Titelthema
Risiko? Aber sicher!
Warum wir Kinder nicht von allen Gefahren abschirmen können und inwiefern vielseitige Bewegungsanreize und Grenzerfahrungen ein unverzichtbares Entwicklungspotenzial für sie darstellen, erklärt Gerburg Fuchs.
Bewegung ist ein zentraler Aspekt in der pädagogischen Arbeit mit Kindern. Warum ist es lebensnotwendig, Kindern ihre Freiräume zu lassen? Weil Bewegung, das wird immer wieder von der Wissenschaft belegt, die Grundlage menschlicher Entwicklung ist. Die allgemeinen Menschenrechte geben eine Orientierung für das eigene Handeln an die Hand, mit Kindern diese Freiräume ausloten zu können. In diesem Beitrag soll es um die Frage der Sicherheits- und Gesundheitsförderung in Kindertageseinrichtungen und um die Risikokompetenz von Kindern gehen. Wie können wir als Pädagog*innen im Handeln mutiger werden, trotz gegenwärtiger Rahmenbedingungen? Die Botschaft der Unfallkassen lautete vor zwölf Jahren: »Bewegungsförderung ist Sicherheitsförderung.« Es ist unerlässlich, »Kindern im Alltag vielseitige Möglichkeiten zu bieten, wo sie lernen können, mit kalkulierbaren Gefahren umzugehen«.1
Was hat sich seitdem verändert? Vieles! Einige Erzieher*innen spüren die Grenze ihrer Belastbarkeit, und damit verbunden rücken auch die allgemeinen Menschenrechte und die Rechte der Kinder in den Mittelpunkt des Alltagsgeschehens. Unfall- und Krankenkassen betonen nach wie vor: »Vielseitige Bewegungserfahrungen sind im Vorschulalter unverzichtbar für die kognitive, emotionale und soziale Entwicklung von Kindern.« Daher empfehlen die Unfallkassen, Kindern ihre Freiräume zu lassen und lediglich darauf zu achten, dass sie nicht in Bereiche kommen, deren Gefahren sie nicht abschätzen können. »Das sichere pädagogische Handeln ist abzuwägen mit dem Bedürfnis eines Kindes und seinem Recht, selbstbestimmt aktiv zu sein.«2
Als Erwachsene haben wir die Pflicht und die Aufgabe, auf Unterschiede zwischen dem eigenen Bedürfnis und dem Bedürfnis eines Kindes zu achten. Wenn wir uns am einzelnen Kind in der Gruppe orientieren, so können wir seine Fähigkeiten, seine Absichten und die gegenwärtigen Umstände besser erkennen, einordnen und leichter abwägen, welche Entscheidung in der aktuellen Situation sinnvoll ist. Bei einem Kind lautet die Entscheidung dann vielleicht, ihm den Freiraum zu lassen, mit gewissen Schwierigkeiten und Gefahren umzugehen. Und bei einem anderen Kind in der Situation sieht man: Es braucht eine Grenze.
Das klingt einfach, doch die Verantwortung der Erwachsenen, angemessene Entscheidungen zu treffen und sich danach zu verhalten, ist immer mit einem Risiko verbunden. Das Problem ist: Jede und jeder Einzelne trägt die Verantwortung für sein Tun und Lassen, daher die verbreitete Angst, etwas Falsches zu tun. Wie spürt ein Kind, wie ein Erwachsener die eigene Grenze? Wie kann man erfahren, was funktioniert und was nicht funktioniert? Jede und jeder hat einen Handlungsspielraum. Bei Kindern können wir an der Körpersprache ablesen, was sinnvoll ist zu tun, um sicher handeln zu können. Wo Grenzen und Unterschiede spürbar und sichtbar werden, da beginnt gegenseitiges Vertrauen zu wachsen.
Aufmerksam und achtsam sein
Auf dem Bild sehen wir einen knapp dreijährigen Jungen im Kita-Außengelände mit einer Schubkarre in der Hand ein schräg aufgestelltes Brett hochlaufen. Auf den ersten Blick liegen uns schon Worte auf den Lippen bereit wie »So geht das nicht«, »Das ist zu gefährlich«, »Das ist verboten« … Wir Erwachsenen wissen, wie beispielsweise eine Gärtnerin oder ein Gärtner einen Schubkarren schiebt. Doch was bewegt ein Kind, mit einem Schubkarren so zu agieren wie auf dem Bild? Wie anstrengend kann dieser Moment für Erwachsene sein, nicht gleich einzugreifen, sondern diesen Versuch eines Kindes aufmerksam zu begleiten, zu warten und eine kurze »Denk-Pause« einzulegen. Welche Informationen offenbaren sich in diesem Augenblick? Was verändert sich in der unvorhersehbaren Situation, wenn es uns gelingt, wach dabei zu sein und den eigenen Gedanken Aufmerksamkeit zu schenken? Und was passiert, wenn einem die Worte nicht frühzeitig aus dem Mund springen, sondern nochmals überprüft werden? Es ist Arbeit und eine anerkennungswürdige Leistung, erst einmal einfach »nur« still zu schauen und sich auf die gegenwärtige Situation einzulassen, wissend, es kann auch schief gehen.
