Titelthema
Wege zur Mathematik
Meine eigenen Erinnerungen an die Schulzeit sind zwiespältig: Mathe sah interessant aus, wirkte aber eher wie Zauberei, die ich selten sofort verstand. Offenbar bin ich mit solchen Erinnerungen nicht allein, denn ich habe von Erzieherinnen gehört, die ihren Beruf unter anderem deshalb gewählt haben, weil sie dort mit Mathematik nichts mehr zu tun haben werden.
Der Irrtum dabei ist nur: Kinder haben im Kindergartenalter schon längst die Mathematik entdeckt, wenn auch keine komplizierten Rechenoperationen. Aber sie sammeln, vergleichen und ordnen mit großer Hartnäckigkeit Materialien und Gegenstände und entdecken dabei Ähnlichkeiten, Reihungen und reizvolle Muster.
Die "schönen Muster"
Das Mädchen auf Bild 1 hat nicht einfach irgendeine Blume gelegt, sondern ihm war offenbar sehr wichtig, dass die Blume symmetrisch ist: Jeweils links und rechts finden sich genau gleiche Formen und Anordnungen, selbst bei kompliziert aufgebauten Mustern. Es herrscht fast völlige Übereinstimmung nicht nur in den Formen, sondern auch in den Farben. Im Moment ist dieses Mädchen Mathematikerin, denn "Mathematik wird als 'Wissenschaft von (schönen) Mustern' aufgefasst, die man interaktiv erforschen, fortsetzen und erfinden kann" (Wittmann 2009). Bild 2 zeigt ein noch wesentlich komplexeres "schönes Muster", bei dem jedes Detail seinen Platz hat.
Ein Paradies, wenn es "schöne Muster" zu entdecken gilt, sind Knopfkisten - vorausgesetzt, sie sind gut gefüllt und nicht schon vorsortiert (Bild 3). Gleiche Knöpfe können gesammelt, ähnliche Knöpfe nach verschiedenen Kriterien sortiert, Unterschiede (auch die kleinsten) registriert werden.
Zu den Alltagsgegenständen, die in Kitas reichlich vorhanden und einander ähnlich, aber oft nicht völlig gleich sind, zählen Dinge aus der Küche, insbesondere Bestecke. In einer Kita war die Vorbereitung des Mittagessens über Wochen hinweg eine Geduldsprobe für die Erzieherinnen, weil die Kinder etwas Aufregendes entdeckt hatten: Weder das Besteck noch das Geschirr war "ganz gleich"; einige Gabeln hatten einen kleinen Stempel am Griff, andere nicht, einige waren außerdem etwas kleiner als die anderen. Dasselbe galt für die Messer und die Löffel. Weil die Kinder nun den Ehrgeiz hatten, ein "genau gleiches" Besteck zu haben, setzte ein munteres Tauschen ein, das bis zu zehn Minuten dauern konnte. Danach passierte das Gleiche mit den großen und kleinen Tellern, die unterschiedliche Gravuren auf der Unterseite hatten ... Das ist Mathematik im Alltag!
Vergleichen und Messen
Eine Wurzel der Mathematik ist also die Beschäftigung mit Mustern und Strukturen. Eine andere ergibt sich aus ganz praktischen Tätigkeiten im Alltag, denn Mathematik ist auch "hervorgegangen aus den praktischen Aufgaben des Zählens, Rechnens und Messens" (Meyers Großes Taschenlexikon, Bd. 14). Schon sehr junge Kinder gehen erfolgreich mit praktischen Aufgaben um, bei denen sie zählen und rechnen müssen: Sie decken zum Beispiel den Tisch für ihre Familie oder ihre Freunde und zählen die Anzahl der Teller oder Tassen, die gebraucht werden, in den meisten Fällen richtig ab. Wenn sie mit zwei Freundinnen im Sandkasten buddeln wollen und jedes Kind zwei Schaufeln braucht, multiplizieren sie ("drei mal zwei"), indem sie fortlaufend addieren.
