Titelthema
Die Suche nach der Qualität
Qualität, Qualität. Wann habe ich begonnen, mich damit zu beschäftigen? Erinnerungssplitter kommen nach oben …
70er Jahre: Beliebigkeit
Ende der 70er Jahre, Westberlin, Erzieherhelferin: Ich bin so unbedarft, soll Kindern am Kottbusser Tor in Kreuzberg "Deutsch beibringen". Ich habe keine Ausbildung zur Erzieherin, es gibt wohl Erziehermangel. Mit der Stelle finanziere ich mein Studium der Erziehungswissenschaften. Und kann nicht glauben, wie beliebig das ist, was wir in der Kita machen: aus dem Zusammenhang gerissene Aktivitäten, orientiert am Befinden der Erzieherinnen, unter den Kindern viel Langeweile, kaum Gespräche mit ihnen, viel Disziplinierung. Es gibt keine Planung und keine Vorgaben. Als ich nach einiger Zeit den "Kindertagesstätten-Entwicklungsplan" zitiere, sind die Kolleginnen erstaunt. Als ich beginne, Ansprüche an unsere Arbeit offensiver zu vertreten, ernte ich Ablehnung. Mir wird vorgeworfen, eine gute Beziehung zu den Kindern zu haben. Die Kinder reagieren auf mein Interesse an ihnen und ihrer Lebenswelt unmittelbar: Sie haben Ideen, sie ziehen mich ins Vertrauen, sie wollen mit mir etwas unternehmen. Manchmal sind sie zu viele, und ich schaffe das nicht. Die Kolleginnen sind schadenfroh. Die Leitung steht auf ihrer Seite. Ich leide. Flüchten oder standhalten?
Was hilft: Ich lerne Türkisch und engagiere mich politisch für die Rechte von eingewanderten Familien, gegen die damalige "Ausländer- und Asylpolitik". Ich studiere, Paulo Freire und Situationsansatz, und werde sicherer darin, dass Kita-Arbeit heute anders sein soll. Es gibt eine Kitaberatung, die mich unterstützt. Und schließlich wird eine gleichgesinnte Kollegin eingestellt − ich habe eine Bündnispartnerin!
Aus jener Zeit rührt meine Überzeugung, dass sich Qualität nicht automatisch einstellt, wenn Zeitressourcen dafür da sind. Ohne verbindliche Qualitätsanforderungen besteht die Gefahr, dass Zeitressourcen so verwendet werden, dass sie unhinterfragten Routinen und eigenen Vorlieben dienen, die das Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern immer wieder herstellen. Damals hatten wir Zeit für eine gemeinsame zweistündige Mittagspause. Weil die Kinder schlafen mussten. Es gab keine regelmäßigen Teamsitzungen, nur selten Elternabende. Nicht weil es dafür keine Zeit gab, sondern weil sie nicht sinnvoll erschienen. Fanden sie statt, waren es tatsächlich uninteressante, schlecht moderierte Zusammenkünfte.
Mit der neu eingestellten Kollegin waren wir uns einig, dass wir ein Konzept brauchen. Eine "Einigung auf Arbeitsziele und -stile". Von Qualität sprachen wir nicht, auch nicht von Bildung. Kitas sollten keine Aufbewahrungsstätten sein, forderten wir, sondern Erziehungseinrichtungen. Mit einer Konzeption kommen wir weg von der Beliebigkeit, dachten wir. Auch andere Kitas hatten keine Konzeptionen, in der senatseigenen Fortbildungsstätte gab es Fortbildungen dazu, mit hektographierten Handouts.
80er Jahre: Konzeptionsentwicklung
Mit viel Energie und immer mehr Unterstützung entwickeln wir in den 80er Jahren ein bilinguales Konzept (Deutsch-Türkisch) für die Einrichtung. Der Prozess ist interessant: Wir diskutieren, was eine bilinguale Kita ausmacht. Stellen das Konzept auch bei Veranstaltungen vor. Empfinden Stolz, weil sich auch andere dafür interessieren. Ich erinnere mich an die Freude über Ideen und Kreativität in diesem Prozess.
