Titelthema
Verflixte Situation - oder: Was um Himmels Willen ist eine Schlüsselsituation?
Der Situationsansatz hatte in seiner Entstehungsgeschichte Anfang der 1970er Jahre genau eins im Blick: das je individuelle Erleben eines Kindes, seiner Familie, seiner Nachbarschaften und auch das individuelle Erleben von Erzieherinnen mit dem vielfältigen Geschehen in der Welt zu verbinden. Dieser Blick auf das Eingebundensein des Individuums in seine komplexe soziale, historisch und kulturell geprägte Lebenswelt war von vorneherein verknüpft mit einer Kritik an rein individualpsychologischen Theorien über die "normale" Entwicklung eines Kindes und daraus abgeleiteten pädagogischen Förderprogrammen.
Erinnern wir uns an die Geburtsstunden der ersten Kindergartenreform in der westlichen Bundesrepublik nach dem "Sputnik-Schock" und der damit einhergehenden Feststellung der "Bildungskatastrophe". Damals (wie heute nach dem PISA-Schock) bestand Einigkeit, dass Bildung und Erziehung in den ersten Lebensjahren entscheidend für den gesamten weiteren Lebensverlauf eines Menschen sind. Und es entstand ein heftiger Wettbewerb zwischen Experten unterschiedlicher Disziplinen, wie die "Begabungsreserven" vor allem der Kinder aus der "Unterschicht" am besten gefördert werden könnten. Sogenannte "kompensatorische Förderprogramme" entstanden, etwa zum Wortschatzerwerb durch eine Unzahl von Arbeitsblättern für Vorschulkinder, zum frühen Leselernen mittels einer Leselernmaschine ...
Das subjektive Erleben der Kinder spielte bei diesen Debatten keine Rolle. Es ging darum, wie aus möglichst vielen von ihnen gute Schüler "gemacht" werden können. Die Ziele waren vom Schulsystem vorgegeben - ohne dass dieses selbst je in Frage gestellt worden wäre.
Der Situationsansatz erhob hier Einspruch und warf sehr grundsätzliche Fragen auf:
- Welche Gesellschaft braucht welche Kinder für ein glückliches und gelingendes Aufwachsen? Und wie kann pädagogische Arbeit dazu beitragen, Lebenssituationen für Kinder und ihre Familien zu verbessern?
- Welche Kompetenzen brauchen Kinder und die mit ihnen lebenden und arbeitenden Erwachsenen, um sich in ihrer Gesellschaft aktiv an Veränderungen beteiligen und ihre eigenen und die Interessen der Gemeinschaft verfolgen zu können?
Damit hat der Situationsansatz als pädagogisches Konzept den Anspruch erhoben, dass Arbeit mit Kindern ein zutiefst politisches Anliegen ist und eng verbunden mit der Forderung nach Demokratisierung.
Und was ist nun eine Schlüsselsituation?
Zugegeben: Der Begriff "Situation" bleibt mehrdeutig und ist theoretisch wie praktisch nicht leicht zu fassen. Und doch benutzen wir ihn alle im privaten und beruflichen Leben häufig, um zu bezeichnen, wie wir uns in unserer Welt aktuell erleben und empfinden:
- "Das ist eine wirkliche Glückssituation": Ich bin Teil eines Zusammenspiels von ganz unterschiedlichen Faktoren, an denen - neben mir selbst - ganz verschiedene Personen und Ereignisse beteiligt sind. Zu einem konkreten Zeitpunkt passt einfach alles gut zusammen. Hier entsteht Gewinn an Lebensqualität und eben Glück. Ein Grund zum Feiern und ein Zuwachs an Lebensfreude.
- "Dies ist eine der schwierigsten Situationen in meinem Leben": Ich bin von einem komplexen Ereignis in meinem Leben emotional sehr betroffen. Ich bin mit meinen Grenzen konfrontiert. Ich brauche Hilfe von anderen, Austausch und neue Strategien, um mein Leben zu bewältigen, weiter Hoffnung zu bewahren, mutig zu bleiben und nach vorne zu schauen.
- "In dieser Situation konnte ich einfach nicht anders handeln": Ich weiß vielleicht, dass das, was ich getan oder gesagt habe, nicht sonderlich klug und besonnen war. Ich war jedoch so erregt oder verängstigt, dass meine rationalen Überlegungen hinter meine sozialen und emotionalen Beweggründe zurückgetreten sind. Es war mir in dieser Situation extrem wichtig, meine innere Haltung zum Ausdruck zu bringen.