Das Messen fängt schon früh mit Vergleichen an wie: "Ich bin größer als du." Ein komplizierteres Beispiel: Drei Mädchen hängen kopfüber in einem Kletternetz, erzählen sich alles Mögliche, bis eine wichtige Frage auftaucht: "Wer von uns hat die längsten Haare?" Das Interessante an diesem (ganz offensichtlich mathematischen) Problem ist nun, dass keins der drei Mädchen diese Aufgabe allein lösen kann. Jedes sieht zwar die Haare der beiden anderen, aber nicht die eigenen - jedenfalls nicht so, dass ein Vergleich möglich wäre. Die Mädchen gehen nach dem Prinzip des paarweisen Vergleichs vor, das wir in abstrakter Form so kennengelernt haben: "Wenn A größer ist als B und B größer ist als C, dann ist A auch größer als C." Ein Mädchen vergleicht die Haare der beiden anderen, die "Verliererin" muss dann die Haare der beiden anderen Mädchen vergleichen, und schon steht die "Gewinnerin" fest. Und schließlich ist noch die Frage, ob die Mädchen dabei die "Ungerechtigkeit" entdecken, die dadurch entsteht, dass ein Kind seine Haare mit einem Band zusammengebunden trägt, die beiden anderen dagegen nicht ...
Auch den entscheidenden Vorteil des Messens, der beispielsweise darin besteht, den Schrank nicht mehr bis zur Tür schleppen zu müssen, nur um dort festzustellen, dass er nicht hindurch passt, lernen die Kinder schon früh kennen, wie folgendes Beispiel zeigt: Hortkinder haben im Außengelände der Kita einen Tümpel gegraben; Sebastian (5 1/2 Jahre) ist unsicher, ob er mit seinen relativ kurzen Gummistiefeln in den Tümpel steigen kann, ohne nasse Füße zu bekommen, und fragt die Erzieherin: "Wie tief ist der?" Als sie antwortet: "Das weiß ich auch nicht so genau", kratzt Sebastian sich am Kopf, überlegt, holt sich einen Stock, steckt ihn ins Wasser und hält ihn zum Vergleich an einen seiner Stiefel ...
Eigentlich nichts Neues
In den Bildungsplänen der Länder ist "Mathematik" konsequenterweise als Bildungsbereich festgeschrieben, aber ein neues Thema ist das nicht:
Friedrich Fröbel (1782 - 1852), der "Erfinder" des Kindergartens, entwickelte unter anderem Materialien, die er "Spielgaben" nannte. Er war übrigens didaktisch-methodisch ziemlich genau: Die "Spielgaben" sollten den Kindern in einer bestimmten Reihenfolge und mit bestimmten Erklärungen gegeben werden, und die Erzieherin hatte genau beschriebene Aufgaben - je nachdem, was die Kinder taten, sagten oder fragten.
Die "Spielgabe Nr. 2" (Bild 4) enthält drei unterschiedliche geometrische Körper: einen Würfel, eine zylindrische Säule ("Walze") und eine Kugel. Viele Kinder entdecken und beschreiben nicht nur die Unterschiede im Groben, sondern darüber hinaus, dass die zylindrische Säule gewissermaßen in der Mitte zwischen "nur gerade und eckig" (Würfel) und "nur rund" (Kugel) steht.
Die berühmte "Spielgabe Nr. 3" (Bild 5) ist ein Holzwürfel, der aus acht kleinen Würfeln zusammengesetzt ist. Damit lässt sich einerseits bauen und gestalten, zum Beispiel ein Turm mit einem Torbogen in der Mitte. Weil sich die Kinder dabei an Formen orientieren, die sie aus dem Lebensalltag kennen, bezeichnete Fröbel diese Gestaltungen als "Lebensform". Bei anderen Gelegenheiten legten dieselben Kinder aber dieselben Würfel als geometrische Figur (zum Beispiel kreisförmig), bei der es auf Regelmäßigkeit ankam. Solche Gestaltungen nannte Fröbel "Schönheitsform" (vgl. Wittmann 2009).
Auch Maria Montessori (1870 - 1952) entwickelte didaktische Materialien, von denen viele den Kindern die Beschäftigung mit mathematischen Sachverhalten, besonders Folgen, ermöglichen. Die "Braune Treppe" (Bild 6) zum Beispiel entsteht, indem rechteckige Stäbe ("quadratische Säulen") aneinandergelegt werden, die alle gleich lang sind, deren Grundkante aber jeweils um einen gleichbleibenden Betrag länger wird.
Bei den berühmten "Einsatz-Zylinderblöcken" (Bild 7) wird eine Größe (oder auch zwei gleichzeitig) variiert: Bei einer Variante haben die Einsatz-Zylinder unterschiedliche Durchmesser, sind aber alle gleich hoch. Bei einer zweiten Variante verändert sich nur die Höhe, nicht der Durchmesser, bei wieder anderen verändern sich beide Größen. Für die Kinder ist dieses Material eine "Aufgabe, die sich selbst stellt", und das ist ungeheuer attraktiv.