Ein Beispiel, eine kurze »Sofa-Geschichte« aus dem Leben: Zu Hause, im Esszimmer, steht ein Ledersofa. Es ist ungefähr zwei Meter lang, nicht sehr breit, schätzungsweise 70 Zentimeter, und gut gepolstert. Das Sofa hat eine Rückenlehne und die Sitzfläche ist circa 60 Zentimeter vom Holzparkett entfernt. In den Augen eines Kindes ist das Polstermöbel ideal zum Springen. Wie oft ist Susi als Kind zu Hause vom Sofa gefallen? Heimlich hat sie das Möbelstück als Trampolin benutzt, um Luftsprünge zu üben. Susi ist öfters abgerutscht, weil sie anfangs noch Strümpfe anhatte und die Sitzfläche glatt und schmal ist. Einmal beim Abrutschen ist Susi mit dem Kopf auf dem Holzboden gelandet. Sie hatte eine Platzwunde, und aus Angst hat sie die Wunde mit einer Mullbinde um den Kopf selbst versorgt und sich schnell ins Bett gelegt. Es war nachmittags, die Mutter suchte nach dem Kind und fand Susi im Bett liegend mit dem Verband um den Kopf. »Was ist passiert?« Susi erzählte ihrer Mutter die »Sofa-Geschichte«, dass sie vom Sofa gefallen sei. Doch was sie ihr nicht erzählte, war, dass sie auf dem Sofa Trampolinspringen geübt hat, weil es ihr schon so oft verboten worden war. Heute kann sich die junge Frau nicht mehr erinnern, dass ihre Mutter mit ihr geschimpft hat. Hatte sie damals vielleicht Verständnis?
Kennen Sie, liebe Leserinnen und Leser, auch solche Geschichten aus ihrer Kindheit? Bewusst oder unbewusst tun wir Dinge und finden im Ernstfall eine Lösung. Planvolles Tun und Risiko ist untrennbar. Es ist ein Wagnis und gleichzeitig ein Wunsch, ein Bedürfnis und ein Recht des Kindes, Erfahrungen zu sammeln.
Risiko und Prävention - ein Widerspruch?
Einen Blick für alle Individuen zu bekommen, ist eine komplexe, kaum beachtete pädagogische Höchst-leistung. Jeden Tag in der Kita verändern sich die Gruppenkonstellationen der Kinder und der betreuenden Kolleg*innen. Vergleichbar mit der Art, wie der Kapitän eines Schiffes auf dem Meer seinen Standort immer wieder genau feststellen muss, um in der Lage zu sein, den richtigen Kurs zu bestimmen. Schauen wir Kindern beim Spielen zu, wie sie ihre Rollen verteilen und ihre Spielprozesse gestalten, so erkennen wir: Das Drehbuch wird beim Spielen unsichtbar geschrieben, doch wie sich die Beziehungsstrukturen zu einem Muster verweben, wird erst mit der Zeit sichtbar.
Kinder verändern ihre Spielorte mehrere Male in einer Stunde. Sie brauchen kaum Material dafür, weil ihre Fantasie grenzenlos ist. Immer wieder werden Freundschaften auf die Probe gestellt, um Zusammenhalt und Sicherheit zu erfahren. Eine neue Prinzessin oder ein neuer Prinz erscheint, oder es hat sich ein Tiger eingeschlichen, den noch keiner kennt und der seine Löwenfreunde treffen will. Das Schöne beim Zuschauen ist: Die Sicherheits- und Aufsichtspflicht sind gesetzlich geregelt: »Sicherheit ist nicht gleichzusetzen mit null Unfällen. Sicherheit ist ein Zustand frei von unvertretbaren Gefahren«, zitiert Christl Bucher vom Bayerischen Gemeindeunfallversicherungsverband aus der Unfallverhütungsvorschrift und der dazugehörigen Regel. »Wir können die Kinder nicht mit allen Mitteln von allen Gefahren abschirmen. Wir dürfen sie nicht in Watte packen. (…) Kinder müssen von klein auf lernen, mit Gefahren umzugehen. Unbekannte Situationen, Risiken stellen für sie ein Entwicklungspotenzial dar, um das wir sie um der Unfallverhütung willen nicht bringen dürfen.«3 Auch wird »kein Kind groß werden ohne blaue Flecken, ohne kleine Unfälle, Stürze und Hautabschürfungen«, so Fred Babel vom Aufsichtsrat der Unfallkasse Nord4.
