Titelthema
Erkenntnisquelle Spiel
Jeder, der an Kindern interessiert ist, erlebt und sieht, welch hohe Anziehungskraft die Lebenswelt der Erwachsenen, deren Gebrauchsgegenstände, ihre Handlungen und Beziehungen für Kinder vom jüngsten Alter an haben. In ihren Spielen ist es ihnen möglich, am sie so faszinierenden Leben der Erwachsenen teilzuhaben, die Welt zu erobern, vieles zu erleben und zu tun, was ihnen in der Wirklichkeit nicht möglich ist. So gesehen ist das Spiel für Kinder eine Chance, in Lebensbereiche vorzudringen, die ihnen im realen Leben versperrt sind, die ihnen nur durch das fantasievolle Spiel zugänglich sind.
Das Spiel ist Quelle kindlicher Entwicklung - darüber ist man sich in Theorie und Praxis einig. Weltweite Resonanz fanden und finden zum Beispiel bis heute die Auffassungen Friedrich Fröbels (1782 - 1852) zum Wert des Spiels für die Entwicklung von Kindern: "Das Spiel recht erkannt und gepflegt, öffnet dem Kinde den Blick in die Welten, für die es erzogen werden soll, und entwickelt es dafür." In letzter Zeit finden auch die grundlegenden Erkenntnisse der Entwicklungspsychologen der ehemaligen Sowjetunion wie Rubinstein, Elkonin und Wygotski in der Diskussion über das kindliche Spiel zunehmende Beachtung (siehe Textor: Kindergartenpädagogik, Online-Handbuch).
Weitgehend einig ist sich die Fachwelt heute darüber, dass das Besondere, die Haupteigenschaft des Spiels darin besteht, im Spiel die Wirklichkeit in einem aktiven und fantasievollen Prozess zu rekonstruieren, umzuwandeln. Das heißt, das Spiel gibt den Kindern die Möglichkeit, ihr Bedürfnis nach Teilnahme am Leben der Erwachsenen zu befriedigen, indem sie eine gedankliche, "eine eingebildete Situation", die sogenannte "Als-ob-Situation" schaffen. Was das Kind irgendwie an Bedeutsamem erlebt, erfahren, gesehen hat, kann im Spiel mit Hilfe seiner Fantasie in einer "eingebildeten Situation" neu entstehen und in selbst gewählten Themen und Spielhandlungen lustbetont erlebt werden (vgl. Elkonin, S. 11). Indem Kinder ihre Erlebnisse - auch beängstigende Ereignisse - verarbeiten und zugleich Interesse entwickeln, Neues über ihre Lebenswirklichkeit in Erfahrung zu bringen, um noch besser spielen zu können, dringen sie tiefer in für sie bedeutsame Lebensbereiche ein (vgl. (Elkonin, S. 33 ff./Wygotski, S. 445).
Im Spiel können die Kinder ihr Bedürfnis nach sozialen Kontakten zu Erwachsenen und zu anderen Kindern, nach Unterhaltung und Humor befriedigen. Es bietet den Kindern vielfältige Möglichkeiten, sich am Leben der Kindergemeinschaft selbstbestimmt zu beteiligen und mitzubestimmen - es fordert dazu geradezu heraus. "Das Spiel wird für die Kinder zu einer Schule des Lebens eigener Art." (Rubinstein 1976, S. 57).
Wie entwickeln sich die Spiele der Kinder?
Im Prozess der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes entwickeln und verändern sich auch seine Spiele. In jedem der Spiele setzt sich das Kind mit einem anderen Bereich seiner Persönlichkeit und der Lebenswirklichkeit auseinander (vgl. Elkonin, S. 250 ff./Maiwald, S. 12 f.). Hier nur ein kurzer Abriss dieser ineinander übergehenden und teilweise nebeneinander bestehenden Spiele, denn der Zusammenhang zwischen Spielen und Lernen, der Wert des Spiels für die Entwicklung von Kindern erschließt sich erst aus einem Verständnis für das Spiel als Ganzes.
- Wahrnehmungsspiele
Schon kurz nach der Geburt imitiert ein Baby seine Eltern beziehungsweise seine Beziehungspersonen. Es nimmt deren Gefühle und Verhaltensmuster über seine Sinnesorgane wahr, ebenso wie die Gefühle, die dadurch bei ihm ausgelöst werden, und spiegelt diese mittels der Nachahmung wider. Wiederholung und Abwechslung bereiten Vergnügen und geben immer neue Anreize (vgl. Maywald, S. 12 f.).
