Titelthema
Die ganze Welt entdecken
Elternabend in einer Kita, die Erzieherinnen stellen ein neues Projekt vor: Sie planen, im kommenden Jahr mit den Kindern der beiden Gruppen die Kita-Räume an jedem Freitag zu verlassen und den Tag in der Umgebung zu verbringen. Das Projekt soll bei jedem Wetter stattfinden, zu Beginn soll das Ziel ein urwüchsiges Waldgelände sein. Die grüne Gruppe besuchen zehn Kinder zwischen null und drei Jahren, in der gelben Gruppe sind vierundzwanzig Kinder zwischen zwei und sechs Jahren.
Viele Eltern der grünen Gruppe sind besorgt: "Was soll mein kleines Kind in der Wildnis? Da gibt es Wurzeln, über die selbst ich stolpere. Außerdem gibt es giftige Pflanzen, Wespen und Zecken. Das ist alles viel zu gefährlich für mein Kind!", "Wie wollen Sie die Kinder da draußen wickeln?", "Wie soll mein Kind da schlafen?", "Da ist es doch viel zu dreckig für die Kleinen!"
Auch in der gelben Gruppe gibt es Einwände: "Mein Kind kommt diesen Sommer in die Schule. Nur in den Wald zu gehen, ist mir da zu wenig Förderung. Man könnte sich um eine Führung beim Förster kümmern. Dann lernen die Kinder, wie Bäume und Tiere heißen.", "Warum gehen Sie mit den Kindern nicht lieber in unsere schönen Museen? Da soll es tolle Führungen extra für Kinder geben."
Die Kita-Mitarbeiterinnen können diese Äußerungen nachvollziehen. Sie haben selbst ähnliche Fragen gestellt, als eine Kollegin ihre Idee zu dem Projekt vor einigen Monaten in der Team-Besprechung vorstellte. Zunächst lehnten viele den Vorschlag ab.
Behutsam gehen die Pädagoginnen an diesem Abend auf die Einwände der Eltern ein. Dabei greifen sie auf Erfahrungen ihres letzten Konzeptionstages "Nachhaltige Bildungsbegleitung an Lernorten außerhalb der Kita" zurück. Zum Einstieg stellte die Fortbildnerin als Aufgabe: "Reisen Sie in Gedanken zurück in Ihre Kindheit. An welchen Orten haben Sie besonders gerne gespielt? Was haben Sie dabei gelernt?" Nun geben die Pädagoginnen diese Fragen an die Eltern weiter. "Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, denke ich als Erstes an Freiheit. Wir waren fast immer draußen - bei jedem Wetter. Wir waren im Wald, am Bach, in den Feldern, im Dorf. Wir konnten machen, was für uns wichtig war", erzählt ein Vater. Viele Eltern sind berührt. "Das erleben meine Kinder heute so nicht mehr", äußert eine Mutter betroffen.
"Wir fühlten während des Konzeptionstages ähnlich", berichtet eine Erzieherin. "Mit der Fortbildnerin haben wir auch den Kita-Alltag untersucht und mit aktuellen Theorien zu frühkindlichem Lernen verglichen. Bildungsforscher betonen heute: Bildung beginnt mit der Geburt. Spätestens ab diesem Zeitpunkt beginnen Kinder, ihre Umgebung mit ihren Mitteln, der Motorik und den Sinnen aktiv wahrzunehmen. Auch hier in der Kita erleben wir die Neugierde der Jüngsten. Wie oft klopften die Kleinen zum Beispiel letzte Woche im Park mit den Schäufelchen gegen alles, was in ihrem Umfeld lag: Auf Eimerchen, Förmchen, sogar auf der Sandkistenbegrenzung und den Baumstämmen wurden Töne produziert.
Mit der Fortbildnerin haben wir uns hier wichtige neuronale Vorgänge so erklärt: Im Gehirn werden Erfahrungen gesammelt (So klingt der Eimer, das Förmchen, der Sandkastenrand). Aktuelle Eindrücke werden mit Vorerfahrungen verknüpft (So klingt der Eimer, dessen glatte Oberfläche meine Finger gestern erfühlt haben). Zudem werden die Erlebnisse emotional codiert (So klingt der Eimer, dessen glatte Oberfläche meine Finger erfühlt haben. Das fühlte sich angenehm an. Schön! - Als ich mit der Zunge am Eimer geleckt habe, hat Mama geschimpft. Ich musste weinen. Nicht schön!) Stets begleiten solche positiven oder negativen Bewertungen unsere Erinnerungen. Woher Gefühle und Vorstellungen kommen, ist meistens nicht mehr nachvollziehbar. Die neuronalen Verarbeitungsprozesse erfolgen zum größten Teil unbewusst."