Ein Kind hat das Recht, sich frei zu bewegen und selbstbestimmt tätig zu sein. Es hat ein natürliches Bedürfnis, zu lernen, Grenzen zu erfahren und sich mit Risiken auseinanderzusetzen. Gleichzeitig hat auch ein Kind zu Recht das Bedürfnis nach Ruhe, Schutz und Sicherheit. Deshalb ist es wichtig, die Umgebung vorausschauend zu gestalten. Und der aufmerksame Blick der Fachkräfte achtet darauf, dass Risiken für alle begrenzt bleiben.
Stolpern ja, schwere Verletzungen nein!
Immer wieder geht es um Einsicht und Verständnis, um auf die unterschiedlichen Bedürfnisse von Kindern und Eltern sensibel reagieren zu können. Was für den einen ein »Stolpern« ist, kann für den anderen schon eine Verletzung sein. Wo ist die Grenze einer nicht kalkulierbaren Gefahr? Sätze wie beispielsweise »Das schaffst du schon«, können für manche Kinder ermutigend sein, für andere gefährlich, weil sie etwas tun, nur um es uns recht zu machen. Vielleicht traut es sich erst morgen oder übermorgen oder in einer Woche, auf die Leiter oder auf den Baum zu klettern, wir wissen es nicht. Dagegen kann bereits die Anerkennung seiner Angst beim Kind den Mut wecken, es zu probieren. »Es ist die Freude an der wahrnehmenden Beobachtung«, erzählt eine Erzieherin über ihre pädagogische Arbeit, »und so lerne ich immer mehr von den Kindern!«
Spielraum für alle
Wir wissen alle aus eigener Erfahrung: Was wir für die kommenden Tage in der Kita planen, kann sich im Moment wieder verändern. In der Arbeit mit Kindern sind wir bei der Planung des Tagesablaufs oft auf spontane und situationsgebundene Gedanken und Handlungen angewiesen. Der Begriff »Spontaneität« wird definiert »als eine Art und Weise«, wie jemand aus einem unmittelbaren Impuls heraus handelt, sich bewegt und Gedanken äußert« (Figueroa-Dreher 2016, S. 29). Dieses Verständnis von Spontaneität ist verbunden mit einem Risiko im doppelten Sinne. Es geht um Verantwortung und unmittelbares Reagieren. Erfahrungen lehren uns, dass sich schöpferische Momente im Voraus nicht planen lassen. Ideen entwickeln sich beim Tun. Wir können also mutiger werden, mit Freiräumen umzugehen, und kreativ im Handeln sein. Wir lernen vom Erleben der anderen. Daher sind Kinder unsere Vorbilder und umgekehrt orientieren sich Kinder an dem, was wir tun.
Woher kommt es, dass die Fähigkeit, eigene »Fehler« zu erkennen und zuzugeben, verloren gegangen ist? Fehler sind der Zündstoff und die Chance, Neues zu lernen. Die Freude ist unvergesslich, wenn etwas nach mehreren wiederholten Versuchen schließlich gelingt. Stellen Sie sich vor, Sie versuchen, einen Faden in ein Nadelöhr einzufädeln. Diese Aufmerksamkeit und Konzentration und das Fingerspitzengefühl, das es braucht, um den Faden durch das Loch zu führen, braucht es auch, um die Spielprozesse von Kindern begleiten zu können. Der Dynamik und Spontaneität von Kindern zu folgen und gleichzeitig die Übersicht und Aufsichtspflicht zu wahren, wider-spricht in der Praxis jedem Fahrplan. Sicherheit kann nur in der Beziehung wachsen, und das ist eine anspruchsvolle Arbeit. Risiko und Prävention sind untrennbar.
