Titelthema
Wie geht lernen?
Frau Kruse soll mal wieder auf eine Fortbildung. Ihre Kita-Leitung möchte es so, denn sie findet, dass Frau Kruse etwas dazulernen soll. Die Leitung beschließt, sie für eine Fortbildung zum Thema kreatives Töpfern mit Kindern anzumelden. Ihre Überlegungen: In der Kita gibt es ein großes Atelier, die Einrichtung hat kürzlich eine Töpferscheibe geschenkt bekommen und dazu die Möglichkeit, günstig Ton zu beziehen. Ein solches Angebot würde sich in der Werbung für die Kita sicher gut machen. Es erhöht die Attraktivität der Einrichtung bei Eltern, man könnte schöne Kinderkunstwerke bei Festen präsentieren, eine Tombola für einen guten Zweck veranstalten, vielleicht sogar Kurse für Mütter anbieten oder das benachbarte Altenheim einbeziehen … STOPP! Irgendetwas stimmt hier nicht …
Hat die Kita-Leitung Frau Kruse gefragt, was sie davon hält? Hat sie sie überhaupt nach ihren Interessen gefragt? Hat sie sich daran orientiert, worin die Stärken von Frau Kruse liegen? Hat sie überprüft, welche Ziele Frau Kruse für sich selbst sieht und was sie aus ihrer Sicht weiterentwickeln kann? Wenn diese Fragen alle mit Nein beantwortet werden, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Frau Kruse sich tatsächlich etwas Neues aneignet und es dann auch in gewünschter Form umsetzt, eher gering einzustufen. Warum? Die Überlegungen der Kita-Leitung sind doch durchaus vernünftig und nachvollziehbar. Aber reichen diese äußeren Gründe, damit Menschen etwas Bestimmtes lernen? Was heißt überhaupt Lernen?
Unser Gehirn: plastisch, also veränderbar
Unser Fühlen, Denken, Handeln und Erleben ist im Gehirn repräsentiert in einem Netzwerk aus Nervenzellen und deren Verbindungen. Dieses Netzwerk ist einerseits Ergebnis vieler Erfahrungen und damit das Ergebnis all unseres Gelernten. Gleichzeitig ist es auch die Basis für neue Erfahrungen und neue Lernprozesse. Denn bei allem Neuen, das wir uns aneignen, knüpfen wir an Vorhandenes an. Am Lernen der Kinder können wir das noch am ehesten nachvollziehen. Bevor sich zum Beispiel die kleine Sylvi das erste Mal auf ein Fahrrad setzt, hat sie bereits Erfahrungen mit dem Sich-selbst-Fortbewegen gemacht. Vielleicht hatte sie schon ein Dreirad oder einen Roller. Auf jeden Fall aber hat sie bereits Übung darin, ihren eigenen Körper in der Senkrechten zu halten. Denn sonst könnte sie nicht Radfahren lernen.
Lernen: individuell, vielfältig und mit allen Sinnen
Was haben Sie zuletzt Neues gelernt? Und wie haben Sie es gelernt? Wenn Sie nicht gerade aktuell einen Kurs in PowerPoint oder Ähnlichem belegt haben, dürfte Ihnen die Antwort zunächst schwerfallen. Denn vermutlich haben Sie gar nicht richtig mitbekommen, wann Sie was gelernt haben. Und das ist typisch für die meisten unserer Lernprozesse: Sie laufen nebenbei ab. Das ist gut nachvollziehbar, wenn wir Kindern zuschauen: Sie beschäftigen sich den ganzen Tag über mit den verschiedensten Themen. Sie spielen -miteinander oder allein -, sie bewegen sich, sie beobachten, sie lachen und weinen. Mal sind sie zurückgezogen und in sich gekehrt, mal ausgelassen und explorativ. Jedes Kind in seinem Tempo, in seiner Art und Ausprägung. Sie lernen. Das können bestimmte körperliche Fertigkeiten sein, zum Beispiel Klettern, Balancieren oder Radfahren. Sie lernen auch, wie man sich in einer Gruppe durchsetzen kann. Sie lernen, Regeln zu erstellen und anzuwenden. Sie lernen ihre Gefühle und die der anderen kennen. Sie lernen, mit diesen Gefühlen umzugehen. Sie eignen sich auch Wissen an: Was ist eine Walnuss? Wo wachsen Affenbrotbäume? Wie heißt der neue Junge in der Gruppe?