Jean Piaget (1896 – 1980) untersuchte in differenzierten Versuchsreihen, wie sich der Umgang von Kindern mit Formen und Zahlen im Lauf ihrer Entwicklung verändert. Er gab zum Beispiel Kindern im Alter ab vier Jahren eine große Zahl von Holzplättchen verschiedener Form und Farbe und bat sie, "zusammenzulegen, was zusammengehört". Im einfachsten Fall entstand die "Lange Reihe" (Bild 8), wie Piaget sie nannte, bei deren Zusammenstellung Form und Farbe der Plättchen noch keine Rolle spielten. Schon kurze Zeit später begannen die Kinder, entweder die Formen oder die Farben zu berücksichtigen und die Plättchen in bestimmter Weise zu gruppieren. Noch später (mit fünf oder sechs Jahren) spielten bei der Bildung von Mustern sowohl die Form als auch die Farbe eine Rolle, und die Regeln, nach denen eine Figur zusammengestellt wurde, wurden immer strikter verfolgt (Bild 9); alles hat seinen genauen Platz.
Kinder "fassen Mathematik an"
Die pädagogische Aufgabe besteht darin, das Interesse der Kinder an schönen Mustern und an Alltagssituationen, in denen Mathematik eine Rolle spielt, zu unterstützen. Isolierte Trainingsprogramme sind dabei ebenso wenig sinnvoll wie bei der Sprache oder der Bewegung.
Vor allem geht es um konkretes Wahrnehmen und Erfahren; die Kinder müssen Mathematik "anfassen" können. Ein Beispiel findet sich in dem Film "im Frühlicht" von Donata Elschenbroich und Otto Schweitzer: Die Körpergröße jedes Kindes der Gruppe wird mit einem Kreidestrich an einem Baum markiert, anschließend bekommt jedes ein Stück Seil, das genau so lang ist wie es selbst. Aufmerksam (um nicht zu sagen: andächtig) betrachtet ein vielleicht knapp zwei Jahre altes Kind "sein" Seil als etwas, das ganz anders ist als es selbst, aber doch etwas mit ihm gemeinsam hat.
Sehr gut zum Anfassen eignet sich "gleiches Material in großer Menge" (Lee 2010): Wenn Kinder zum Beispiel 500 Cent-Stücke oder 300 Wäscheklammern oder 200 Würfel zur Verfügung haben, dann entstehen wie von selbst schöne Muster, geometrische Figuren und Folgen. Ein Kind baut vielleicht eine regelmäßige Treppe nach dem Prinzip "Immer einen Würfel mehr". Dass dies später "arithmetische Folge erster Ordnung" heißen wird, ist zunächst uninteressant. Ein anderes Kind versucht herauszufinden, wann zwei Haufen von Münzen "gleich" sind. Dass dieses Prinzip später in Form der mathematischen "Gleichung" eine große Rolle spielen wird, ist noch ohne Bedeutung.
Kinder brauchen konkrete Erfahrungen, um abstrakte mathematische Prinzipien zu verstehen. In einem Projektbericht der Max-Brauer-Schule in Hamburg beschreiben Grundschulkinder, was sie sich beim Minus-Rechnen (Subtrahieren) denken: Ein Kind stellt sich eine Reihe von Luftballons vor, die es nacheinander mit einer Nadel zum Platzen bringt. Ein anderes stellt sich aufeinandergestapelte Tassen vor, die es Stück für Stück zu Boden wirft.
Kinder müssen mathematische Dinge nicht benennen können, aber sie sollten im Handeln erfahren und erkundet haben, was beispielsweise mit "schönem Muster", "gleich", "immer mehr" oder "weniger" gemeint ist. Im Zusammenhang mit der Sprachförderung hat uns Manfred Spitzer davor gewarnt, den Wert von linguistischen Strukturen und grammatikalischen Regeln zu überschätzen: Wir wenden sie nämlich meistens intuitiv an, auch wenn wir sie nicht formulieren könnten: "Wir wissen es nicht, aber wir können es." Für die Mathematik gilt zunächst dasselbe: Durch eigene Tätigkeit "können" schon sehr junge Kinder Mathematik, ohne Begriffe oder Bezeichnungen „wissen“ zu müssen.
Prof. Dr. Rainer Strätz
Stellvertretender Leiter des Sozialpädagogischen Instituts NRW (SPI) - zentrale wissenschaftliche Einrichtung der Fachhochschule Köln, Lehrtätigkeit in der Pädagogik der (frühen) Kindheit.
Literatur
Wittmann, E. Ch. (2009): Das mathe 2000-Frühförderprogramm. In: Pauen, S./Herber, V. (Hrsg.): Vom Kleinsein zum Einstein. Offensive Bildung; Berlin, Düsseldorf; S. 54 – 66