Titelthema
Glück ist, wenn man gehört und gesehen wird
Wie es gelingt, bedeutsame Situationen der Kinder im Kita-Alltag zu erkennen und aufzugreifen, zeigt Christiane Schweitzer.
Was sind Schlüsselsituationen, welche Bedeutung haben sie, wie erkennt man sie und wie geht man damit um? Das sind Fragen, die in der Ausbildung und der Praxis immer wieder gestellt werden. In diesem Artikel geht es da rum, diese Fragen zu klären und die positive Auswirkung der Arbeit mit bedeutsamen Situationen für die Kinder im Praxistransfer aufzuzeigen.
In einer Kinderkonferenz sagt Felix (5 Jahre) zur Erzieherin: »Wenn du etwas schneller schreiben würdest, dann könnten wir auch mehr erzählen.« Jeden Tag finden in der Kita mit den Kindern Gesprächsrunden statt. Im Mittelpunkt steht die Lebenswelt der Kinder, ihre Gedanken und Hypothesen zu dem, was sie tagtäglich erleben. Eine Stunde wird dafür eingeplant. Meist reicht die Zeit nicht und es werden Themen auf den nächsten Tag verschoben. Die Teilnahme am Gesprächskreis ist freiwillig, in der Regel nehmen bis zu 20 Kinder teil. Die Erzieherin macht Notizen zu den Gesprächen in einem Gruppentagebuch. Die Kinder lassen sich Beschlüsse und Teile von Gesprächen im Laufe des Tages immer wieder vorlesen. Außerdem fordern sie regelmäßig die Durchführung dieser Treffen ein und wünschen sich, dass noch mehr davon stattfinden sollen. Die Kinder bringen ihre Alltagsbeobachtungen und -themen ein und befragen im Dialog die Welt. Es tauchen freudige Momente und auch Ungerechtigkeiten auf.
Auszüge aus dem Tagebuch: »Wir haben herausgefunden, wie Maikäferfrauen und -männer sich unterscheiden.«, »Meine Haustiere sind die Feuerkäfer im Hof.«, »Bald bekomme ich einen Bruder, dann sind wir mehr Familie.«, »Ja, bei uns auch, wir bekommen einen Hund.«, »Sag mal der Oma nachher, ich will lieber nicht ins Ballett, ich bleib lieber heute mal hier und bau den großen Turm weiter.«, »Wir brauchen eine Lösung für die Toilette - wie sieht man denn, dass da jemand drin ist? Das ist doch blöd so.« und so weiter …
Hier stellt sich die Frage: Erkennt man anhand der Aussagen Schlüsselmomente der Kinder? Sind Schlüsselerlebnisse oder -situationen darin verborgen? In welchen Aussagen mehr beziehungsweise weniger? Und wenn ja, warum? Wie geht man weiter damit um?
Im Situationsansatz definieren wir Schlüsselsituationen als Lebenssituationen, die heute und morgen im Leben von Bedeutung sind. Situationen, die unser Leben beeinflussen und vermutlich weiterhin prägen. Situationen, die so begleitet werden sollten, dass Kinder das eigene Leben als Akteur*innen besser verstehen und gestalten können. Dabei geht es darum, dass wir die Probleme nicht ausblenden, aber den Fokus auf die Lösungen setzen und positive Handlungsmöglichkeiten entwickeln.
Es werden Situationen aufgegriffen, die nur einen Teil der Kinder betreffen, wie die Geburt eines Geschwisterkinds oder eingeschränkten Kontakt zu Bezugspersonen. Es gibt aber auch Momente und Situationen, die sind über Generationen hinweg bedeutsam, zum Beispiel Übergänge, Verlust und Zugehörigkeit. Man könnte sagen, in erster Linie geht es darum, dass Kinder mit ihrer Wirklichkeit der Welt gesehen und gehört werden. Erwachsene analysieren und erkennen, welche Situationen aufgegriffen werden sollten, damit Kinder die momentane Situation, aber auch die darauffolgenden Ableitungen und Konsequenzen bewältigen können. Daher ist es wichtig zu betrachten, welchen weiterführenden Gehalt der Moment, die Situation hat. Im Situationsansatz spricht man an dieser Stelle von generativen Themen.
»Ich tausch mein Käsebrot …«
Im Dialog sollte herausgefunden werden, was bedeutsam ist. Dabei gilt es sowohl die individuelle wie auch die gesellschaftliche Bedeutung in der Analyse zu beachten. Von der Zielsetzung her würden wir ableiten: Was erfährt das Kind heute, welche Kompetenzen kann es heute erwerben, die für die Situation lebenslang übertragen werden kann?