Diese drei kleinen Schilderungen machen vielleicht schon deutlicher, um welches Verständnis von "Situation" es uns im Situationsansatz geht. Wenn wir von Schlüsselsituationen reden, dann geht es um solche Situationen, die für die gesamte Person in ihrer biografischen Entwicklung von besonderer Bedeutung sind und ihr Leben prägen. Das können glücksbringende und hoffnungsvolle Situationen sein, solche, die extrem schwierig sind, weil sie existenzielle Fragen thematisieren, und es können Situationen sein, die uns mit Ambivalenzen - mit den Widersprüchen in uns selbst und in der Welt - konfrontieren.
In jedem Fall sind Schlüsselsituationen mit Herausforderungen und Aufforderungen verbunden, sich der eigenen Kräfte bewusst zu werden, die Gemeinsamkeit mit denen zu suchen, die ähnliche Erfahrungen machen, und Kompetenzen zu erwerben, die es ermöglichen, das eigene Leben in der Gemeinschaft mit anderen aktiv zu gestalten. Autonomie - Solidarität - Kompetenz: Das sind die Leitziele des Situationsansatzes.
Was Glückssituationen, existenziell schwierige Situationen und Ambivalenz-Situationen ausmacht, ist einerseits subjektiv und individuell verschieden und andererseits immer historisch und sozial-kulturell bestimmt. Deshalb geht es uns im Situationsansatz darum, die individuelle Perspektive der handelnden Kinder, Erzieherinnen und Eltern immer mit der Perspektive auf ihre realen Lebenssituationen zu verbinden. Das pädagogische Konzept verbindet damit die individuelle psychologische mit der gesellschaftlichen soziologischen Analyse.
Wer definiert, was eine Schlüsselsituation ist?
Letztendlich tun das die Erzieherinnen, die in der Kita mit den Kindern arbeiten. Je intensiver sie sich dabei mit anderen, vor allem den Eltern, beraten und ihre Beobachtungen in der Kindergemeinschaft zum Ausgangspunkt machen, umso eher wird ein Schuh daraus. Wichtig ist auch, dass Erzieherinnen mit offenen Augen, Ohren und Herzen die vielen Lebenswelten der Kinder wahrnehmen - und zwar nicht nur in der Kita, sondern gerade auch in deren nicht pädagogisch geregelten Realitäten.
Die Leitfragen sind:
- Was kennzeichnet hier und heute das Leben von "unseren" Kindern und ihren Familien?
- In welchen Situationen sind die Kinder glücklich und hoffnungsfroh, welche Situationen erleben sie als schwierig oder widersprüchlich? Und:
- Welche dieser Situationen sind geeignet, um sie mit den Kindern in der Kita so zu bearbeiten, dass die Kinder besser mit sich und ihrer Welt zurechtkommen und erfahren können, wie sie ihr Leben selbstbestimmt und gemeinsam mit anderen gestalten können?
Bei der Entscheidung, welche der vielen möglichen Schlüsselsituationen die Erzieherinnen für ihre pädagogische Planung auswählen, handelt es sich immer um einen wechselseitigen Prozess: Die Situation muss für die Kinder emotional und sozial bedeutsam sein, damit ihr Interesse (ihr In-der-Welt-sein) angesprochen und herausgefordert wird. Ebenso wichtig ist, dass den Erzieherinnen und Eltern die in der Situation liegenden Themen wichtig sind, sie sich selbst damit auseinandersetzen und mit und von den Kindern Neues erfahren und lernen wollen. Denn Bildung geschieht nur in Beziehungen, die von einem ernsthaften wechselseitigen Interesse geprägt sind - einseitige Belehrungen oder Bekehrungsversuche bleiben zumeist ohne die erwünschte Wirkung oder verkehren sich sogar ins Gegenteil. Dialoge kommen nur zustande, wenn alle daran Beteiligten Lust darauf haben, Neues zu erfahren und zu erleben.
Was tun, wenn Kinder keine Fragen stellen oder keine deutlichen Interessen äußern?
