Titelthema
Kindern respektvoll begegnen - gemeinsam nachdenken
Über die Frage, wie Pädagoginnen Kindern im Kita-Alltag respektvoll begegnen können, gibt es eine Menge zu lesen, denn es ist ein wichtiges, weites Thema. Wann genau ist eine pädagogische Handlung respektvoll, wann genau ist es ein Dialog? Wir möchten einige wichtige Aspekte herausgreifen und sie näher beleuchten.
Erkenntnisinteressen des Kindes ernst nehmen
Respektvoll handelt erstens jemand, der das Erkenntnisinteresse seines Gegenübers ernst nimmt. Wenn Kinder fragen und forschen, wenn sie in täglichen Handlungen die Welt, sich selbst und die anderen kennenlernen wollen und darum spielend experimentieren und explorieren, dann tun sie das auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Jedes Kind hat eigene Fragen, Themen und Interessen. Die Basis respektvoller Begegnung ist deshalb die systematische Beobachtung und Dokumentation der je spezifischen Erkenntnisinteressen des einzelnen Kindes. Dabei geht es darum, herauszufinden und zu verstehen, was das Kind zur Erweiterung seines Erfahrungs- und Erkenntnisschatzes dazugewinnen will.
Die Beobachtung der Fragen, Themen und Interessen des einzelnen Kindes oder auch einer kleinen Kindergruppe, die sich mit ähnlichen Fragen beschäftigt, hat deshalb Vorrang vor der Beobachtung von Kompetenzen. Beobachtungsverfahren, die "abchecken", was ein Kind kann (oder "noch" nicht kann), laufen immer Gefahr, Kinder an einer Norm zu messen und sie als "gut, durchschnittlich oder gefährdet" zu typisieren.
Was ein Kind von sich aus tut und in Erfahrung bringen will, wird so zum Ausgangspunkt pädagogischen Handelns, nicht was ein Kind schon alles kann. Die Erkenntnisinteressen eines Kindes ernst zu nehmen, heißt also zunächst einmal, sie wahrzunehmen, sie zu beobachten und zu dokumentieren. Aber eben nicht nur das. Sie ernst zu nehmen heißt auch, gemeinsam weiterzudenken, sich als Person mit eigenen Positionen und neuen Gedanken ins Spiel zu bringen. Dies ist der zweite Aspekt.
Sich selbst als nachdenkende Person mit eigenen Gedanken ins Spiel bringen
Eine respektvolle, emotional und kognitiv anregende Interaktion mit einem Kind zu gestalten, heißt selbst involviert zu sein. Und das bedeutet, sich mit eigenen Gedanken ins Spiel zu bringen und dem Kind ein Gegenüber zu sein. Es bedeutet eben nicht nur, das Kind in seiner Entwicklung zu "begleiten", sondern auch eigene gedankliche Impulse zu setzen - in Bezug auf die aktuellen Erkenntnisinteressen des Kindes oder aus dem eigenen Interesse heraus.
Sich mit eigenen Gedanken ins Spiel zu bringen, heißt nicht, in den "Erklärmodus zu schalten" und durch Instruktion den Kindern die Dinge "richtig" zu vermitteln oder - auf den Tagesablauf bezogen -die Kinder per Ansage durch den Tag zu "manövrieren". Es heißt auch nicht, beim reinen Widerspiegeln dessen, was ein Kind fragt, bemerkt oder kommentiert, stehenzubleiben. Beides kommt im heutigen Kita-Alltag allerdings häufig und zwar abwechselnd vor. "Early Childhood Error" wird in der angelsächsischen Literatur das Phänomen genannt. Pädagoginnen vermeiden es in der Praxis eher, sich in kindliche Spielprozesse mit eigenen Gedanken einzubringen und eigene Ideen in gemeinsamen Diskussionen ins Spiel zu bringen, weil sie befürchten, Prozesse zu unterbrechen und die kindliche Entwicklung zu manipulieren.
