Titelthema
Warum nicht mal ganz anders?
Um der Fantasie der Kinder Raum zu geben, muss eine Erzieherin nicht nur, wenn es notwendig ist, sich zurück- beziehungsweise heraushalten, sondern auch aktiv dafür sorgen, dass das Unerwartete passieren kann. Sie will und soll auch im didaktischen Handeln die eigene Fantasie zulassen und nutzen. Deshalb sollte der erste didaktische Schritt nicht mehr das "Planen" sein. Eine Didaktik, die mit Planungen anfängt, wird leicht schematisch. Eine kreative Didaktik dagegen ergibt sich aus Fragen wie: "Warum eigentlich nicht?" oder "Warum nicht mal ganz anders?"
Viele Bildungspläne mit ihren langen Aufzählungen von möglichen Bildungsinhalten stiften bisweilen Verwirrung, wenn der Eindruck entsteht, die müssten alle "abgearbeitet" werden. Besonders schwierig wird es, wenn damit auch Vorgaben verbunden sind, wie solche Inhalte "vermittelt" werden sollen. Wer damit arbeitet, geht vor wie eine Köchin, die immer nur Rezepte anwendet. Eine gute Köchin tut das nicht. Es ist das Privileg einer Erzieherin, immer Neues ausprobieren zu können, sich nicht unbesehen nach strikten Vorgaben richten zu müssen. Aus dieser Freiheit speist sich übrigens zum großen Teil die Zufriedenheit mit diesem Beruf.
In Anlehnung an eine Definition aus der Hochschuldidaktik (Wildt 2001, S. 30 f.; Flender 2005, S. 172) ist Elementardidaktik die Wissenschaft von der Kunst, das eigene Handeln auf die kindlichen Lern-schritte und Bildungsprozesse zu beziehen. "Kunst" bedeutet in diesem Zusammenhang: Es geht um Kreativität, um Überraschung (das Kind überraschen, aber auch: sich selbst überraschen lassen). Es geht um Originalität, Inspiration, Spontaneität, um die Freude daran, etwas einmal ganz anders zu machen, und um die Neugier, daraus zu lernen. "Wissenschaft" heißt aber gleichzeitig, dass in der Didaktik eben doch nicht alles geht; auch das Erkunden, Entscheiden und Handeln folgt gewissen Regeln, ebenso die Reflexion.
Abschied von der Planung als erstem didaktischem Schritt
Schon der Situationsansatz (Zimmer 1998, S. 74 f.) stellt das "Erkunden" vor das "Entscheiden" und das "Handeln". Dieses "Erkunden" schließt auch die offene Frage ein, ob wir wirklich verstanden haben, was den Kindern (oder einem Kind) wichtig ist: "Entdeckendes Lernen" ist nicht nur für die Kinder, sondern ebenso für die Erzieherin das Wichtigste (Pudzich 2014).
Das kann zum Beispiel in "Was-tun-Sitzungen" passieren, die in der Reggio-Pädagogik dazu dienen, die Perspektive und die Ideen der Kinder besser kennenzulernen. In einer solchen Sitzung sprachen die Kinder zum Beispiel über die vielen Vögel im Außengelände der Einrichtung und berieten, was sie für die Vögel tun könnten. Sie haben die Erzieherinnen vor einer schematischen Antwort (Meisenknödel oder Nisthilfen) bewahrt, indem sie eine fantastische Idee entwickelten: Die Vögel sollen einen Vergnügungspark bekommen, in dem sie nicht nur baden können. In diesem Vergnügungspark soll es Karussells geben und einen Kartenvorverkauf für Vögel, die hineinwollen. Außerdem Aufzüge für Vögel, die nicht mehr gut zu Fuß sind. Besonders wichtig ist ein Springbrunnen, in dem die Vögel baden können, oder besser "viele Springbrunnen, dann streiten sie sich nicht und verstehen sich" (Reggio Children 1998). Und weil Reggio-Einrichtungen sich traditionell als Orte verstehen, in denen die Fachkräfte den Kindern helfen, ihre Ideen umzusetzen, entsteht nach harter Arbeit genau ein solcher Vergnügungspark für Vögel. Die "harte Arbeit" betrifft zum Beispiel die Funktionsweise eines Springbrunnens: Die Kinder wissen, dass es schwierig ist, Springbrunnen zu machen, "nicht in der Zeichnung, aber in echt zu machen schon" (ebd.). Sie gehen in die Stadt, erkunden die Springbrunnen dort genau, reden mit Leuten, die sich auskennen, und das führt dazu, dass sie sich bald selbst auch auskennen. Für diese naturwissenschaftliche Bildung brauchen sie bestimmt kein Experiment, zum Beispiel aus dem "Haus der kleinen Forscher". Wenn wir nur genügend Vertrauen in die Kinder haben, dass sie sich in der Zeit, in der sie eine Tageseinrichtung für Kinder besuchen, mit allem auseinandersetzen werden, was wirklich wichtig ist, dann spielt es ja keine Rolle mehr, ob das am nächsten Montag zwischen 10 und 11 Uhr sein wird oder nicht.