Dies soll an einem Alltagsbeispiel erläutert werden: »Ich tausch mein Käsebrot gegen Milchschnitten, okay?« und »Sind Kaugummis Süßigkeiten?« ‒ zwei Aussagen, die stellvertretend für die nachfolgende Betrachtung stehen: Im Kinderladen bringen die Kinder ihr Frühstück selbst mit. Am Buffet gibt es zusätzlich Obst und Gemüse sowie Wasser und Tee. Beim Frühstück sollte möglichst auf Süßigkeiten verzichtet werden, so die Absprache zwischen Kita und Eltern. Zu beobachten ist, dass Kinder mehrfach tauschen, zum Beispiel Vollkornbrot gegen Milchschnitten und Schokoriegel. Eltern beschweren sich, dass die Kinder »gesundes« Essen gegen Süßigkeiten tauschen. Das Team macht daher in einer Dienstbesprechung eine Analyse der Frühstückssituation, in der alle Perspektiven der beteiligten Akteur*innen betrachtet werden.
Einige Auszüge der Analyse: Es wird ersichtlich, dass die Kinder tatsächlich rege tauschen. Ebenfalls wird deutlich, dass die Kinder, was die Auswahl des Frühstücks betrifft, meist fremdbestimmt werden. Die Kinder haben sich in der Regel das Frühstück nicht selbst gewählt und finden das Essen anderer Kinder attraktiver. Auf der Ebene der Erwachsenen wird deutlich, dass unterschiedlich bewertet und agiert wird. Es gibt Familien, die sehr bewusst auf die Essenssituation achten, und andere, die organisatorisch die Bäckertüte, das Schokohörnchen vorziehen. Die unterschiedlichen Essverhalten und Sichtweisen der Familien spiegeln sich in der Auswahl des Frühstücks, das den Kindern mitgegeben wird, wider. Die Eltern, die Vollkornprodukte und Obst einpacken, ärgern sich darüber, dass ihre Kinder in der Kita ihr vollwertiges Frühstück gegen Milchschnitten und Schokoriegel tauschen dürfen. Sie fordern, dass die Erzieher*innen dies unterbinden.
Über die finanzielle Situation der Familien ist Folgendes bekannt: 40 Prozent der Familien haben weniger bis keine existenziellen Sorgen und können unbesorgt Lebensmittel kaufen. 30 Prozent der Familien leben in prekären finanziellen Verhältnissen, dadurch erleben ihre Kinder auch eine reduzierte Auswahl an Lebensmitteln. (Über die ökonomische Situation der restlichen 30 Prozent hat das Team keine Kenntnisse.) Die Erzieher*innen vertreten ebenfalls sehr unter schiedliche Sichtweisen, was den Konsum von Süßigkeiten betrifft.
Welche Bedeutung steckt in dieser Situation? Was sollten Kinder heute und für morgen lernen können? Ernährung sollte ein eigenaktiver Prozess sein, in dem sich Menschen bestmöglich, im Sinne der eigenen Gesundheit, entscheiden, was sie zu sich nehmen. Sie sollten wissen, was ihnen guttut, was gesund für sie ist, wie sie ihr Ernährungsverhalten selbst steuern und auf sich achten. Ernährungsfehler führen langfristig zu gesundheitlichen Schäden, die teilweise irreparabel sind, wie Typ2Diabetes bei Kindern, Adiposität und vieles mehr.
Die Kita entscheidet sich, diese wichtige Alltagssituation (»für sich selbst sorgen und entscheiden - gesund leben«) aufzunehmen und als Lernchance zu gestalten. Zur Bearbeitung einer bedeutsamen Situation gehört es, mit allen Beteiligten nachzudenken, das Handeln zu entwickeln und umzusetzen. Auf einem Elternabend wurde die Situationsanalyse vorgestellt, im Mittelpunkt stand die Tatsache, dass die Kinder gar nicht selbst bestimmten, was sie zum Frühstück essen. Die Eltern argumentierten damit, dass die Kinder dann sicher nur Süßes, wie Cornflakes, Schokopops oder süßen Joghurt essen würden. Es wurde ersichtlich, dass die Eltern den Kindern als Akteur*innen eine vielfältige Auswahl nicht zutrauen.