Das heißt nicht unbedingt, dass Kinder automatisch alles lernen. Es gibt eine wichtige Triebfeder beim Lernen: die Motivation. Es scheint eine Binsenweisheit zu sein: Wir lernen dann am besten, wenn wir dazu motiviert sind. Motiviert zu sein heißt, ein Ziel vor Augen zu haben, etwas erreichen zu wollen - oder auch zu müssen - und dafür etwas zu tun. Dabei gibt es unterschiedliche Qualitäten der Motivation. Wenn Florian mit Zimmerarrest gedroht wird, falls er sein Zimmer nicht aufräumt, kann ihn das kurzfristig dazu bringen, tatsächlich das Zimmer aufzuräumen. Dann macht er es, um der Strafe zu entgehen. Celia weiß, dass sie von Oma ein Spielzeug bekommt, wenn sie beim Anziehen nicht mehr trödelt. Es scheint zu wirken, wenn Kinder durch solche äußeren Anreize motiviert werden, etwas zu tun oder zu unterlassen. Aber was lernen sie dabei? Ganz sicher nicht den eigentlichen Sinn des Aufräumens oder des zügigen Anziehens. Sie lernen: Wenn ich das mache, bekomme ich jenes. Und: Der Preis, den Oma oder Papa zahlen müssen, wird immer höher. Bald wirkt der Zimmerarrest nämlich nicht mehr, und auch das Spielzeug muss immer wertvoller werden. Und nun? Eine Sackgasse? Wie lernen Kinder das, was sie lernen sollen beziehungsweise was sie fürs Leben brauchen?
Selbstbestimmung: ein psychisches Grundbedürfnis
Kinder lernen dann eine Sache oder eine Verhaltensweise besonders gut, wenn sie sie als für sich bedeutsam bewerten. Diese Bewertung ist höchst subjektiv und geht einher mit einem inneren Analysieren, Vergleichen und Abwägen. Auch das geschieht nebenbei. Sylvi war schon sechs Jahre alt und wollte immer noch nicht Radfahren lernen. Alles gute Zureden der Eltern nützte nichts. Sie bekam ein schickes Fahrrad geschenkt, man wollte sie mit tollen gemeinsamen Ausflügen locken, aber weder Eltern noch Geschwister hatten eine Chance. Sylvi blieb bei ihrem Bobby Car. Doch eines Tages wollten ihre Freunde mit ihr zum Spielen auf den etwas weiter entfernten Fußballplatz fahren. Die Freunde konnten schon alle Rad fahren. Sylvi kam mit ihrem Bobby Car nicht mehr hinterher. Das brachte die Wende. Plötzlich ergab es einen Sinn für sie, ebenfalls Rad fahren zu können. Mit ein paar Übungsstunden stellte sich auch bald der Erfolg ein. Von da an war Sylvi vom Fahrrad nicht mehr herunterzubekommen.
Sylvi bestimmte den Zeitpunkt selbst. Damit ging sie einem wichtigen psychischen Grundbedürfnis nach, dem Bedürfnis nach Autonomie. Der Wunsch, selbstbestimmt zu handeln, ist ein Teil der inneren Motivation. Was für unseren Körper Essen, Trinken und Schlafen sind, sind für unsere Psyche die Autonomie, das Erfolgserleben und das Eingebundensein.
Zum Beispiel: Marius
Lernen geschieht an der Schnittstelle zwischen dem, was ein Kind schon kann, und dem, was es noch nicht kann, wie folgendes Beispiel zeigt:
Die Erzieherin Frau Keller hat sich etwas für Marius überlegt. Ihr war aufgefallen, dass er das Malen mit Stiften vermeidet. Sie hat Sorge, dass seine Feinmotorik dadurch vernachlässigt wird. Deswegen überlegt sie sich Situationen, in denen er das Malen mit Stiften üben kann. Schließlich muss er ja später in der Schule auch den Stift richtig halten und auf Linien schreiben können. Er soll ja reif für die Schule werden! Sie ermuntert ihn, Bilder für seine Mutter zu malen, weist ihn darauf hin, wie andere Kinder die Stifte halten, damit er das nachmachen kann, und überlegt sich ein Belohnungssystem für ihn … Als erfahrene Erzieherin werden Sie sofort innerlich "Halt" rufen. Auf diesem Wege wird Frau Keller Marius nur schwer dazu bringen, freiwillig zu Stift und Papier zu greifen.
Glücklicherweise hat Frau Keller eine Kollegin, die Marius in der Werkstatt beobachtet hat. Marius liebt es, Nägel in dicke Bretter zu schlagen. Sein Blick ist hoch konzentriert, wenn er mit Daumen und Zeigefinger den Nagel hält, während die andere Hand den Hammer schwingt. Eine Meisterleistung in Sachen Auge-Hand-Koordination! Daran kann Marius anknüpfen. Die Erzieherin zeichnet eine Linie auf Papier, legt dieses aufs Holz und fragt Marius, ob er an dieser Linie entlang eine Nagelreihe erstellen möchte. Marius greift diesen Impuls auf und macht sich sofort ans Werk. Bald holt er sich selbst den Bleistift, weil er eigene Linien zeichnen will. Später kann Frau Keller beobachten, wie sich Marius mit anderen Kindern über Baupläne von Gebäuden, die an der Wand hängen, unterhält. Marius beschließt, ebenfalls Baupläne zu zeichnen, für sein nächstes Werk aus Holz. Der Weg zum Schreib- und Zeichentisch ist geebnet!