So wechseln sich Phasen, die nahezu frei sind von Interaktion zwischen Pädagogin und Kind ("Frei"-Spiel), mit Erklär- oder Ansage-Phasen ab (meist freundliche Nicht-Dialoge: "Zieh dir schon mal die Gummistiefel an!", "Warte bitte auf Peter!", "Geht euch schon mal die Hände waschen!"), das Erklär-Angebot für die Gruppe am Vormittag und das reine Widerspiegeln ("Du willst jetzt lieber erst mal in den Garten") im gesamten übrigen Tagesablauf. Vermutlich hängt dieses Phänomen mit einem falschen Verständnis von konstruktivistischen Lerntheorien zusammen. Denn die zugrundeliegende Aufgaben-Alternative aufseiten der Pädagoginnen ist einfach falsch. Sie besteht nicht zwischen Wissensvermittlung und Widerspiegeln, sondern zwischen Wissensvermittlung/Widerspiegeln auf der einen Seite und dem Einbringen der eigenen Gedanken in ein gemeinsames Nachdenkgespräch auf der anderen Seite. Ein dialogischer Prozess, der die gesamte Kita-Zeit umfassen sollte, in dem eigene Gedanken über die Welt, die anderen und sich selbst in das Gespräch einfließen. Respektvoll in diesem zweiten Sinne ist es, beides - den Welterklärungsmodus und den Rückzug -, hinter sich zu lassen und die eigenen Gedanken und Werte als Ideen in die (verbale und nonverbale) Interaktion mit den Kindern einzubringen.
Dialoge aus Fragen der Kinder entwickeln
Wir wollen das an einem Beispiel deutlich machen: Kinder stellen - etwa ab dem Alter von 2 1/2 Jahren - viele Wie- und Warum-Fragen. Diese Fragen stellen sie Erwachsenen, weil sie verstehen wollen, wie die Ereignisse und Dinge in der Welt und wie Handlungen von Personen miteinander zusammenhängen. Sie interessiert, welche Idee die Erwachsenen haben, und sie wollen gemeinsam überlegen. Nehmen wir beispielsweise Anika (4 Jahre), die mit einem Käfer auf der Hand zu ihrer Erzieherin kommt. Der Käfer bewegt sich nicht, und Anika fragt: "Warum kann der Käfer nicht fliegen?" Nehmen wir an, die Erzieherin weiß das nicht genau - und weiß, dass sie das nicht genau weiß. Das kommt ja ziemlich häufig vor. Wie kann die Erzieherin so reagieren, dass sie a) die Frage von Anika ernstnimmt, b) sich selbst als nachdenkende Person ins Spiel bringt und c) Anika zum Selbst- und Weiterdenken ermutigt - also das tut, was die Aspekte einer respektvollen Begegnung beschreiben, die uns hier wichtig sind?
Eine gute Möglichkeit ist, dass sie - nachdem sie den Käfer angeschaut hat - genau das dialogisch tut:
A) Sie wertschätzt die Frage, das heißt, sie gibt Anika zu verstehen, dass es gut ist, dass sie diese Frage stellt, dass sie nachdenkt und auf eine Abweichung/Unklarheit stößt, für die sie eine Interpretation sucht. Zum Beispiel: "Mhm. Gute Frage" oder "Ja, wirklich".
B) Sie denkt nach und bringt einen eigenen echten Gedanken ein, eine Hypothese, die ihr plausibel erscheint. Sie markiert diesen Gedanken als Möglichkeit und signalisiert dadurch, dass sie nicht "von oben herab" erklärt, sondern selbst mitdenkt: Zum Beispiel: "Könnte ja sein, dass der gar keine Flügel hat" oder "Ich kann mir vorstellen, dass der sich verletzt hat" oder "Vielleicht ist der noch jung. Ich weiß gar nicht, ob kleine Käfer gleich nach ihrer Geburt schon fliegen können ...".
C) Und sie signalisiert Interesse an einer Hypothese von Anika, die dann zusammen mit der eigenen Hypothese Ausgangspunkt des gemeinsamen Erwägens werden könnte. Sie gibt die Frage zurück: "Und was denkst du?"
Es ist klar, dass dieser exemplarische Dreischritt kein Rezept ist, derart, dass man ihn stereotyp anwenden sollte. Aber das sind Beispiele ja nie. Er verdeutlicht nur sehr gut, wie mikroskopisch kleinteilig Dialoge wirken, welche impliziten Botschaften sie vermitteln.
Das unbekannte Unbekannte bleibt unbekannt
Wir wissen aus aktuellen Studien, dass Kinder, die als Antwort auf ihre Wie- oder Warum-Fragen nicht rein explizierende Antworten von Erwachsenen bekommen, deutlich häufiger dazu neigen, eigene Hypothesen zu entwickeln.1 Aktuelle Studien zeigen ebenso, dass Kinder durch Erläuterungen der Erwachsenen im Erklärungsmodus ("Ich sage dir jetzt mal, wie das ist ...") am Explorieren gehindert werden und dass Erwachsene, die mit ihnen gemeinsam nachdenken und ausprobieren, sie im selbstständigen Forschen unterstützen.2 Die Autoren der Studie führen das darauf zurück, dass die Kinder von erklärenden Erwachsenen implizit erwarten, dass sie die relevanten Informationen vorstrukturieren und die wesentlichen Informationen herausfiltern. Sie unterstellen im starken Umkehrschluss dabei auch, dass nicht relevant ist, was nicht vermittelt wird. Etwa so: "Was wichtig ist, wird sie mir schon sagen. Was sie nicht sagt, ist nicht wichtig. = Nur das, was sie sagt, ist wichtig." Wie häufig kommt es aber vor, dass wir nicht wissen, was wir nicht wissen? Dieses uns unbekannte Unbekannte könnten Kinder explorierend entdecken - auch für uns, wenn wir nicht durch den Erklärungsmodus vorstrukturieren, sondern einfach mitdenken und mitforschen würden.