Die Schlüsselsituation »eigenständiges Essverhalten«
Zur Bewältigung der Schlüsselsituation gehört es, sich über das eigene Essverhalten bewusst zu sein, die Auswahl selbst zu bestimmen und zu erkennen, was guttut und was weniger gesund ist. Daher wurde zu nächst mit den Eltern vereinbart, dass die Kinder zwei Monate lang das Frühstück selbst organisieren dürfen und dann ausgewertet und aufgrund der Erkenntnis se festgelegt wird, wie die Frühstückssituation weiter gestaltet werden soll. Einige Eltern betonten, dass sie selbst unsicher seien und es begrüßen würden, wenn die Kita einen Vortrag einer Ernährungsberaterin organisiert.
Zunächst wurde mit den Kindern überlegt, was zu einem Frühstück alles gehört. Dann ging ein Teil der Kinder in einen nahe gelegenen Supermarkt und fotografierte Lebensmittel, die für sie zu einem Frühstück gehörten. Mit den Kindern wurde vereinbart, dass sie selbst entscheiden und zweimal in der Woche einkaufen gehen. Die Kinder sammelten das Geld bei den Eltern ein und rechneten mit der Erzieherin den Einkauf ab. Jeweils am Ende der Woche wurde in der Kinderkonferenz besprochen, was fürs Frühstück fehlt und wer in der folgenden Woche einkaufen geht. Die Fotos dienten als Abstimmungsgrundlage, alle Kinder konnten sich beteiligen.
Während des Einkaufs, der Auswahl und dem Nachdenken darüber, was für das Frühstück benötigt wird, redeten die Kinder viel über Inhaltsstoffe, was schmeckt, was der Körper braucht et cetera. Sie setzten sich aktiv mit dem Essen auseinander. Schnell stellten sie fest, dass das Geld nicht reicht, wenn für alle Milchschnitten gekauft werden. Mit der Zeit war zu beobachten, dass die Kinder bereits im Supermarkt Preise verglichen, so kauften sie eine Margarine in Butterform, da diese günstiger war. Beim Frühstück beschwerten sich manche Kinder über die »schlechte Butter«. Drei Kinder recherchierten mit einer Erzieherin, welche Unterschiede es zwischen Butter und Margarine gibt, und teilten dies der Restgruppe mit. Einige Kinder argumentierten, dies sei »Butterbetrug«.
Im ersten Monat gaben die Kinder das Geld komplett aus, im zweiten Monat war aufgrund der Preisvergleiche Geld übrig. Die Kinder flüsterten miteinander und schlugen vor, übriggebliebenes Geld ausnahmsweise für Süßes auszugeben. Nachdem den Eltern durch die Dokumentation der Arbeit ersichtlich wurde, wie intensiv die Kinder sich mit der eigenen Ernährung auseinandersetzen, wurde vereinbart, dass die Kinder weiterhin das Frühstück selbst bestimmen dürfen. Das wurde durch den Vortrag der Ökotrophologin in der Kita untermauert, die anhand der Neurodermitis-Forschung deutlich machte, dass Kinder begleitet, jedoch nicht fremdbestimmt werden sollten, um eigenständig ein gutes Essverhalten zu entwickeln.
Was haben die Kinder durch die Bearbeitung der Schlüsselsituation gelernt?
Es geht maßgeblich darum zu erfahren, dass jeder Mensch für sich selbst bestimmt, was er mit sich macht, was er isst und was er auswählt. Es geht auch darum, Verantwortung zu übernehmen, nachzudenken über Angebote, Werbung und Entscheidungen. Die Kinder haben viel diskutiert. Es war erstaunlich, dass die Annahme der Eltern, die Kinder würden nur Süßes einkaufen, in keiner Weise stimmig war. Die Kinder haben vielfältig ausgewählt, natürlich auch Cornflakes, Joghurt mit Schokostreusel (der enthält allerdings weniger Zucker als Fruchtjoghurt), aber auch Gemüse, Obst, Käse und Eier. Oft musste abgewogen werden, was am Ende des Monats noch zu kaufen ist. Manchmal unterstützten die Eltern mit regionalen Produkten aus dem eigenen Garten, auch das spiegelte die unterschiedliche Situation der Familien. Nicht jede Familie konnte das Geld für das Frühstück monatlich zahlen, so gab es Zahlungsaufschub, die Kinder hatten dies gut im Blick. Viele Lernsituationen entstanden durch den Einkauf, zum Beispiel das Zahlen an der Kasse oder die Frage, wie die Waage am Gemüse die Zahlen ausdruckt. Durch die Preisvergleiche wurden die Erzieher*innen beispielsweise inspiriert, mit den Kindern Waffeln zu backen und auszurechnen, wie viel gespart wurde im Verhältnis zu bereits fertigen Waffeln.