Die Fähigkeit zur Improvisation gehört zur Grundlage der Schauspielkunst. Warum gehört sie nicht zur Grundlage in der pädagogischen Ausbildung? Beim Improvisieren erleben wir bewusst, wie man sich ständig in der Bewegung ausdrückt und für die anderen Menschen lesbar wird. Kinder orientieren sich an der Körpersprache. »Das naive Spiel des Kindes, insbesondere das Rollenspiel, scheint die genetische Vorstufe der Improvisation des Schauspielers zu sein. Zweifellos ist jegliches Rollenspiel des Kindes eine Art Improvisation.« (Ebert 1979, S. 72) Auch das gleichzeitige Erfinden und Ausführen einer Bewegung ist Improvisation. Diese Fähigkeit des Improvisierens schlummert auch in Erzieher*innen. Es geht darum, ihren Blick und ihr Handeln an die wachsen-den Fähigkeiten und das wachsende Bedürfnis eines Kindes zu selbstständigem Handeln anzupassen.
Der Erwachsene hat nicht nach der überlegenen Art eines mächtigen Erziehers zu trachten, sondern er muss die Beziehung zwischen sich und dem Kind harmonisch gestalten und dem Kind gegenüber eine verständnisvolle Einstellung erwerben.« (Montessori 1988, S. 7)
Gibt es Musterbeispiele für beziehungsorientiertes Handeln? Kinder lieben es, auf Bäume zu klettern, auch wenn wir es ihnen verbieten. Der Satz »Das darfst du nicht« hilft hier nicht weiter. »Dann hat das Kind nichts gelernt, außer dass da irgendjemand Großes ist, der mir sagt, ich darf irgendetwas nicht. Der Reiz ist natürlich umso größer, es trotzdem auszuprobieren. Die Unfallkasse Nord weiß, dass Kinder den Trieb haben, sich mit Risiken auseinanderzusetzen«, so Jan Holger Stock, Geschäftsführer der Unfallkasse Nord, »und das ist gut so.« Denn das »Abschirmen von sämtlichen Gefahren führt zu keinerlei Erfahrung und damit auch zu keinerlei Weiterentwicklung im körperlichen oder geistigen Bereich«5. Kinder, wie auch Erwachsene, lernen aus der Erfahrung, was funktioniert und was nicht funktioniert. Jedes Kind hat den Wunsch, das Bedürfnis und ein Recht darauf, sich selbst kennenzulernen, um die Fähigkeit zu entwickeln, mit gewissen Schwierigkeiten und Gefahren umzugehen.
Zusammenfassend: Als erziehende Erwachsene in Kitas haben wir viel zu tun. Wir haben nicht nur ein einzelnes Kind im Blick, sondern eine Gruppe von Individuen. Wir sind im Austausch mit Kolleg*innen und Eltern. Dazu kommen die Pflichten und die Verantwortung, das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen mitzugestalten. Beim Zuschauen und Zuhören der Kinder können wir etwas von ihrer schöpferischen Energie empfinden und genießen - und nicht etwas, das jemand anderes ihnen vorgekaut hat. Das Eigene lebt in der Gegenwart, wissend, das Beziehungsverhältnis zwischen Erwachsenem und Kind entfaltet sich auf gegenseitigem Vertrauen und Respekt. Sich als Erziehende selbst auf ein Wagnis einzulassen, erfinderisch zu werden, dafür ist es nie zu spät.
Gerburg Fuchs
European Master of childhood and children’s rights (Freie Universität Berlin); freischaffende Bewegungspädagogin und Künstlerin in der Erwachsenenbildung und in der Arbeit mit Kindern, Filmemacherin.
Anmerkungen
1 Aus dem Film »Kinder sich bewegen lassen« (Fuchs 2011); www.youtube.com/watch?v=VXduX-tE8mk 2 Ebd.
3 Ebd.
4 Aus dem Film »Risiko und Prävention - ein Widerspruch?« (Fuchs 2014); www.uk-nord.de
5 Ebd.
Literatur
- Ebert, Gerhard (1979): Improvisation und Schauspielkunst; Berlin: Henschel
- Figueroa-Dreher, Silvana K. (2016): Improvisieren. Material, Interaktion, Haltung und Musik aus soziologischer Perspektive; Wiesbaden: Springer VS
- Fuchs, Gerburg (2011): Kinder sich bewegen lassen; Film im Auftrag der bayerischen Landes- und Gemeindeunfallversicherung und der Unfallkasse Nord
- Fuchs, Gerburg (2014): Risiko und Prävention - ein Widerspruch?; Film im Auftrag der Unfallkasse Nord und DAK-Gesundheit
- Montessori, Maria (1988): Grundlagen meiner Pädagogik. Quellentexte für Seminar und Arbeitsgemeinschaft; Heidelberg: Quelle & Meyer