wenn einige Kinder das Gespräch dominieren und andere entmutigen, ihre Meinung zu sagen.) Traut sich ein Kind, sich gegen Mehrheiten zu stellen? Ermutige ich es dazu?
Beobachtung kann auch bereits vorhandene Problemlösekompetenzen deutlich machen. Ein Beispiel: Im Bewegungsraum ist die Attraktion ein »Piratenschiff«, das über eine schrägstehende Leiter und eine waagerechte Planke geentert wird. Mutige Piraten können zum Abschluss von einem Podest ins »Meer« herunterspringen. An einem Morgen ist ein knapp vierjähriger Junge mal hier, mal da im Bewegungsraum zu sehen, an keinem Spiel nimmt er teil. Als er aber nach einer Stunde zielstrebig zur Leiter läuft, um selbst Pirat zu werden, wird seine Leistung klar: Er hat aus verschiedenen Perspektiven sorgfältig beobachtet, was ein Pirat im Einzelnen tun muss.
Auch wenn es darum geht, bei einem Kind »die Stärken zu stärken«, gibt Beobachtung die Mittel dazu.
Nicht zuletzt ist Aushalten eine weitere pädagogische Aufgabe: Vieles gelingt nicht auf Anhieb und dann entwickeln die meisten Kinder eine viel größere Hartnäckigkeit, als viele Erwachsene ihnen zutrauen würden. Nicht nur die Kinder müssen den mühsamen Weg zur Problemlösung aushalten, sondern besonders wir Erwachsenen.
Kinder lösen manche Probleme auf ihre Weise, sie legen zum Beispiel neue Regeln bei einem Spiel fest, das zu komplizierte Regeln hat. Hier geht es darum, die eigenwillige Problemlösung nicht nur zu akzeptieren, sondern zu würdigen.
Um jedes einzelne Kind bei der Entwicklung seiner Problemlösekompetenzen beobachten, begleiten und fördern zu können, brauchen pädagogische Fachkräfte dringend bessere Arbeitsbedingungen, denn diese Entwicklungsaufgabe steht genau in diesem Lebensalter an, die Kinder brauchen jetzt Herausforderungen, Erfolgserlebnisse und Begleitung, um sich zu stabilisieren und zu wachsen. Bleibt zu hoffen, dass auch die Politik das bald einsieht.
Prof. Dr. Rainer Strätz
Ehemals Lehrtätigkeit im BA-Studiengang »Pädagogik der Kindheit und Familienbildung« an der Fachhochschule Köln.
Literatur
- Baumert, Jürgen et al. (1999): Erfassung fächerübergreifender Problemlösekompetenzen in PISA (Download unter: https://hdl.handle.net/11858/00-001M-0000-0025-A758-3, Zugriff am 3. 11. 2022)
- Henning, Michaela/Hilmer, Ursula (2009): Die »Ball-nach-oben-bring-Vorrichtung«. Kinder bauen einen Flaschenzug, in: kindergarten heute 2, S. 30 - 33
- Niermann, Monika M. (Hrsg.) (1979): Wörterbuch der Vorschulerziehung; Band 2; Heidelberg: UTB
- Piontkowski, Ursula (1989): Erfahrungen mit einer deutschen Form des ROTIE: Befunde und Normwerte, in: G. Krampen (Hrsg.): Diagnostik von Attributionen und Kontrollüberzeugungen, Göttingen: Hogrefe, S. 71 - 79
- Rosenzweig, Saul (1934): Types of reaction to frustration, in: Journal of Abnormal Social Psychology, 29. Jahrgang, S. 298 - 300
- Rotter, Julian B. (1966): Generalized expectancies for internal versus external control of reinforcement, in: Psychological Monographs 33(1), S. 300 - 303
- Schäfer, Gerd E. (2011): Bildung beginnt mit der Geburt. Für eine Kultur des Lernens in Kindertageseinrichtungen; Berlin: Cornelsen
- Wyss Beer, Barbara (2016): Gestalterisch-konstruktives Problemlösen von Sechs- und Achtjährigen. Theoretische Grundlagen und empirische Studie zur Technischen Gestaltung in Kindergarten und Unterstufe. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg (Download unter: https://opus.bibliothek.uni-augsburg.de/opus4/frontdoor/deliver/index/docId/37902/file/ Wyss_Dissertation.pdf, Zugriff am 2. 11. 2022)