Die Leiterin führt aus: "Uns wurde klar, dass vereinzelte Erlebnisse nur schwache Spuren im Gedächtnis hinterlassen. Sich wiederholende Erfahrungen führen dagegen zu starken Eindrücken. Nach und nach entstehen im Kopf der Kinder persönliche Abbilder der Charakteristika ihrer direkten Umwelt. Das Geniale am menschlichen Lernen ist, dass wir nie aufhören, zu lernen. Unsere Gehirne integrieren lebenslang neue Aspekte, die unsere bestehenden Vorstellungen aktualisieren."1
Forschergeist in Windeln
Eine Mutter meldet sich zu Wort: "Früher wurden die ersten Lebensjahre gerne die 'dummen Jahre' genannt. Meine Nachbarin sprach so auch über mein Kind. Das hat mich gekränkt!" Ein Erzieher antwortet: "Ich kann Sie gut verstehen. Aber heute werden die Fähigkeiten der Kinder geachtet. Oft wird vom Forschergeist in Windeln2 gesprochen. Mir gefällt besonders die Bezeichnung Anfängergeist3. Kinder erleben in der für sie neuen Welt alles erstmalig. Sie sind Anfänger, die entdecken, erproben, üben müssen. Aber sie sind kompetent, sie können dies selbst bewerkstelligen. Während des Konzeptionstages haben wir geklärt, was Achtung von Anfängergeist und Selbstbildungsprozessen für unser Projekt bedeutet. Wir werden dafür sorgen, dass die Kinder die Beschäftigungen, die ihnen wichtig sind, über lange Phasen wiederholen und variieren können - so lange, bis sie uns selbst zeigen, dass ihr Forschen nach intensiven Auseinandersetzungen beendet ist. Deshalb werden wir zunächst mindestens zehn Mal hintereinander in den Wald gehen. Wir möchten immer dieselbe Stelle aufsuchen, damit die Kinder diesen Ort intensiv kennenlernen."
Eine Mutter ist unzufrieden: "Wir gehen jeden Sonntag spazieren. Mein Kind kennt die Natur! Besuchen Sie mit den älteren Kindern lieber ein Museum. Das können Sie auch mehrmals hintereinander machen."
Die Pädagogen nehmen den Einwand auf: "Uns ist es wichtig, dass die Kinder zunächst einmal nachhaltige Erfahrungen mit ihrer konkreten Umwelt machen können. Ein besonders geeigneter Lernort hierfür ist die Natur. Das Terrain im Wald ist nie so eben, wie die Kinder es von Bürgersteigen, Spielplätzen oder Gärten gewohnt sind. Überall gibt es dort zum Beispiel kleine Gefälle, die beim Laufen ausbalanciert werden müssen. Für ungeübte Kinder ist schon dies eine enorme Leistung. Immer wieder staune ich, wie sie solche Anforderungen nebenbei - im Spiel - bewältigen." Eine starke Motivation ist hier das Vorbild der anderen Kinder. Die machen vor, was zu schaffen ist, fordern zum Mittun auf.
Mit allen Sinnen lernen
Eine zweite bedeutsame Quelle dafür, sich Herausforderungen zu stellen, liegt in den vielfältigen Reizen der Umgebung. Die besonderen Bedingungen in der Natur stellen an Hörsinn, Riechsinn, Sehsinn und Geschmackssinn neue Aufgaben. Jedes Kind kann selbst entscheiden, welchen Herausforderungen es sich stellen mag. Viele Kinder erproben sich an Hängen oder probieren, auf Baumstämmen zu balancieren. Manche lieben es, an Ästen zu schaukeln oder darauf zu wippen. Bei diesen Aktivitäten entwickeln sie nach und nach ihren Gleichgewichtssinn weiter. Kinder mit 'verinnerlichter Balance' können sich sicher im Raum orientieren. Sie verstehen, was oben, unten, rechts, links, nah, fern bedeuten, und sie können dieses Wissen malend, schreibend, lesend und rechnend umsetzen.
Beim Klettern und Hangeln oder beim Schleppen schwerer Äste ist auch der Bewegungssinn im Spiel. Der eigene Körper, die Fähigkeit der Muskeln, die Möglichkeiten der Bewegungen werden lustvoll ausgelotet und nach und nach gestärkt. Und nicht zu vergessen: der Tastsinn. Dieser Sinn nimmt Berührungen, Druck, Spannungen, Schmerz und Temperatur auf und macht so Form, Größe und Konsistenz nachvollziehbar. In der Umgangssprache sagen wir ja auch: 'Das habe ich be-griffen.'"
