Titelthema
Blick zurück nach vorn
Julia Höke und Antonia Katzke nehmen historische und systemimmanente Unterschiede von Kita und Grundschule ebenso unter die Lupe wie Gemeinsamkeiten, stellen das Transitionsmodell nach Griebel und Niesel vor und gehen der Frage nach, wie Anschlussfähigkeit gelingen kann.
Die Schultüten sind ausgepackt und die Süßigkeiten aufgegessen, in den Heften hat sich bereits das ein oder andere Eselsohr gebildet und der Turnbeutel ist vielleicht auch schon mal zu Hause liegen geblieben: Inzwischen sind die meisten Erstklässler*innen 2024/25 in der Schule angekommen. Mit Stolz, teilweise aber auch mit Sorge beobachten Eltern ihre Kinder in diesem Prozess, und vielleicht fragt sich auch manche pädagogische Fachkraft in der Kindertageseinrichtung, wie es Marie oder Erkan in der Schule wohl ergeht. Auch die Lehrkräfte haben die Kinder inzwischen kennengelernt - manchmal kennen sie diese schon von vorherigen Kooperationsaktivitäten, dann können sie sich im Anfangsunterricht darauf einstellen und unterschiedliche Bedürfnisse und Entwicklungsstände der Kinder berücksichtigen. Doch eine solch enge Kooperation ist in Deutschland nicht selbstverständlich, wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst und ist störanfällig - einzelne Veränderungen in den Einrichtungen wie Personalwechsel können gewachsene Kooperationsstrukturen genauso beeinträchtigen wie gesamtgesellschaftliche Ereignisse wie die Corona-Pandemie (Büker et al., i. E.).
Die Störanfälligkeit der Kooperation liegt dabei nicht an fehlendem Engagement einzelner pädagogischer Fach- und Lehrkräfte, sondern entsteht vor allem durch die systemimmanente Verschiedenheit: In Deutschland gehören Kindertageseinrichtung und Grundschule zu unterschiedlichen Systemen und folgen jeweils eigenen traditionellen Logiken, Aufträgen und Organisationsstrukturen. Für die Kooperation gibt es in den Bundesländern unterschiedliche gesetzliche Regelungen, jedoch keine klaren Rahmenbedingungen und Qualitätskriterien. So hält die Gestaltung der Kooperation Herausforderungen bereit, insbesondere die pädagogischen Fach- und Lehrkräfte müssen in der Zusammenarbeit Unterschiede zwischen den Systemen überbrücken.
Ein Blick zurück: Die historische Entwicklung von Kita und Grundschule
Um die Herausforderungen, die bei der Gestaltung des Übergangs sowohl für die Kinder und ihre Familien als auch für die beteiligten Institutionen entstehen, nachvollziehen zu können, lohnt ein Blick zurück auf die Entstehungsgeschichten der Institutionen (ausführlich dazu Reyer 2006):
Friedrich Fröbel gründete 1840 den ersten Kindergarten, der sich von den bereits existierenden und ausschließlich auf Betreuung ausgerichteten Warteund Kleinkinderschulen durch ein pädagogisches Konzept unterschied. Sein Ziel war es, Kinder durch Spiel, Singen, Basteln und Naturerfahrungen ganzheitlich zu erziehen und zu bilden. Fröbel verstand dabei den Kindergarten als primär familienergänzend im Sinne einer Fürsorgeleistung für Familien. Die Bedeutung einer Bildung und Erziehung im Sinne einer schulvorbereitenden Funktion spielte in den ersten Kindergarten-Konzeptionen nur untergeordnet eine Rolle.