Der "Vergnügungspark für Vögel" ist ein Unikat. Genau das unterscheidet eine kreative von einer schematischen Didaktik. Auch Projekt- oder Bildungsdokumentationen sollten kreative Unikate sein: Wenn eine Erzieherin zum Beispiel neben ein Foto, das ein Kind im Kletternetz im Bewegungsraum zeigt, ein Bild von Matrosen in den Wanten eines großen Segelschiffs klebt, dann zeigt sie diesem Kind, dass sie sich bemüht hat, das Kind und seine Leistung zu verstehen.
Zum "entdeckenden Lernen" der Erzieherin gehört auch, sich von didaktischen Fallen freizumachen; den Kindern auf dem Foto beispielsweise war wichtig, ihren derzeitigen Baubereich deutlich sichtbar abzutrennen, damit andere Kinder nicht hineinlaufen. In dieser Einrichtung gibt es dafür Absperr-Hütchen. Die didaktische Falle besteht im schematischen Reflex: "Wenn alle Kinder das machen würden! Das gibt nur Streitereien." Die Erzieherinnen dieser Kita sind nicht in die didaktische Falle getappt und die Erfahrung hat gezeigt: Die Kinder machen es nicht alle, jedenfalls nicht gleichzeitig. Also: Warum nicht einfach mal ausprobieren?
Die Leiterin einer anderen Einrichtung bat den Gärtner, vier Pfähle in den Rasen zu schlagen, um sich von dem überraschen zu lassen, was die Kinder daraus machen: Nicht nur Buden wurden gebaut, die Pfähle dienten auch als Schiffsmasten, als Bergstation einer Seilbahn, als Hindernisse eines Parcours für Dreiräder und als Eingangstor zu einer Burg. Die Neugier der Erzieherinnen machte das Leben in der Einrichtung lebendiger; für die Kinder war es eine wichtige Erfah-rung, dass ihre Ideen gewürdigt werden - ganz abgesehen von der Tatsache, dass vier Pfähle wesentlich kostengünstiger sind als diese hochdruckkesselimprägnierten 35000-Euro-Missverständnisse aus dem Katalog.
Entscheiden statt "Umsetzen"
Seinen zweiten didaktischen Schritt nennt Jürgen Zimmer nicht "Umsetzen", sondern "Entscheiden". Erkundungen führen nämlich immer zu viel mehr Ideen und Möglichkeiten, als realisierbar sind. Also muss eine Auswahl getroffen werden, und weniger ist meistens mehr. Damit sind wir bei der Frage, was wirklich wichtig ist. "Die Menschen stärken, die Sachen klären" hat Hartmut von Hentig als Aufgaben der Bildung beschrieben. Auf der Lernebene, also beim Umgang mit und der Klärung von Sachen, geht es immer auch um Neues, ums Erfinden, ums Entdecken, wenn es interessant sein soll. Warum also nicht einmal mit Ginsterzweigen statt Pinseln malen und ganz neue Muster genießen (Rettkowski-Felten/Merz-Foschepoth 2006, S. 19)?
Noch viel interessanter ist die Herausforderung, solche Prozesse zugleich so zu gestalten, dass auch die Bildungsebene ("Die Menschen stärken") berücksichtigt wird: Kinder werden stark, wenn sie an Herausfor-derungen wachsen, ihren eigenen Fragen nachgehen und Dinge auf ihre Weise tun können. Das verlangt individuelle und kreative Lösungen. Was ist zum Beispiel mit den Kindern, die "nur zugucken" wollen? Früher wurden sie misstrauisch beäugt, heute gibt es in Ateliers liebevoll ausstaffierte "Nicht-Mitmach-Sessel" für solche Kinder, die signalisieren: "Ihr seid willkommen, so wie ihr seid."
Eine Einrichtung zum Beispiel hatte ältere Kinder eingeladen, die ihre Trommeln mitbrachten. Die erste Vorführung fiel so laut aus, dass ein kleiner Junge sich die Ohren zuhielt und lange Zeit nicht zu bewegen war, mitzumachen. Schließlich tat er es doch, mit strahlendem Gesicht: Er hat gelernt, zu trommeln. Vor allem aber hat er erfahren, dass er so akzeptiert wird, wie er ist. Er wurde nicht bedrängt, nicht "abgeschrieben", nicht hinauskomplimentiert.
Kinder werden auch dadurch gestärkt, dass Erzieherinnen Dinge so stehenlassen, wie sie (im Moment) für die Kinder sind. Ein Beispiel (vgl. Schauwacker-Filmproduktion): Kinder fragen, wie viele Punkte ein Marienkäfer hat. Ein Mädchen erklärt, das sei so wie beim Hirschgeweih: Jedes Jahr hat er einen mehr. Die Erzieherin erwidert vorsichtig, dass sie auf Fotos gesehen habe, dass auch schon ganz kleine Marienkäfer viele Punkte haben. Als das Mädchen darauf nicht eingeht, lässt sie die Sache so stehen, wie sie ist: Das Mädchen wird darin gestärkt, sich seine eigenen Gedanken zu machen; umso leichter wird es ihm später einmal fallen, über das Thema noch einmal anders nachzudenken.
