Titelthema
Spielen und Lernen
Die verbreitete Missachtung des Kinderspiels äußert sich in verschiedenen Formen, häufig
durch den vorwurfsvoll gemeinten Satz: »Jetzt ist genug gespielt, jetzt wird gelernt!« Hier wird ein Gegensatz zwischen Spielen und Lernen konstruiert, der auf Erwachsene vielleicht zutreffen mag, aber bestimmt nicht auf Kinder. Für sie ist das Spiel die beste und oft genug die einzige Möglichkeit, sich mit ihrer sächlichen und sozialen Umgebung, mit ihren Fragen, Erfahrungen und Problemen auseinanderzusetzen und dabei zu lernen.
Ein Beispiel: Drei Mädchen haben im Außengelände eine Bude gebaut und spielen darin das Rollenspiel »Vater, Mutter, Kind«. Einen Vater gibt es jedoch in ihrem Spiel nicht; als eine pädagogische Fachkraft nach dem Grund fragt, erklären sie: »Der Vater hat sich mit der Mutter getrennt.« Und das ist genau die Situation, die eines der drei Mädchen gerade in seiner Familie erlebt. Hier geht es den Kindern also um die Auseinandersetzung mit der Frage, wie eine Familie ihre Nahrung und ihr Auskommen sichern kann, wenn der bisherige Haupternährer nicht mehr da ist. So wird dem betroffenen Mädchen ein aktiver und forschender Umgang mit dieser Situation ermöglicht. Die beiden anderen Kinder helfen ihm zudem durch ihre stärkende Solidarität, durch gemeinsames Nachdenken und Handeln. Barbara Biber weist auf den wichtigsten Effekt solcher Spiele hin, nämlich »das Gefühl der Kraft, das es dem Kind verleiht, Befreiung vom Gefühl der Machtlosigkeit und Hilflosigkeit […] Indem es seine Erfahrungen wiederbelebt und frei dramatisiert, denkt das Kind auf seine Weise und zusammen mit anderen Kindern. Es lernt dabei auf dem besten Weg, der möglich ist.« (Biber 1978, S. 28 f)
»Spiel«, gerade das Rollenspiel, wird häufig mit »Fantasie« gleichgesetzt und auch damit abgewertet. Erstens geht es nicht um eine unbedeutende und beliebige »Fantasiewelt«, sondern um eine Vorstellungskraft, die eine Auseinandersetzung mit und in der Realität erst ermöglicht. Der Ersatz von Gegenständen durch andere »erfolgt nämlich gerade, um eine gewünschte Handlung durchführen zu können. Das Reiten und Autofahren mit den realen Objekten liegt für das Kind noch in weiter Ferne, nicht jedoch das Als-ob-Reiten und Als-ob-Fahren mit substituierten Gegenständen. Andererseits müssen die Ersatzgegenstände gewisse funktionale Merkmale besitzen, damit man die gewünschte Handlung mit ihnen durchführen kann. So dient etwa ein Stock zum Reiten und ein Stuhl zum Fahren.« (Oerter 2011, S. 24) Kinder können zumeist sehr gut zwischen Realität und Fantasie trennen. Trotzdem suchen und genießen sie gerade die »Zwischenwelt«, in der sie diese strikte Trennung bewusst verschwimmen lassen. Jede pädagogische Fachkraft weiß, dass zum Beispiel im Bewegungsraum erst dann die Post abgeht, wenn die Kinder nicht über einen Balken balancieren, sondern auf einer schmalen Brücke einen Fluss überqueren, von dem man nicht genau weiß, ob gefräßige Haie darin schwimmen ...
Die Freude am und im Spielen ist Motor und Voraussetzung für alles Weitere. »Dass ein Kind Freude erlebt, ist grundlegend für seine künftige Fähigkeit, glücklich zu sein. Das Spiel in früher Kindheit kann die Grundsubstanz abgeben, aus der sich eines seiner Lebensmuster bildet, nämlich die Erfahrung, dass es nicht nur Freude erleben, sondern dass es Freude bereiten kann.« (Biber 1978, S. 28)
Spielend das Lernen lernen
»Funktionsspiele« sind in den ersten Lebensjahren immer auch das Lernen und Üben von Funktionen. Das berühmte ausgiebige »Gib-und-Nimm-Spiel« zum Beispiel, das ständige Zusammenführen der eigenen mit einer fremden Hand, das Verstecken, Suchen und Finden von Gegenständen sind nicht nur Spiele, die mit Begeisterung und immer wieder gespielt werden, sondern höchst wirksame Formen des Lernens durch Nachahmung sowie ein Hochleistungstraining in dreidimensionalem Sehen, präziser Auge-Hand-Koordination und Handgeschicklichkeit. Weil diese Lernprozesse mühsam, langwierig und oft von Rückschlägen begleitet sind, ist es kein Wunder, dass die Kinder eine lustvoll erlebte Spielphase anschließen, wenn sie endlich gelernt haben, zum Beispiel mit einem großen Ball oder einem Reifen umzugehen, und sich damit selbst belohnen. Dann wird die anfänglich oft spürbare Anspannung von reiner Spielfreude abgelöst.