Die Gründung der Grundschule 1919 entstand unter dem Anspruch, ein durchlässiges Schulsystem zu schaffen, in dem jedes Kind ungeachtet seiner Herkunft und Konfession hinsichtlich seiner individuellen Begabungen gebildet werden sollte. 1920 konkretisierte sich dieser Anspruch durch das Grundschulgesetz: Die Grundschule wurde als vierjährige, verpflichtende Einrichtung für alle Kinder als erste Stufe des Schulsystems festgeschrieben. Mit Blick auf § 1 des Grundschulgesetzes wird deutlich, dass die Grundschule »zugleich die ausreichende Vorbildung für den unmittelbaren Eintritt in eine mittlere oder höhere Lehranstalt« (Scheibe 1974, S. 58 f., zitiert nach Reyer 2006, S. 151) gewährleisten soll; somit ist der Auftrag zur Selektion im Sinne einer Bestenauslese der Idee der Grundschule immanent.
Zwei Systeme: Unterschiede und Annäherungsprozesse
In dieser äußerst knappen Skizzierung der Historie beider Institutionen werden bereits entscheidende Unterschiede deutlich, die das Verhältnis von Kindertageseinrichtung und Grundschule bis heute prägen. Diese betreffen insbesondere die Frage nach der Pflicht versus Freiwilligkeit des Besuchs einer Kindertageseinrichtung oder Grundschule, die politischen Zugehörigkeiten der Institutionen und damit verbundenen gesetzlichen Regelungen und Vorschriften sowie die Qualifikationswege und daraus resultierende Anstellungsverhältnisse. Diese Unterschiede führen zu einer differenten Gestaltung des pädagogischen Alltags mit Blick auf zeitliche und räumliche Strukturen, Gruppen-/Klassenzusammen-setzungen sowie Bildungsangebot und Interaktionsgestaltung mit den Kindern.
Gleichzeitig zeichnen sich auch Annäherungsprozesse ab. Beide Institutionen orientieren sich an einem Bild vom Kind als kompetentem Akteur, das aktiv seine Bildungsbiografie gemeinsam in der Auseinandersetzung mit Material, mit pädagogischen Fachund Lehrkräften und Kindern gestaltet (Büker 2015). Beide Institutionen verfügen über Bildungscurricula, die die Bedeutung bestimmter Bildungsbereiche betonen. Auch auf didaktischer Ebene gibt es Annäherungen, zum Beispiel bezüglich der Rhythmisierung des pädagogischen Alltags, der Integration von Freispiel beziehungsweise Freiarbeit sowie dem Anspruch, Kinder partizipativ zu beteiligen.
Gemeinsam geteiltes Verständnis: Das Transitionsmodell
Die Notwendigkeit, zu kooperieren, ergibt sich insbesondere durch die Kinder und ihre Familien, die im Verlauf ihrer Biografie beide Systeme nacheinander durchlaufen. Für das Verständnis des Übergangs hat sich inzwischen das Transitionsmodell nach Griebel und Niesel (2020) durchgesetzt. Dieses beschreibt den Übergang von der Kindertageseinrichtung zur Grundschule als einen ko-konstruktiven Prozess: Er betrifft nicht nur das Kind, sondern die ganze Familie.
Dabei finden Veränderungen auf mehreren Ebenen statt: Auf der individuellen Ebene ist das Kind mit starken Emotionen wie Vorfreude und Neugier, aber auch mit Angst vor dem Kommenden und Unsicherheit konfrontiert und muss diese bewältigen. In dieser Bewältigung neuer Entwicklungsanforderungen entwickelt es vielfältige Kompetenzen sowohl auf kognitiver als auch auf sozial-emotionaler Ebene. Eltern sehen sich in diesem Prozess häufig als das Kind unterstützende Instanz, sie sind selbst aber auch unmittelbar Teil der Veränderungen. Sowohl für Kinder als auch für Eltern gibt es auf interaktionaler Ebene große Umbrüche. Neue Beziehungen werden aufgebaut (zum Beispiel zu Lehrkräften, Mitschüler*innen) und alte enden (zum Beispiel zu Erzieher*innen). Auf kontextueller Ebene gestalten sich Tagesabläufe und Routinen neu (Griebel/Niesel 2020).