Ganz nebenbei unterhielten sich die Kinder auch über die Bedeutung von Süßigkeiten. So hinterfragte Sina (4 Jahre) die Regel des Süßigkeiten-Verbots: »Sind Kaugummis eigentlich keine Süßigkeiten?« Im Laufe des Dialogs mit anderen Kindern und den Erzieher*innen sagte Sina: »Die Großen [= Erwachsenen] essen oft Kaugummi und sagen zu uns: Nein, keine Süßigkeiten. Das ist nicht gerecht.«
Durch die Bearbeitung der Situation wurden sowohl Kinder als auch Erwachsene in die Lage versetzt, viel über das eigene Essverhalten und die eigenen Sichtweisen nachzudenken. Die Kita hat das Einkaufen der Kinder beibehalten. Wichtig war eine durchweg transparente Dokumentation. Eltern erklären nun neuen Eltern, warum es sinnvoll ist, Kindern die Chance zu geben, selbst zu entscheiden - vorausgesetzt natürlich, dass Erzieher*innen den Einkauf und die Auswahl sorgfältig begleiten und hinterfragen.
Was steckt hinter einer Aussage von Kindern?
Schlüsselsituationen stellen komplexe Bildungssituationen dar, in denen Kinder die Möglichkeit haben, über das eigene Leben nachzudenken, und lernen können, ihr eigenes Leben jetzt und zukünftig zu gestalten. In jeder der anfangs genannten Aussagen im Gruppentagebuch können Schlüsselthemen stecken ‒ die Bedeutsamkeit ergibt sich aus der individuellen Sichtweise und den gesellschaftlichen Herausforderungen. Die analytische Frage lautet: Was steckt dahinter? So könnte es sein, dass in der Aussage »Heute will ich nicht ins Ballett« das Erleben von Verregelung von Kindheit steckt, in »Meine Haustiere sind die Feuerkäfer im Hof« die Bedeutung von Besitz und die Themen Armut und Reichtum. Es ist daher sinnvoll, dass wir uns mit der Weltsicht der Kinder auseinandersetzen, ihre Themen erkennen und aufgreifen.
Wichtig bei der Arbeit mit Schlüsselmomenten ist, Kindern richtig zuzuhören und die zukünftigen gesellschaftlichen Herausforderungen einzubinden. Welche Kompetenzen brauchen die Kinder »morgen« für ein gutes Zurechtkommen in der Gesellschaft? So berichtete die Mutter eines Kindes im oben genannten Projekt: »Ich war wirklich nicht dafür, dass die Kinder einfach selbst entscheiden dürfen, was sie essen. Sie wissen doch noch gar nicht, was gesund ist. Ich habe mich sehr geärgert über diese Idee. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, hat nicht nur mein Kind echt viel gelernt, sondern auch ich. Ich habe nur daran gedacht, dass mein Kind gesundes Essen bekommt, und nicht, dass es ja lernen sollte, selbst für sich zu entscheiden und zu erkennen, was gesund ist, und abzuwägen, was guttut. Das muss man lebenslang können.«
Die Arbeit mit Schlüsselsituationen verändert somit die Sichtweise des gesamten Systems der Kita. Es geht um zukunftsorientierte Handlungsaspekte. Mit dieser Art der Arbeit verhelfen wir Kindern zu Erfahrungen, das Leben positiv zu gestalten. Fachkräfte hören und sehen bedeutsame Situationen der Kinder und bieten ihnen mit dieser Arbeit besondere Wirksamkeitserfahrungen. Dies stärkt Kinder in ihrer Selbstkompetenz und ihrem Selbstbewusstsein. Sie erleben, dass ihre Themen wichtig und bedeutsam für das Leben und die Erwachsenen sind. Eventuell wird dieses Vorgehen als Mehrarbeit empfunden, doch wenn Situationen lösungsorientiert bearbeitet werden können, werden alle zufriedener und glücklicher - das macht den Kita-Alltag und das Leben leichter.
Christiane Schweitzer
Expertin für Qualität im Situationsansatz, war lange Jahre als Erzieherin und Fortbildnerin tätig, jetzt in der Ausbildung von Erzieher*innen im Fachbereich Sozialpädagogik an der Landrat-Gruber-Schule in Dieburg/ Hessen.