"Entscheiden" heißt auch: Spontanes Entscheiden, wenn Dinge sich schon entwickelt haben. Was ist jetzt didaktisch "dran" − bestätigen, sich heraushalten, Anregungen geben, kommentieren, aktiv einsteigen? Damit erübrigt sich auch die unsägliche Zweiteilung des pädagogischen Geschehens in "Angebot" und "Freispiel". Dabei ging es früher darum, das eine möglichst vollständig "in der Hand zu haben" und sich aus dem anderen weitgehend "herauszuhalten". Tatsächlich liegen die Dinge doch weit komplizierter. Eine Didaktik nach dem Motto "Im Gleichschritt marsch!" oder unter der Prämisse "Der Bildungsplan und ich wissen schon, was Kinder jetzt lernen sollen beziehungsweise was dieses Kind braucht!" wäre nicht nur wenig wirksam, sondern widerspräche auch unserem Verständnis von kindlicher Autonomie und Partizipation.
Eine fortlaufende und behutsame Begleitung und Mit-Gestaltung von Lern- und Bildungsprozessen geschieht zunächst über die Bereitstellung von Räumen, Zeit und Materialien (vgl. Liegle 2009, S. 12). Allerdings gehen die didaktischen Möglichkeiten weit darüber hinaus und betreffen die verschiedensten Formen der Interaktion, Kommunikation und Kooperation. Didaktische Handlungsweisen können sein: abwarten, achten, (sich) anbieten, anerkennen, anhören, annehmen, anregen, anschauen, (jemanden oder etwas) ansprechen, antworten, argumentieren, aufgreifen, aufmerksam machen, aufmerksam werden, aufmuntern, aufschreiben, ausdrücken, aushalten, (sich etwas) ausmalen, ausreden lassen - wobei das nur die Handlungsweisen mit dem Anfangsbuchstaben "a" sind …
Didaktik und Selbst-Bildung
Auch wenn Kinder sich die Welt erobern und erklären, sind wir es doch, die diese Welt gestalten und sie be-gleiten. Kinder erwarten von uns Resonanz, Bestätigung, Anregung, Ideen, Vorschläge, Zustimmung (manchmal auch Widerspruch). Außerdem hat auch heutzutage jede Erzieherin das Recht, die eigene Begeisterung für bestimmte Inhalte und Themen den Kindern im besten Sinn des Wortes "anzubieten", sofern sie in der Lage ist, die Resonanz der Kinder (beziehungsweise die fehlende Resonanz) zu erspüren und daraus umgehend die Konsequenzen zu ziehen.
Selbst-Bildung macht also didaktisch-methodische Überlegungen nicht überflüssig, aber schwieriger. Ein "geschlossenes" Curriculum (linear und ausschließlich aus der Perspektive von Erwachsenen entwickelt) ist weder sinnvoll noch möglich. In der Pädagogik der Kindheit sind "offene" didaktische Formen (flexibel, verzweigt, von der Perspektive, den Kompetenzen und den "Themen" des Kindes ausgehend, fantasievoll) notwendig.
Prof. Dr. Rainer Strätz
Fachhochschule Köln - Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften (F01), Lehrtätigkeit im BA-Studiengang "Pädagogik der Kindheit und Familienbildung".
Literatur
• Flender, Jürgen (2005): Didaktik der Hochschullehre. In: Stelzer-Rothe, Thomas (Hrsg.): Kompetenzen in der Hochschullehre. Rüstzeug für gutes Lehren und Lernen an Hochschulen; Rinteln; S. 170 - 205
• von Hentig, Hartmut (1985): Die Menschen stärken, die Sachen klären. Ein Plädoyer für die Wiederherstellung der Aufklärung; Stuttgart
• Pudzich, Volker (2014): Entdeckendes Lernen in der Ausbildung. Doppelte Didaktik und Lernsituation. In: Welt des Kindes; Heft 2; S. 18 - 21
• Reggio Children (Hrsg.) (1998): Springbrunnen. Aus einem Projekt zur Konstruktion eines Vergnügungsparks für Vögel; Neuwied, Kriftel, Berlin
• Rettkowski-Felten, Margarete/Merz-Foschepoth, Christine (2006): Der Natur-Malkasten. In: Kindergarten heute; Heft 6/7; S. 16 - 20
• Schauwacker Filmproduktion (Hrsg.): Den Kindern das Wort geben … von Anfang an. Die Freinet-Kindertagesstätte PrinzHöfte; DVD; 47 min.; Bassum; o. J.
• Wildt, Johannes (2001): Ein hochschuldidaktischer Blick auf Lehren und Lernen in gestuften Studiengängen. In: Welbers, Ulrich (Hrsg.): Studienreform mit Bachelor und Master; Neuwied; S. 25 - 42
• Zimmer, Jürgen (1998): Das kleine Handbuch zum Situa-tionsansatz; Ravensburg; S. 73 - 80