Eigene Fragen stellen - Denkprozesse anregen
Sich selbst als denkende Person ins Spiel bringen kann man natürlich auch, indem man selbst Fragen stellt, deren Antwort man nicht genau kennt und von denen man meint, dass die Idee eines Kindes möglicherweise einen gemeinsamen Nachdenkprozess eröffnen könnte. Der gesamte Kita-Alltag bietet unendlich viele Möglichkeiten, Kinder in anregende Gespräche über das, was sie in ihrer Umgebung erleben, zu verwickeln - und sich selbst gleich mit, etwa beim Händewaschen, beim An- und Ausziehen, beim Essen, vor dem Schlafen, beim Bücher-Betrachten, beim Obstschneiden, beim Aufräumen. Und es können auch Fragen sein, die jenseits des beschreibenden Was? Wer? Wo? liegen und die Zusammenhänge zwischen Ereignissen und Handlungen betreffen - Nachdenkfragen also. Beispielsweise "Was denkst denn du, warum ..."-Fragen - sie kommen viel zu selten vor.
Immer wieder fällt auf, dass Kinder die meisten Fragen nur als Scheinfragen kennen, als Fragen, die keine echten sind: Der Lehrer weiß schon die Antwort, er tut nur so, als wüsste er sie nicht, um zu testen, ob die Schüler herausfinden, was die richtige Antwort ist oder eben nicht. Respektvoll sind solche Fragen nicht, sie haben keine wechselseitige gemeinsame Basis. Es sind Kompetenztestfragen, aus denen sich kein echtes Gespräch "auf Augenhöhe" ergeben kann. Eine Frage ist nur dann echt, wenn es ein echtes Erkenntnisinteresse aufseiten des Fragenden gibt. Das kann sich auf die Sache selbst oder auf die mögliche Hypothese des Gegenübers beziehen - also: Wenn es die Pädagogin nicht interessiert, warum Wasser eigentlich nicht nach oben fließt (Vielleicht weil sie denkt, dass sie das schon weiß?), dann kann sie zum Beispiel interessieren, welche Hypothese Anika entwickelt. Auch dann handelt es sich um einen Frage-Echtmacher. Oder man fragt: "Was denkst du, warum kommt durch die Gummistiefel kein Wasser?", "Was meinst du, warum machen wir die Augen zu beim Schlafen?", "Was denkst du, warum sind die Spaghetti eigentlich so lang?"
Wenn sich dann eine Diskussion ergibt, wenn gemeinsam überlegt, erwogen und eben nicht sofort gegoogelt wird (Wikipedia ist der größte Erklärer), kann "Sustained Shared Thinking" (nachhaltig geteiltes Denken) entstehen: eine respektvolle und anregende Interaktion mit großem Einfluss auf die emotionale und kognitive Entwicklung der Kinder, die - wie in einer englischen Langzeitstudie belegt wurde - der entscheidende Indikator für eine gute Kita-Qualität ist.3
Dr. Frauke Hildebrandt
Arbeitsstelle Gorbiks-Transfer - Landesstelle für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM) in Ludwigsfelde-Struveshof.
Dr. Christa Preissing
Dipl.-Soziologin und Dr. der Philosophie ist Vizepräsidentin der Internationalen Akademie (INA) gGmbH an der Freien Universität Berlin und Direktorin im Institut für den Situationsansatz der Internationalen Akademie.
Anmerkungen
1 Frazier, B; Gelman, S.; Wellman, H. (2009): Preschoolers Search for Explanatory Information Within Adult-Child Conversation. In: Child Development, 80, 6, S. 1592-1611.
2 Muentener, P.; Schulz, L. (2012): What Doesn't Go Without Saying: Communication, Induction, and Exploration, Language Learning and Development, 8:1, S. 61-85.
3 Sylva, Melhuish, Sammons, Siraj-Blatchford, Taggart, Elliot (2004): Effective Provision of Pre-School Education Project (EPPE) - Sustained Shared Thinking