Wir pochen auf mehr Mitsprache beim Träger, einem kleinen Verein. Eine neue Leitung wird eingestellt, die das zweisprachige Konzept vertritt. Wir bekommen grünes Licht dafür, die Struktur dem Konzept anzupassen, indem die Teams mit deutsch- und türkischsprachigen Kolleginnen besetzt werden. Eine Forscherin der Freien Universität Berlin wird auf uns aufmerksam und macht eine Langzeitstudie zur zweisprachigen Entwicklung von Kindern. Vieles ist möglich in dieser Zeit, in einem Freiraum, der dadurch existiert, dass es seitens des Senats nur Empfehlungen gibt, keine verbindlichen Vorgaben.
Natürlich sind nicht alle Kolleginnen überzeugt, nicht alle ziehen mit. Im Team gibt es die "Macherinnen", die kreativ und aktiv sind, und die "Mitmacherinnen", die eher abwarten und sich überreden lassen. Es gibt Appelle, die Konzeption umzusetzen, und Gespräche über auftauchende Schwierigkeiten. Aber letztlich ist die Verbindlichkeit eine unstabile Größe. Eltern können sich nicht wirklich darauf verlassen, dass das überall in der Einrichtung geschieht, was in unserem Konzept steht.
Ende der 80er Jahre leite ich die Einrichtung. Ich vertrete mit Begeisterung unsere Konzeption nach außen und nehme gleichzeitig wahr, dass sie innen nicht wirklich gelebt wird.
90er Jahre: Qualität und betriebswirtschaftliches Denken
Die Kinderrechtskonvention, das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) gaben für die 90er einen wichtigen Schub für ein verändertes Bild vom Kind als aktiv und gestaltend. Gleichzeitig gab es mit der Deutschen Einheit Umstrukturierungen in den öffentlichen Verwaltungen, die neue Steuerungsmodelle mit betriebswirtschaftlichen Elementen etablierten. Deutlich wurde dies in unserem kleinen Verein daran, dass es keine "Fehlbedarfsfinanzierung" mehr gab wie die Jahre davor, sondern Leistungsverträge.
Plötzlich war Qualität in aller Munde - und wurde nicht unbedingt befürwortet. Als wir Ende der 90er Jahre in Kreuzberg für ein erstes Kinderwelten-Projekt Kindertageseinrichtungen suchten, beschrieben wir es als ein Projekt zur Qualitätsentwicklung in Kitas. Und erlebten, wie dieses Wort die Türen zuschlagen ließ. In einer Veranstaltung platzte den anwesenden Erzieherinnen und Erziehern sofort der Kragen: "Qualität, Qualität, alle reden jetzt von Qualität - als ob wir die ganzen Jahre keine Qualität gehabt hätten!" Sie waren misstrauisch, befürchteten hohe Anforderungen und wehrten sich gegen mehr Kontrolle "von oben".
Ihre Ängste waren nicht von der Hand zu weisen. Tatsächlich geht es seither auch um Sparmaßnahmen. Kitas müssen genauer Rechenschaft ablegen, wie sie ihre Mittel verwenden, Druck und Kontrolle sind gewachsen. Auch die Nationale Qualitätsinitiative im System der Tageseinrichtungen für Kinder (NQI), die ab 1999 vom Bundesfamilienministerium finanziert wurde, ist als Reaktion auf die Forderungen zu sehen, im Kitabereich wie in anderen Verwaltungsbereichen das Verhältnis von Investition und Ertrag zu belegen.
Unser Institut, das Institut für den Situationsansatz (ISTA) beteiligte sich damals an der NQI mit einem Teilprojekt zur "Qualität im Situationsansatz". Es war Konsens, dass es nötig ist, konkreter als bisher zu bestimmen, was gute Qualität im Situationsansatz ist. Ziel war, ein Instrument der Evaluation zu entwickeln, das die pädagogischen Fachkräfte stark und kompetent macht, weil es ihre Sichtweisen auf Qualität herausfordert. Es sollte kein Mittel der Kontrolle oder Fremdbestimmung sein. Es sollte die Fachkräfte als reflektierende Subjekte ansprechen und sie dabei unterstützen, ihre Praxis im Situationsansatz zu begründen und wo nötig zu verbessern:
"Wir sind der Überzeugung, dass Qualität und Qualitätsentwicklung nicht unabhängig von konzeptionellen Überlegungen und Entscheidungen gedacht werden kann. Wer immer Qualität entwickeln und bewerten will, muss seine Leitvorstellungen von Bildung und Erziehung, seine Ziele und pädagogischen Grundsätze offenlegen und fachlich begründen. Es muss klar sein, was entwickelt, überprüft und bewertet werden soll. Wir haben unserer Definition von Qualität das Konzept Situationsansatz zugrunde gelegt. Mit der Formulierung von Qualitätsansprüchen und Qualitätskriterien haben wir dieses Konzept gleichzeitig präzisiert und auf der Grundlage neuer Erkenntnisse der Bildungsforschung aktualisiert." (Preissing/Heller 2014, 64)
Entstanden sind 16 konzeptionelle Grundsätze mit jeweils drei bis vier Qualitätsansprüchen, mit jeweils bis zu acht Qualitätskriterien - ein umfassendes Kompendium von "zukunftsweisenden Orientierungen für die Qualitätsentwicklung" (ebd. 11). So viele Aussagen, was zu beachten ist - geben sie wirklich Orientierung? Kann es sein, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht?