Babys und Kleinkinder setzen sich in spielerischen Handlungen mit sich selbst und ihrer Umgebung als Teil der Welt (die eigenen Finger betrachten, lutschen, bestaunen, die Füße beobachten, auf hell und dunkel reagieren, Gesichter erkennen und so weiter) auseinander und nehmen Dinge, Erscheinungen und eigene Empfindungen zunehmend differenzierter wahr. Sie haben Freude an der gemeinsamen Spielhandlung und fordern diese bis zur eigenen Befriedigung ein (Noch mal!). Sie erproben im Spiel die verschiedenen Bewegungsmöglichkeiten ihres Körpers mit Freude immer wieder und entdecken, dass sie dadurch immer neue Perspektiven und Blicke in ihr Umfeld erhalten.
- Funktionsspiele
Während die Babys und Kleinkinder in ihren Spielhandlungen mit den Gegenständen zunächst noch unspezifisch hantieren, ist gegen Ende des ersten Lebensjahrs ein erheblicher Wandel zu verzeichnen. Sie erschließen sich nun die Handlungsmöglichkeiten einzelner Gegenstände (Was kann man damit tun?) und erproben diese in Kombination mit weiteren Gegenständen. Diese Erfahrungen fördern das Interesse des Kindes am Erforschen der Funktionen von Gegenständen.
Es sind die unterschiedlichsten Dinge, vor allem die wirklichen Gebrauchsgegenstände der Erwachsenen, die die Aufmerksamkeit und Zuwendung der Jüngsten stimulieren. Ihre Auswahl ist anfangs zufällig. Mit zunehmendem Alter werden diese Spielhandlungen mit den Gegenständen, mit Spielzeug und "Zeug zum Spielen" immer zielgerichteter, denn sie wollen die Handlungen der Erwachsenen möglichst genau nachvollziehen (Puppe füttern, kochen, backen und vieles andere). Dabei spielen jüngere Kinder meist nebeneinander und achten wenig auf die Handlungen der anderen (vgl. Elkonin, S. 254 f.).
- Bau- und Konstruktionsspiele
In enger Verbindung mit den "gegenständlichen Spielen" entwickeln sich die Bau- und Konstruktionsspiele, in denen es gewöhnlich noch keine Rollen gibt. Spielinhalt ist der spielerische Umgang mit Bausteinen, Bau- und Legematerial, Konstruktions- und Naturmaterial (Sand, Schnee, Steine, Wurzeln, Zweige, Moos und vieles andere). Die Kinder können verschiedene Techniken ausprobieren, nach Vorlagen bauen beziehungsweise legen, mit Naturmaterial experimentieren. Sie erfahren, wie man Vorhaben planen und sachgerecht und ideenreich gestalten kann.
- Rollenspiele
Schließlich entwickeln sich die Rollenspiele, die von besonderer Bedeutung für die Entwicklungsprozesse von Kindern sind. Die Mädchen und Jungen setzen sich in komplexen Themen mit der Lebenswirklichkeit auseinander, indem sie verschiedene Rollen (Personen) übernehmen, sich mit den rollenverbundenen Verhaltensmustern und Beziehungen identifizieren und in einer gedachten Situation (der "eingebildeten Situation", s. o.) fantasievoll nachgestalten. Sie entwickeln eine imaginäre Vorstellungswelt, in die Symbole (Stöcke anstatt Fieberthermometer) an die Stelle von echten Gegenständen und Bedeutungen (Wir fliegen jetzt mal schnell in den Urlaub) an die Stelle von realen Handlungen treten. Dadurch wird der Weg zum abstrakten Denken bereitet und die Sprachentwicklung unterstützt (vgl. Wygotski, S. 451).
Aus der jeweiligen Rolle und der Spielsituation erwachsen ungeschriebene Regeln, die für die Spielenden aber verpflichtende, innere Regeln sind (sich so verhalten, wie es die übernommene Rolle als Mutter, Ärztin oder Pilotin vorsieht). Je entfalteter das Spiel ist, desto mehr innere Regeln geben den Spielhandlungen die Richtung und werden auf immer mehr Momente des Spiels ausgedehnt. Wygotski betont, dass gerade im Beachten der Regeln (Selbstkontrolle) der größte Lustgewinn im Spiel erzielt wird. Indem die Kinder bestimmte Rollen übernehmen und sich an die Verhaltensregeln halten, dringen sie tiefer in die Motive des Handelns und die Gestaltung der sozialen Beziehungen ein (vgl. Wygotski, S. 457).
- Handpuppen- und darstellende Spiele
In enger Verbindung mit den Rollenspielen sind die Handpuppen- und darstellenden Spiele zu sehen. Hierbei gestalten Kinder selbst oder mit Handpuppen ausgewählte Inhalte und Szenen von Märchen und Geschichten anhand der literarischen Vorlage nach oder dramatisieren auch eigene Erlebnisse. Sie übernehmen verschiedene Rollen und versuchen dabei durch eigene typische Bewegungen oder Führung der Puppen, durch die Modulation der Stimme, durch Mimik, Gestik und sprachliche Gestaltung die Aussagen und die positiven, aber auch negativen Gefühle der handelnden Figuren zu verdeutlichen (gut, böse, lustig, traurig, listig, hilfsbereit, liebevoll, egoistisch ...). Kinder lieben das Handpuppen- und Theaterspiel.