Alle Spiele stellen zudem massive kognitive Anforderungen. Bei Regelspielen zum Beispiel müssen Kinder »Haupt- und Nebenregeln im Gedächtnis behalten, vorausschauend einen Spielplan entwickeln, die Spielzüge des anderen einkalkulieren, und so weiter … Eine sozial-kognitive Bedingung erfolgreichen Regelspielens ist somit die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel.« (Einsiedler 1991, S. 131)
Spielende Kinder lernen nicht nur zu spielen, sondern haben auch Gelegenheit, das Lernen zu lernen. Elke Callies argumentiert, »dass die bauenden Kinder zwar nicht gelernt haben, ein stabiles Fabrikgebäude zu erstellen, dass sie aber gelernt haben, einen Misserfolg zu verarbeiten und sich selbst ihrem Entwicklungsstand angepasste Aufgaben zu stellen. Sie haben gelernt, ein Problem so zu strukturieren, dass es für sie lösbar wird. Sind nicht hier, wenn auch sehr primitive, so doch grundlegende Weichen dafür gestellt, dass diese Kinder lernen zu lernen?« (Callies 1975, S. 34)
Kinder lernen im Spiel vor allem deshalb so schnell und wirkungsvoll, weil sie nichts tun sollen, sondern etwas tun wollen. Das führt oft dazu, dass sie in ihrem Tun »aufgehen«, in ihrer Tätigkeit »versinken«. Mihaly Csikszentmihalyi prägte dafür den Begriff »Flow-Erlebnis«: Der Mensch ist so gefesselt von dem, was er tut und erlebt, dass es die Welt um ihn herum nicht mehr zu geben scheint. »Bei ernsthaft spielenden Kindern ist immer wieder ihre totale Versunkenheit in ihre momentane, für manche auf den ersten Blick sinnlose Tätigkeit festzustellen. Es besteht eine Versunkenheit, die wesentlich länger anhält, als die modernen Didaktiker Kindern an Konzentrationsfähigkeit zuschreiben wollen.« (Hübner 1995, S. 82) Ferre Laevers hat in diesem Zusammenhang die »Engagiertheit« der Kinder zu einem zentralen Qualitätsmerkmal für Bildungsprozesse gemacht: Wenn Kinder sich engagieren, gehen sie von sich aus an ihre Grenzen und entwickeln dadurch ihr Wissen, ihre Fähigkeiten, Bereitschaften und Einstellungen schneller, leichter und besser als auf jede andere Art und Weise.
Gemeinsam spielen
Kinder können wundervoll allein spielen, häufiger aber spielen sie gemeinsam mit anderen. (Erwachsene sind als Spielpartner nicht so beliebt, wohl deshalb, weil sie nicht mehr besonders gut spielen können.) Im gemeinsamen Spiel lernen die Kinder auch, sich in sozialen Bezügen zu bewegen: »Die Sozialentwicklung der Kinder ist nicht nur durch Regeleinhaltung und Perspektivenübernahme im Spiel, sondern vor allem durch die kommunikative Ebene des Regelspiels tangiert. Die Kinder beraten, planen, handeln Rollen aus, in nicht eindeutig vorgegebenen Spielen diskutieren sie über die Regelfestlegung, Regelrevidierung und Regelvariation.« (Einsiedler 1991, S. 134)
Das erfordert zwangsläufig eine Akzeptanz gleichberechtigten Zusammenlebens und -wirkens, die manche Kinder heutzutage nicht mehr von zu Hause mitbringen: »Wer in einem Rollenspiel immer nur derjenige sein will, der bestimmt und nach dessen Pfeife alle anderen tanzen müssen, wird im Spiel sehr schnell erfahren, dass eine solche Haltung auf wenig Gegenliebe stößt und Partizipation wesentlicher Bestandteil eines gelungenen Spiels ist.« (Hübner 1995, S. 79)
Gerade Rollenspiele sind durch eine beeindruckende Flexibilität des Handelns und Denkens gekennzeichnet. Ständig bringen die beteiligten Kinder neue Ideen ein. Unter Lerngesichtspunkten ist dabei besonders interessant, dass diese Flexibilität nicht grenzenlos und individualistisch sein darf, sondern den vereinbarten Spielplan berücksichtigen muss beziehungsweise nur in Grenzen oder schrittweise verändern darf: Rollen können zwar verändert werden, aber nicht beliebig. Neue Ideen können eingebracht werden, sind aber nur dann willkommen, wenn sie sich in den gemeinsamen Spielplan einfügen und ihn bereichern beziehungsweise fortführen. Kurzum: Kinder lernen im Rollenspiel, ihre spontanen Ideen und individuellen Wünsche immer präziser in einen größeren Zusammenhang zu stellen; sie werden kognitive Teamworker.