Von nix kommt nix! Fragen und Interessen entstehen eben erst im Dialog und werden in Beziehung lebendig und wach. Selbstverständlich gehört es zu den Aufgaben von Pädagoginnen, Situationen mit Kindern zu erkunden und zu erschließen, die für ihr Aufwachsen in dieser Gesellschaft wesentlich sind. Es ist im Situationsansatz nicht nur nicht verboten, sondern ausdrücklich gewünscht, dass Erzieherinnen aktiv sind und nicht nur auf Impulse der Kinder reagieren. Allerdings ist es von entscheidender Bedeutung, sehr genau darauf zu achten, ob und wie die einzelnen Kinder die Anregungen und Impulse an- und aufnehmen. Das genau ist ja die pädagogische Kunst: Interesse und Begeisterung an den wesentlichen Themen des Lebens lebendig zu halten und wachsen zu lassen.
Die Diskussion der letzten Jahre um das professionelle Selbstverständnis von Erzieherinnen als "Lernbegleiterinnen", als diejenigen, die sich eher zurücknehmen, die vor allem beobachten, analysieren und dokumentieren, betrachte ich äußerst ambivalent. Diese Rollenbeschreibung ist mir zu wenig. Selbstverständlich teile ich den damit verbundenen Fokus auf die aktive Rolle des Kindes und die Bedeutung seines subjektiven Erlebens. Selbstverständlich teile ich die damit verbundene Mahnung, Kinder nicht zu Objekten eines pädagogischen Machbarkeitswahnsinns zu machen.
Und doch sind die Erzieherinnen mehr als nur Begleiterinnen. Sie sind auch Anstiftende, Fördernde, Herausfordernde und auch Kritisierende. Das widerspricht nicht der Wertschätzung des Kindes, sondern unterstreicht und betont diese. Kinder ernst zu nehmen, erfordert, sie auch anzuspornen, sie herauszufordern und auf ihre eigenen Widersprüche anzusprechen. Entscheidend ist die Haltung, mit der dies geschieht: Nicht beschämen, nicht abwerten, nicht diskriminieren - sondern: ermutigen, stärken, unterstützen und dann eben auch zuverlässig begleiten, beobachten und dokumentieren, was das einzelne Kind an Erfahrung und Lebensglück gewinnt.
Wie können Schlüsselsituationen in der pädagogischen Praxis bearbeitet werden?
Kurze Antwort: im Alltag, im Spiel, in Projekten, in der Raumgestaltung und Materialauswahl.
In der Anfangsphase des Situationsansatzes stand die Projektarbeit im Mittelpunkt der Entwicklungsarbeit. Die in den 1970er Jahren mit der Praxis entwickelten Didaktischen Einheiten - die "Gelben Ordner", wie sie in mancher Kita noch mehr oder weniger verstaubt zu finden sind -, waren und sind zum Teil auch heute noch eine Fundgrube für Projektideen.
Heute sind für uns die Gestaltung der vielen kleinen wiederkehrenden Situationen im Kita-Alltag - die Begrüßung, der Tagesbeginn in der Gemeinschaft, die Mahlzeiten, die Abschiedsrituale am Ende eines Kita-Tages - ebenso wichtig, um Schlüsselsituationen wie "Alle Kinder sind gleich und jedes Kind ist besonders" jeden Tag erlebbar werden zu lassen.
Das Spiel ist und bleibt und die wichtigste Aneignungstätigkeit von Kindern im Kita-Alter. Deshalb hat die Rolle der Erzieherinnen für das Spiel der Kinder für uns eine herausragende Bedeutung. Ich provoziere deshalb auch gerne eine Diskussion um den so häufig genutzten Begriff des "Freispiels":
Meine These: Das "Freispiel" heißt deshalb "Freispiel", weil die Erzieherinnen dann frei von den Kindern sind und all die Dinge tun können, für die sie sonst keine Zeit haben. Wenn das Spiel aber so wichtig für die Entwicklung der Kinder ist, dann ist es doch auch immens wichtig, dass die Erzieherinnen sehr wach, aufmerksam und aktiv daran mitwirken. Mitspielen, Spielimpulse geben, ohne das Spiel der Kinder zu dominieren - so können Themen aus Schlüsselsituationen auch ins Spielgeschehen integriert werden.
Spezifische Bibliotheks-, Medien- und Materialangebote können die eigenständige Auseinandersetzung der Kinder mit einer aktuell bearbeiteten Schlüsselsituation wirkungsvoll unterstützen. Kinder, Eltern, Großeltern und andere Interessierte aus der Umgebung sind oft gerne bereit, hier etwas beizusteuern.
Dr. Christa Preissing
Dipl.-Soziologin und Dr. der Philosophie ist Vizepräsidentin der Internationalen Akademie (INA) gGmbH an der Freien Universität Berlin und Direktorin im Institut für den Situationsansatz der Internationalen Akademie.