Umso wichtiger sind konstante Faktoren, zum Beispiel auf sozialer Ebene durch die gemeinsame Einschulung des Kindes mit Freund*innen. Kontinuität entsteht auch über die Vorhersehbarkeit von Veränderungen, zum Beispiel zum Bild vom Schulalltag, das den Kindern schon vor der Schule vermittelt werden kann. An dieser Stelle können Kooperationsaktivitäten ansetzen, zum Beispiel wenn bereits vor der Einschulung Schulbesuche, Schnupperstunden im Unterricht oder gemeinsame Projekte stattfinden. Kontinuitätserleben im Anfangsunterricht kann zudem darüber entstehen, dass bestimmte Rituale, Regeln und Handlungsabläufe gleich oder ähnlich zum pädagogischen Alltag der Kindertageseinrichtung sind, die dem Kind vertraut sind und Orientierung bieten.
Ein Blick nach vorn: Gemeinsame Herausforderungen
Die gemeinsame pädagogische Arbeit im Sinne des Transitionsmodells erfordert einen intensiven Austausch. Mit Blick auf die aktuelle Situation von Kindertageseinrichtungen und Grundschulen zeichnet sich ab, dass beide Institutionen zusätzlich mit neuen Herausforderungen konfrontiert sind. Zu diesen zählt der eklatante Fachkräftemangel, der in beiden Systemen bereits spürbar ist. Dieser wird sich in den kommenden Jahren durch geburtenstarke Jahrgänge, steigende Bedarfe von Betreuungsplätzen im U3-Bereich und den ab 2026 geltenden Rechtsanspruch auf Betreuung von Kindern im Grundschulalter noch verschärfen.
Zum anderen steigt der Druck, Chancengleichheit herzustellen und Kinder bestmöglich zu bilden und zu fördern, ausgelöst durch die jüngsten Schulvergleichsstudien (zum Beispiel PISA 2021, IGLU 2021, IQB 2023), in denen die schlechtesten Ergebnisse seit Beginn der Vergleichsstudien erzielt wurden und laut denen Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien und/oder mit Migrationshintergrund zu einer besonderen Risikogruppe zählen. Bildungspolitisch sind Kindertageseinrichtung und Grundschule hier mehr denn je mit dem Anspruch konfrontiert, Kinder in besonderen Risikolagen frühzeitiger zu identifizieren und besser zu fördern - ein Anspruch, der nur mit entsprechendem, fachlich qualifiziertem Personal zu bewältigen ist (Büker et al., i. E.).
Darüber hinaus nimmt insgesamt die Heterogenität der Kinder und ihrer Familien zu, was sowohl die pädagogische Arbeit mit den Kindern als auch die Realisierung der Erziehungs- und Bildungspartnerschaft mit Eltern (kritisch dazu Betz 2019) anspruchsvoller und zeitintensiver macht. Dies hängt mit der weiteren Umsetzung des Anspruchs auf Inklusion in beiden Institutionen zusammen, zudem werden auch Familien hinsichtlich ihrer strukturellen Zusammensetzung sowie kulturellen, sprachlichen und sozioökonomischen Hintergründe vielfältiger und unterscheiden sich in ihren Bedarfen und vorhandenen Ressourcen bezüglich der Erziehung, Bildung und Betreuung ihrer Kinder.
Besonders zentral scheint an dieser Stelle zu sein, dass die beiden Institutionen diese Veränderungen, die im pädagogischen Alltag sichtbar werden und diesen maßgeblich beeinflussen, als gemeinsame Herausforderungen verstehen und sich nicht in gegenseitigen Ansprüchen und möglicherweise Schuldzuweisungen verlieren. Ein wesentliches Qualitätsmerkmal ist dagegen die gegenseitige fachliche Wertschätzung zwischen pädagogischen Fach- und Lehrkräften (Höke 2015). Diese gilt es in der Zusammenarbeit zu stärken.