- Regelspiele oder didaktische Spiele
Gegen Ende der Zeit im Kindergarten werden die Regelspiele immer bedeutsamer. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie ein bestimmtes Ziel haben und über einen genauen Spielablauf und feste Regeln das Zusammenspiel der Mitspieler organisiert wird. Zu diesen Spielen gehört die ganze Palette der Kreis-, Tanz-, Sport und Mannschaftsspiele, Lauf- und Haschespiele, Wettspiele, Versteckspiele, Kartenspiele, Brettspiele, Puzzle und andere. Die Regel wird zum dominierenden Moment des Spiels. Je strenger sie die Tätigkeit reguliert, desto spannender wird das Spiel. "Die Erfüllung der Regel ist Quelle der Lust." (Wygotski, S. 458)
Welche Kompetenzen können Kinder sich aneignen?
All diese verschiedenen Spiele sind außerordentlich wichtig für die ganzheitliche Entwicklung der Kinder, denn in jedem der Spiele können sie sich besondere Erfahrungen, spezifisches Wissen und Können aneignen. Hier sollen nur einige der Kompetenzen hervorgehoben werden, die sich Kinder im Spiel aneignen können. Dabei ist zu beachten: Vordergründige pädagogische Zwecksetzungen sind dem Spiel fremd, sie zerstören das Spiel! Die Bildungsmöglichkeiten können sich im Spiel nur entfalten, wenn es eigenständiges Spiel der Kinder bleibt. Die folgende Darstellung der Kompetenzen erfolgt nach der in der Pädagogik der frühen Kindheit bewährten Gliederung:
Mädchen und Jungen können im Spiel ihre Ich-Kompetenzen stärken,indem sie
· sich ihrer Bedürfnisse, Wünsche, Interessen und Gefühle bewusst werden und diese in vielfältiger Weise ausdrücken
· das Vertrauen in die eigenen Kräfte entwickeln, selbst etwas bewirken zu können
· vielfältige (Spiel-)Ideen entwickeln, Initiative ergreifen, andere begeistern, sich durchsetzen
· die Bereitschaft entwickeln, Kontakte herzustellen und zu erhalten, um Partner zu werden
· die eigene Meinung sagen, die Meinung anderer akzeptieren, Kritik äußern und annehmen
· mit Freude Dialoge gestalten und Humor entwickeln
· anderen ihre Hilfe anbieten, auch selbst um Hilfe bitten und Hilfe annehmen
Sie können im Spiel ihre sozialen Kompetenzen stärken, indem sie
· anderen zuhören; lernen, sich einzufühlen, sich in die Perspektive von anderen hineinzuversetzen und darauf einzugehen
· getroffene Vereinbarungen einhalten oder in gemeinsamer Absprache verändern
· sich über unterschiedliche Erwartungen verständigen; Ideen anderer anerkennen, Konflikte aushandeln und Kompromisse schließen; eigene Wünsche auch mal aufschieben
· mit anderen Spielpartnern kooperieren, sich ein-, über- und unterordnen, abgeben und teilen
· Verständnis für die Notwendigkeit von Regeln entwickeln, sich an Regeln und Verhaltensnormen halten und auch einfordern, neue Regeln erfinden beziehungsweise vereinbaren, sich gegenseitig Regeln erklären
· Fairness entwickeln; gewinnen und verlieren können
Sie können im Spiel ihre Sachkompetenzen stärken, indem sie
· ihre Gefühle, Empfindungen und Wünsche anderen auf verschiedene Weise verständlich mitteilen
· Spielbedingungen schaffen oder verändern, improvisieren, organisieren, abstimmen
· Kreativität und Fantasie bei der Verwirklichung ihrer Ideen und Vorhaben entwickeln
· Umwelt- und Verfahrenskenntnisse, Sinn- und Kausalzusammenhänge erschließen
· sich den Inhalt von Erzählungen, Märchen und Geschichten erschließen
· ihre Gedanken sinnvoll und sprachlich treffend zum Ausdruck bringen
· Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit verschiedenen Materialien und Medien erwerben
· körperliche Beweglichkeit, Koordinationsvermögen und Reaktionsfähigkeit sowie Interesse an sportlichen Spielen entwickeln
· ein breites Repertoire verschiedener Spiele beherrschen und anderen erklären, Spiele selbst erfinden
Sie können im Spiel ihre Lernmethodischen Kompetenzen stärken, indem sie
· Sorgfalt, Zielstrebigkeit, Beharrlichkeit, Ausdauer, Geschicklichkeit und Flexibilität entwickeln
· Freude am Erfinden, Suchen und Ausprobieren von originellen Lösungswegen, am Überwinden von Schwierigkeiten haben
· erkennen, dass Anstrengung zum Erfolg führt
· Ursachen für Gelungenes und Nicht-Gelungenes erkennen, Fehlerquellen ausfindig machen und sich um Veränderung bemühen (vgl. auch Naumann, S. 48 f.)