Der Praktikant lacht: "Ich denke da an unsere Zweijährigen. Sie haben im Park Laub in die Eimerchen gefüllt und mir als 'Suppe' angeboten. Das war ein wichtiger Schritt, erste Vorstellungen von der Welt - hier vom Inhalt der Eimer - fantasievoll auszudrücken, in Worte zu fassen. Die Vierjährigen, die im Park dabei waren, haben geschimpft. Für sie war es unvorstellbar, dass kein Wasser im Eimer war, dass die 'Suppe' nicht feucht war. Ältere Kinder sind eben schon erfahrener, haben realistischere Vorstellungen, die sie vielfältig ausdrücken, zum Beispiel in Bildern, in Rollenspielen, in Konstruktionen."4
Eine Erzieherin fügt hinzu: "Es ist immer wieder spannend, was die Kinder sammeln und wie sie ihre Fundstücke einordnen. Neulich waren wir auf dem Markt. Wir wollten Obst kaufen. Auf dem Boden gab es kleine Steine - für viele Kinder das Interessanteste am Ausflug. Sämtliche Hosentaschen wurden bis zum Rand gefüllt. In der Kita wurden die Steine dann nach und nach ausgepackt. Auf einmal fiel das Wort 'Milchzähne'. Tatsächlich hatten diese Steine eine ähnliche Größe, Form und Farbe. Und dann wurde sortiert und geordnet: Ein flacherer Stein wurde zum Schneidezahn und durfte nicht bei den kompakten 'Backenzähnen' liegen. Es gab 'Reißzähne' (spitze Steine), 'Kaffee-Zähne' (größere Steine) und viele weitere Bezeichnungen. Die Kinder übertragen hier wichtige Eigenschaften von Dingen, die sie begriffen haben, und suchen für sie passende Worte. Ich bezeichne die Denkstrategie, die dahinter steckt, gerne als 'Ist-wie-Denken'. Die kleinen Steine erinnern an Milchzähne. Es gibt größere Steine, die sind wie die Zähne der körperlich größeren Erwachsenen. Erwachsene trinken keine Milch mehr, sondern Kaffee - also sind die großen Steine 'Kaffee-Zähne'.
Es ist wichtig, solche Wortschöpfungen von Kindern nicht zu korrigieren, sonst vermittelt man ihnen, ihre Erklärungs-Strategien seien falsch. Es ist nicht förderlich, wenn Lösungen von anderen vorgeben werden."
Ein Vater meldet sich: "Solche spannenden Entdeckungen wie am Marktplatz macht man wohl wirklich am ehesten, wenn man die Kita immer wieder verlässt. Und solche Abenteuer soll es nun jeden Freitag bei Ihnen geben?" Die Pädagoginnen freuen sich: "Der Begriff Abenteuer erscheint uns wirklich passend - denn wir machen uns gemeinsam auf, die 'ganze Welt zu entdecken'. Anders als bei einer Führung legen wir nicht vorher Lernziele und Vermittlungsformen fest. Gemeinsam mit den Kindern sind wir offen für das, was die Orte, die wir aufsuchen, anbieten. Im Fokus steht, was die Kinder daraus machen. Wir nehmen Papier, Stifte und Kamera mit, um spannende Lernprozesse festzuhalten. Wann immer es passt, führen wir die Draußen-Erfahrungen in der Kita fort, zum Beispiel in Rollenspielen, im kreativen Gestalten oder auch, indem wir zum Thema passende Sachbücher besorgen."
"Und freitags geht es jetzt immer in den Wald!", schließt eine Mutter. "Nein", erklärt die Leiterin, "wir haben den Wald nur als ersten Ort für unser Projekt ausgesucht. Es gibt noch viele weitere Orte, die wir erkunden möchten, etwa die Hochhäuser am Stadtrand, die Brücke am Stadtring, die Parks in der Innenstadt. Unsere Exkursionen sollen dazu beitragen, dass unsere Mädchen und Jungen vielfältige Vorstellungen über ihre Welt 'verinnerlichen'. Dabei stärken sie ihre sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten, ihre Motorik, ihr Selbstbewusstsein, finden Anlässe, über Phänomene der Welt nachzudenken. Dies sehe ich als tragfähiges Fundament für aktuelle und spätere Bildungsaufgaben."
Barbara Bach
Dipl.-Pädagogin und Fortbildnerin, arbeitete mit im Modellprojekt "Lernwerkstatt Natur" in Trägerschaft der Stadt Mülheim an der Ruhr, Leiterin der KiTa HdF-Pünktchen in Köln.
Anmerkungen
1 Vgl. Manfred Spitzer: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg 2002, S. 12/13; S. 75 - 78, S. 94 - 98; S.157 ff.
2 Alison Gopnik/Paricia Kuhl/Andrew Meltzoff: Forschergeist in Windeln, München 2003.
3 Gerd E. Schäfer: Was ist frühkindliche Bildung? Kindlicher Anfängergeist in einer Kultur des Lernens; Weinheim 2011; S. 57 ff.
4 Wie dies geschehen kann, beschreibt Angelika von der Beek in: Bildungsräume für Kinder von Drei bis Sechs; Weimar 2010.