Was Marius hier half, den nächsten Schritt zu machen, war dreierlei: Er durfte weiterhin mit dem Material tätig sein, das ihm Spaß macht und das für ihn einen persönlichen Zugang bedeutet. Er konnte an bisher Gelerntes anknüpfen, und es stellten sich bald Erfolge ein. Und schließlich: Im Zusammenhang mit seinen Bautätigkeiten ergab es für ihn einen Sinn, zu Stift und Papier zu greifen. Ein für ihn inhaltsleeres Üben von Linien und Schwüngen wurde damit überflüssig.
Neugierig den eigenen Interessen folgen dürfen
Es hätte natürlich sein können, dass Marius‘ Neugierde mit diesem Impuls nicht geweckt wird. Die Lust auf das Neue (deshalb müsste man eigentlich besser Neu-Lust, statt Neu-Gier sagen) ist im Zusammenhang mit Lernen daher schon ein wichtiger Motor. Etwas wissen oder verstehen zu wollen, wird getrieben von Neugier. Und diese wiederum hat Einfluss darauf, wie gut das Neue im Gedächtnis verankert wird. Das konnte man in einer Studie sogar nachweisen. In mehreren Experimenten wurden Studierenden Fragen der Allgemeinbildung gestellt, und sie sollten zusätzlich angeben, wie neugierig sie auf die Antwort sind. Sie bekamen im Anschluss auch die Lösung präsentiert. In diesen Experimenten konnte zum einen gezeigt werden, dass die Gehirnregionen, die für Gedächtnisprozesse zuständig sind, aktiver waren, wenn Neugier im Spiel war. Außerdem waren die Studierenden mit mehr Aufmerksamkeit bei diesen Fragen. Und tatsächlich konnte bei einer Wissensüberprüfung zwei Wochen später auch gezeigt werden, dass die Studierenden diejenigen Antworten besser im Gedächtnis behalten hatten, auf die sie neugierig waren.
Szenen wie die oben beschriebene mit Marius kennen Sie sicher aus Ihrem pädagogischen Alltag. Und Sie haben auch schon erlebt, wie Kinder Impulse von Ihnen aufgegriffen haben. Deshalb bestätigen meine Ausführungen zum einen Ihr pädagogisches Wissen und Handeln. Sie sollen Ihnen vor allem aber Mut zusprechen: Vertrauen Sie auf die Kinder und deren unbedingten Willen und Drang, zu lernen. Sie tun es, und zwar lernen sie das, was sie wollen, worin sie einen Sinn sehen und eine Bedeutsamkeit erfahren. Ihre Aufgabe als Pädagogin ist es, Kindern vielfältige Erfahrungsräume zu bieten, in denen diese ihren Interessen nachgehen können und entsprechend ihrer individuellen Zugänge ihre Lernthemen bearbeiten können. Schauen Sie genau hin, worauf sich das Interesse eines Kindes richtet und bei welchen Tätigkeiten es engagiert ist. Und Ihnen werden sicher kleinere oder größere Impulse einfallen, mit denen Sie die Kinder zu neuen Herausforderungen führen können.
Und Frau Kruse mit ihrer Fortbildung? Ihr geht es nicht anders als den Kindern: Eine Fortbildung, bei der sie mit Lust teilnehmen, deren Bedeutsamkeit sie nachvollziehen und bei der sie an eigene Erfahrungen anknüpfen kann, wird eher von Erfolg gekrönt sein und Spuren in der Praxis hinterlassen. Aber neugierig kann man auch auf etwas werden, das man für sich zunächst nicht selbst im Blick hatte …
Petra Evanschitzky
Dipl.-Sozialpädagogin, Dipl.-Sozalwirtin, seit 2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZNL TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm, außerdem tätig als Fortbildnerin zu neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und deren Transfer in die pädagogische Praxis.
Literatur
Zur weiteren Vertiefung und um einen allgemeinen Überblick über das kindliche Lernen zu erhalten(vgl. Rezension auf Seite X):
- Hille, Katrin/Evanschitzky, Petra/Bauer, Agnes (2013): Das Kind. Die Entwicklung zwischen drei und sechs Jahren; Bern: hep verlag
Das Thema der individuellen Herausforderung findet sich in dem Konzept "Zone der nächsten Entwicklung" von Lew Wygotski wieder. Wygotski machte sich auch Gedanken zum kindlichen Spiel. Lesenswert daher:
- Wygotski, Lew (1933): Das Spiel und seine Bedeutung in der psychischen Entwicklung des Kindes (Quelle: Daniil B. Ėl‘konin (1980): Psychologie des Spiels; Köln: Pahl-Rugenstein; S. 441 - 465 (abrufbar als pdf-Datei unter: http://th-hoffmann.eu/archiv/wygotski/wygotski.1933.pdf)
Zum Thema Spiel außerdem:
- Oerter, Rolf (2012): Lernen en passant: Wie und warum Kinder spielend lernen; Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 7(4); S. 389 - 403
Die Studie zur Neugierde ist genauer beschrieben bei:
- Spitzer, Manfred (2009): Neugier und Lernen. Nervenheilkunde 28; S. 652 - 654