Diese vielseitigen Kompetenzen, die sich die Mädchen und Jungen scheinbar so nebenbei in ihren Spielen aneignen können, sollten dokumentiert und sichtbar gemacht werden. Das könnte auch die von Eltern oftmals unterschätzte Bedeutung des Spiels (Heute wieder nur gespielt?) für die Entwicklung ihrer Kinder anschaulich verdeutlichen.
Welche Voraussetzungen und Bedingungen sind notwendig, damit ein erlebnisreiches, erfülltes Spiel entstehen und lebendig bleiben kann?
Auch wenn betont wird, dass das Spiel eine eigenaktive, selbstbestimmte Tätigkeit der Kinder ist, heißt das nicht, dass Erzieherinnen sich aus dem Spiel zurückziehen sollen und keine aktive Rolle zur Unterstützung der Spielfähigkeiten der Kinder haben. Was sind ihre professionellen Aufgaben?
Sie sollten
· zunächst ihre Einsichten und Vorstellungen darüber reflektieren, in welcher Art und Weise sich Kinder im Spiel die Welt aneignen, wie und was Kinder im Spiel lernen können
· gemeinsam mit den Kindern (und Eltern) Bedingungen für ein vergnügliches Spiel mit seinen vielfältigen Formen schaffen
· den Kindern vielseitige interessante Erlebnisse und Begegnungen in verschiedenen Bereichen des Lebens ermöglichen, denn die Umwelt ist Quelle inhaltsreicher Spiele
· die spielenden Kinder aufmerksam beobachten und sie bei der Verwirklichung ihrer Spielvorhaben unterstützen
Dabei gilt:
1. Das Spiel muss Spiel der Kinder bleiben. Damit das Spiel seine entwicklungsfördernden Wirkungen entfalten kann, muss es eine von den Kindern selbst gewählte Tätigkeit eigener Art bleiben, weitgehend frei von belehrendem Einfluss und wertender Korrektur der Erwachsenen.
2. In der Kita sollte eine anregende Umgebung mit Freiräumen und Anreizen zu vielfältigen Spielen geschaffen werden.
3. Kinder können nur das spielen, was sie erlebt, kennen, gesehen, erfahren haben oder sich in ihrer Fantasie vorstellen können. "Alles, wovon das Spiel lebt, (...) schöpft es aus der Wirklichkeit." (Rubinstein, S. 56) Deshalb sollten Erzieherinnen den Kindern sich ständig erweiternde Kenntnisse und Lebenserfahrungen ermöglichen.
4. Es ist wichtig, die Kinder bei der Verwirklichung ihrer Spielideen und der Erweiterung ihrer Spielfähigkeiten zu unterstützen und anzuregen.
Erzieherinnen können so dazu beitragen, dass sich jedes Kind vom jüngsten Alter an in ein erfüllendes, erlebnisreiches Spiel vertiefen und sich die Welt auf seine Art erschließen kann. Denn: "Das Spiel ist die Quelle der Entwicklung und schafft die Zone der nächsten Entwicklung." (Wygotski, S. 462)
Dr. Elke Heller
Kindergärtnerin, Leiterin einer Kita; dann Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin mit Abschluss Dr. päd.; heute freie Mitarbeiterin und Fortbildnerin am Institut für den Situationsansatz der Internationalen Akademie (INA gGmbH) an der FU Berlin.
Literatur
· Daniil Elkonin: Psychologie des Spiels; Köln: Pahl-Rugenstein 1980
· L. Maywald: Spielen: Grundform des Lebens. In: frühe Kindheit 2009; S.12 - 17
· Sabine Naumann: Hier spielt sich das Leben ab - Wie Kinder im Spiel die Welt begreifen; Ravensburg: Ravensburger Verlag 1998
· Sergey L. Rubinstein: Das Wesen des Spiels. In: Psychologische Studientexte 1973; S. 52 - 64
· Martin R. Textor: Lew Wygotski - entdeckt für die Kindergartenpädagogik; www.kindergartenpaedagogik.de
· Lew Wygotski: Vorlesungsskripte zur Psychologie des Vorschulalters. In: D. Elkonin: Psychologie des Spiels; Berlin 1980; S. 430 - 464