Kooperation gestalten: Die Herstellung von Anschlussfähigkeit
Das zentrale Ziel der Kooperation ist die Herstellung von Anschlussfähigkeit insbesondere bezüglich der Bildungsprozesse, die das Kind im Verlauf seiner Bildungsbiografie durchläuft. Ein wesentliches Moment ist daher der wechselseitige Austausch sowohl über die Bildungsarbeit der Einrichtungen als auch über einzelne Kinder und ihren Entwicklungsverlauf, gegebenenfalls unterstützt durch Dokumentationen, die in den Kindertageseinrichtungen zum einzelnen Kind entstanden sind. Darüber hinaus kann für Kinder im besonderen Maß Anschlussfähigkeit entstehen, wenn übergreifende Konzepte entwickelt werden, um Kindern den konkreten Übertritt zu erleichtern.
Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit kann immer nur in den einzelnen Netzwerkstrukturen zwischen aufeinander verwiesenen Institutionen geschehen und erfordert einen strukturierten und systematischen Austausch, um Missverständnisse zu vermeiden. Dabei können Methoden wie zum Beispiel der Paderborner Qualitätsstern (Höke et al. 2020) helfen, die multiprofessionelle Teams systematisch und strukturiert dazu anregen, ein Kooperationsprofil ihres Netzwerks zu erstellen. Über diese Auseinandersetzung können unterschiedliche Sichtweisen ausgetauscht, Erwartungen kritisch geprüft und eine gemeinsame Vision zur Gestaltung des Übergangs entwickelt werden. Dennoch ist zu bedenken, dass diese Auseinandersetzung Zeit braucht, die bildungspolitisch zur Verfügung gestellt werden muss. Die Herstellung von Anschlussfähigkeit ist aufgrund historischer Wurzeln und politischer Entscheidungen für pädagogische Fach- und Lehrkräfte herausfordernd. Für diese Herausforderung sind entsprechende Zeitkontingente unerlässlich!
Prof. Dr. Julia Höke
Professorin für Didaktik und Methodik der Kindheitspädagogik und Sozialen Arbeit an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen.
Antonia Katzke
Wissenschaftliche Hilfskraft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen.
Literatur
- Betz, Tanja (2015): Das Ideal der Bildungs- und Erziehungspartnerschaft. Kritische Fragen an eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Kindertageseinrichtungen, Grundschulen und Familien; Gütersloh: Bertelsmann Stiftung
- Büker, Petra/Herding, J./Höke, Julia/Seifert, A./ Velten, K. (i. E.): Critical review of research and policy on transitions to school from 2000 - 2024 in Germany, in: Bob Perry/Sue Docket (Eds.): Transition to Primary School: Looking Back in order to Look Forward; Heidelberg: Springer Nature
- Büker, Petra (Hrsg.) (2015): Kinderstärken - Kinder stärken. Erziehung und Bildung ressourcenorientiert gestalten; Stuttgart: Kohlhammer
- Griebel, Wilfried/Niesel, Renate (2020): Übergänge verstehen und begleiten. Transitionen in der Bildungslaufbahn von Kindern (6. Aufl.); Mülheim:Cornelsen/Verlag an der Ruhr
- Höke, Julia/Büker, Petra/Ogrodowski, Jana/Vollmann, Britta (2020): Paderborner Qualitätsstern zur Einschätzung der Kooperation im Übergang Kita - Grundschule (3. Aufl.); Instrument zum kostenlosen Download unter blogs.uni-paderborn.de/paderbornerqualitaetsstern
- Höke, Julia/Arndt, Petra A. (2015): Gegenseitige Wertschätzung als Gelingensbedingung für professionsübergreifende Kooperationsprozesse von Kindergarten und Grundschule, in: Journal for Educational Research Online (JERO) 7(3), S. 54 - 85
- Reyer, Jürgen (2006): Einführung in die Geschichte des Kindergartens und der Grundschule; Bad Heilbrunn: Klinkhardt