Weil im gemeinsamen Spiel viel gesprochen und vieles besprochen und ausgehandelt werden muss, ist folgerichtig, dass Kinder lernen, sich immer besser und präziser auszudrücken. Dies betrifft zum einen die Entwicklung des Wortschatzes, zum anderen das Anmelden von Wünschen ans gemeinsame Spiel, das Einbringen von Ideen, das Aushandeln, das Argumentieren. Auch hier gilt, dass Kinder gemeinsam viel weiter kommen, als jedes allein kommen würde. Deshalb ist die Förderung des Spiels eine wirksame Möglichkeit der Sprachförderung im Alltag; Sarah Smilansky konnte schon 1975 zeigen, dass intensives Rollenspiel die sprachliche Ausdrucksfähigkeit gerade sozial benachteiligter Kinder verbessert, ebenso die Genauigkeit ihrer sozialen Wahrnehmung und ihre Fähigkeiten in der Interaktion mit anderen Kindern.
In allen verschiedenen Entwicklungsbereichen und Spielformen geht es um »Symbolisierungsfähigkeit« (vgl. Einsiedler 1991): Einen Gegenstand durch einen anderen ersetzen können, seine neue Bedeutung vereinbaren und sich an solche Regeln für die Dauer des Spiels halten. Kinder müssen ein Wort für einen Gegenstand kennen (oder den Gegenstand präzise umschreiben können) und umgekehrt wissen, was ein Wort bedeutet, eine Gefühlslage mimisch oder gestisch ausdrücken, Signale senden, deuten, aber auch vereinbaren. All das kommt spätestens bei Zweijährigen in jedem Spiel vor, und deshalb fördert es eine Intensität und Flexibilität des Denkens, Sprechens und Handelns, die als wahrer Entwicklungsmotor auch auf die Kreativität und die Problemlösefähigkeit wirkt.
Kinder lernen im Spiel, aber kein Kind spielt, um zu lernen. Deshalb sollten wir nicht nur zulassen, sondern ausdrücklich wertschätzen, dass sie so spielen, wie sie das wollen. Wir sollten das sich entwickelnde Spiel gegen mögliche Störungen abschirmen, insbesondere den Raum zur Verfügung stellen, den die Kinder brauchen, damit sie sich nicht gegenseitig stören. Wir können sie auch anregen (durch Ideenvorschläge und Material), aber wir dürfen ihnen nichts vorschreiben. Wir brauchen zudem keine »spielerisch« verpackten Lernprogramme zum Beispiel für Sprache, Naturerfahrung oder Mathematik. Wenn Kinder intensiv spielen können, kommen nicht nur die Sprache, das Verständnis für die Natur oder die Mathematik, sondern auch die Problemlösefähigkeit, die Kreativität und das Selbstbewusstsein von allein. All das ist in den Grundzügen seit Friedrich Fröbel bekannt und muss nur immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden, zum Beispiel in Gerald Hüthers und Christoph Quarchs engagiertem Aufruf: »Rettet das Spiel!«
Prof. Dr. Rainer Strätz
Ehemals Lehrtätigkeit im BA-Studiengang »Pädagogik der Kindheit und Familienbildung«, Fachhochschule Köln - Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften..
Literatur
• Biber, Barbara (1978): Wachsen im Spiel, in: Andreas Flitner (Hrsg.): Das Kinderspiel, München: Piper, S. 27- 33
• Callies, Elke (1975): Spielendes Lernen, in: Deutscher Bildungsrat (Hrsg.): Die Eingangsstufe des Primarbereichs, Band 2/1: Spielen und Gestalten, Stuttgart: Klett, S. 15 - 43
• Einsiedler, Wolfgang (1991): Das Spiel der Kinder. Zur Pädagogik und Psychologie des Kinderspiels; Bad Heilbrunn: Klinkhardt
• Hübner, Klaus (1995): Zeit zu spielen, in: Johannes Wessel, Harald Gesing (Hrsg.): Handbuch Umwelt-Bildung. Spielend die Umwelt entdecken, Neuwied: Luchterhand, S. 75 - 82
• Hüther, Gerald/Quarch, Christoph (2018): Rettet das Spiel! Weil Spielen mehr als Funktionieren ist; München: btb Verlag
• Oerter, Rolf (2011): Psychologie des Spiels. Ein handlungstheoretischer Ansatz; Weinheim: Beltz
• McCune-Nicolich, Lorraine (1981): Toward symbolicfunctioning: structure of early pretend games and potential parallels with language, in: Child Development, Volume 52, S. 785 -797
• Smilansky, Sarah (1978): Wirkungen des sozialen Rollenspiels auf benachteiligte Vorschulkinder, in: Andreas Flitner (Hrsg.): Das Kinderspiel, München: Piper, S. 151 - 187