2000er Jahre: Qualitätshandbücher wachsen in den Himmel …
Der PISA-Schock Anfang der 2000er Jahre gab einen weiteren Schub, sowohl für den quantitativen wie auch für den qualitativen Ausbau von Kitas. Die Länder erarbeiteten Bildungspläne als verbindliche Rahmen für Kitaqualität und entwickelten unterschiedliche Strategien der Steuerung. Wir als Institut haben uns aktiv beteiligt, haben Bildungsprogramme geschrieben (die Entwürfe für Berlin, Hamburg, das Saarland), diverse Qualitätshandbücher und Instrumente zur Qualitätsentwicklung zusammen mit pädagogischen Fachkräften entwickelt.
Im Prozess der Erarbeitung ist es wieder so wie damals bei der Konzeptionsentwicklung: Man ist aktiv und kreativ, fühlt sich gut verbunden mit den Mitstreiterinnen. Für diejenigen, die bei diesem Prozess nicht dabei sind, ist es ein fertiges Produkt, das ihnen gegenübersteht und sie auffordert, ihre pädagogische Praxis entsprechend zu verändern. Manche Fachkräfte reagieren mit Interesse und sind froh über die Sammlung, die Gliederung, die Konkretisierung. Sie nehmen sich heraus, was für sie relevant ist, und nutzen die Anregungen. Sie bedanken sich nach den internen Evaluationen, denn sie sind in einigen Punkten bestärkt und haben Hinweise, worauf sie stärker achten wollen.
Viele aber reagieren mit Abwehr, Ermüdung, Überforderung. Dann sind interne Evaluationen zäh, eine Pflicht, "man muss es ja machen". Es hat nichts zu tun mit Aktivsein, Lebendigsein, Kreativsein beim Nachdenken über die eigene Arbeit und wie man sie noch besser machen kann. Es hat auch nichts zu tun mit einem anregenden Lernprozess.
Aktuell: Wiedergewinnung dessen, worum es bei Qualität geht
Darum aber müsste es doch gehen: Qualitätsentwicklung als Lernprozess, der froh macht, stolz und glücklich - so wie Erkenntnisse glücklich machen. Dieses Glücksgefühl habe ich selbst immer wieder beim Erarbeiten von Konzepten und beim Entwickeln von Ideen und wenn beim Reflektieren bestimmte Einsichten zusammenpassen und eine neue Verbindung ergeben.
Dass ich mit dazu beitrage, pädagogischen Fachkräften mit langen Qualitätskriterienlisten die Freude am Weiterdenken eher zu nehmen, belastet mich. Als Aneignungstätigkeit gibt es wohl keine Alternative dazu, die eigenen Qualitätsmaßstäbe immer wieder selbst zu erfinden. Sie "fertig" serviert zu bekommen, macht es schwerer, sich darin wiederzuerkennen. Die Selbstbestimmung, Fantasie und Kreativität in diesem Prozess wiederzugewinnen und gleichzeitig bestimmte Rechte, Werte, Ziele und Prinzipien verbindlich zu berücksichtigen, das müsste Qualitätsentwicklung in der Zukunft auszeichnen. Weniger ist dabei vielleicht mehr.
Petra Wagner
Dipl.-Päd., Direktorin des Instituts für den Situationsansatz (ISTA) in der Internationalen Akademie INA gGmbH und Leiterin der Fachstelle KINDERWELTEN für vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung, Berlin.
Literatur
Preissing, Christa/Heller, Elke (Hrsg.) (2014): Qualität im Situationsansatz. Qualitätskriterien und Materialien für die Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen; 3. Aufl.; Berlin: Cornelsen