Titelthema
Füreinander einstehen
Frauke Hildebrandt und Ramiro Glauer zeigen, welche Fähigkeiten Kinder brauchen, um solidarisch handeln zu können, und wie Fachkräfte sie dabei unterstützen können.
Was meinen wir mit Solidarität - und was nicht?
Es gibt unzählige verschiedene Auffassungen davon, was eigentlich unter »Solidarität« zu verstehen ist. Deswegen wollen wir zunächst versuchen, zu definieren, was wir unter Solidarität verstehen, bevor wir dann beschreiben, wie wir Solidarität unter Kindern unterstützen können. Dafür wollen wir zuerst den Begriff »Solidarität« von einem auf den ersten Blick verwandten Begriff abgrenzen, nämlich dem der »Kameradschaft«. Ähnlich wie Kameradschaft wird nämlich Solidarität als die Bereitschaft bezeichnet, für ein Gemeinwohl, an dem man selbst teilhat, Nachteile in Kauf zu nehmen. Bei Kameradschaft denkt man schnell an Klassenkameraden, Feuerwehrleute oder das Militär. Kameradschaft besteht zum einen darin, im Angesicht äußerer Bedrohung und widriger Um stände und auf die Gefahr hin, persönlich Schaden zu nehmen, für die Kameraden einzustehen. Sie bedeutet in der Regel auch, sich mit Gleichgestellten gegen strenge Vorgesetzte zu behaupten. Gleichzeitig wird Kameradschaft, zum Beispiel beim Militär, eingefordert. Kameradschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass die Kameraden aufgrund ihrer persönlichen Bindung und ihrer Zugehörigkeit zur selben Gruppe unbedingt füreinander eintreten sollen. Sie ist vor allem in Situationen sinnvoll, in denen der Gesamterfolg und damit das Wohl jedes Einzelnen von der Bereitschaft aller Gruppenmitglieder abhängt, auch große persönliche Risiken einzugehen. Kameradschaft hält jedoch auch Mitglieder von kriminellen Vereinigungen zusammen. Sie ordnen ihr Eigeninteresse dem Interesse der Vereinigung unter und gehorchen.
Solidarität verstehen wir hier anders. Wir bezeichnen ein Verhalten nicht als solidarisch, bei dem sich Einzelne einem vorgegebenen Gruppenziel unter ordnen oder gehorsam Aufträge befolgen. Solidarität kann nicht abverlangt werden. Wir können uns, wenn wir solidarisch sein wollen, mit den Flutopfern, mit Klimademonstranten oder mit Personen, die Opfer von Ausgrenzungen geworden sind, solidarisch zeigen.
Und noch etwas: Wenn Solidarität nur meint, dass man sich einsetzt, solange es eine Übereinstimmung der Interessen und/oder Ziele gibt, fehlt etwas. In der Diskussion mit Studierenden wurde geäußert, dass Solidarität einem abverlangt, sich neben jemanden zu stellen, obwohl man seine spezifischen Ziele und Interessen nicht teilt, aber trotzdem nicht in Ordnung findet, was mit ihm gerade passiert.
Auch aus Kindersicht ist es solidarisch, andere gegen Angriffe zu verteidigen, vor Bloßstellung, Ausgrenzung und Abwertung zu schützen. Das zu machen, was die Stärkste in der Gruppe vorgibt, oder sich als Bande gegen andere zu verbünden, ist nicht solidarisch.
Solidarität bezeichnet für uns das freiwillige Einstehen füreinander, das aus der empathischen Zugehörigkeit zu Personen entsteht. Diese empathische Zugehörigkeit rührt daher, dass wir die anderen als autonome Wesen begreifen, die dasselbe Recht wie wir auf die Erfüllung ihrer Bedürfnisse haben. So ist Solidarität ein Grundprinzip menschlichen Zusammenlebens. Dazu muss es keine Gruppen oder Verwandtschaftsbeziehung geben, keine Interessen oder Zielübereinstimmung. Vielmehr muss man dazu in der Lage sein, zugunsten anderer autonomer Wesen von den eigenen Zielen abzusehen oder sie zurückzustellen.
Was braucht man, um in diesem Sinne solidarisch zu sein?
Um sich mit jemandem solidarisch zu zeigen, müssen wir also dazu in der Lage sein, die eigene Perspektive und die der anderen zu verstehen - uns in andere hineinzuversetzen - und sie beim Erreichen ihrer Ziele oder der Erfüllung ihrer Bedürfnisse zu unterstützen, auch wenn wir selbst dafür einen Nachteil in Kauf nehmen. Wir müssen die anderen als autonome Wesen begreifen und selbst aus freien Stücken, das heißt ebenfalls autonom, für sie eintreten, weil wir erkennen, dass sie unsere Unterstützung benötigen und als autonome Wesen auch verdienen. Dazu braucht es zwei Kompetenzen:
1. Die Fähigkeit, die Autonomie der anderen anzuerkennen
In der frühen Kindheit entwickeln Kinder die Fähigkeit, anderen Menschen und sich selbst mentale Zustände wie Überzeugungen, Wünsche, Emotionen und kognitive Prozesse zuzuschreiben: Wir wissen, dass Kinder ab 18 Monaten verstehen, dass andere Menschen andere Emotionen und Bedürfnisse haben als sie selbst und dass sie ihnen dabei helfen, ihre Bedürfnisse zu erfüllen (Tomasello 2019). Das sind die Anfänge einer sogenannten Theory of Mind. Im Alter von etwa vier bis fünf Jahren können Kinder dann erkennen, wenn andere etwas glauben, das aus ihrer Sicht nicht stimmt (Wellmann 1992). So entsteht ein Verständnis dafür, dass wir aus Gründen handeln und individuelle Ziele haben. Kinder begreifen sich zunehmend auch selbst als mentale Wesen.
Die Theory of Mind ist grundlegend für Kooperation mit anderen und generell für soziale Interaktionen und das Selbstkonzept. Erwachsene Interaktionspartner, die Kindern schon früh mentale Zustände zuschreiben und darüber in Dialog mit ihnen gehen - also schon bevor Kinder diese mentalen Zustände verstehen oder sich selbst zuschreiben -, fördern die Ausbildung solcher Mentalisierungsfähigkeiten beim Kind (Meins et al. 2003). Mentale Zustände »lesen« zu können, so die Entwicklungspsychologin Heyes (2018), muss ebenso gelernt werden wie Schrift Lesen.
Das Sprechen über mentale Zustände und Markieren von subjektiven Perspektiven fördert die Fähigkeit von Kindern zur Emotionserkennung und zum Perspektivwechsel (Lohmann/Tomasello 2003). Daneben sind gleichberechtigte Aushandlungsprozesse im gemeinsamen Spiel oder beim Besprechen gemeinsamer Regeln wichtig für die Entwicklung der Fähigkeit zur Kooperation in der Gruppe (Tomasello 2019).
Pädagogische Fachkräfte können also die Entwicklung der Fähigkeit, die Autonomie der anderen anzuerkennen - die es zwingend für solidarisches Handeln braucht -, unterstützen, indem sie 1
- für Kinder die Wünsche, Gefühle, Einstellungen, Handlungen und Handlungsabsichten anderer Kinder durch Benennen (ohne zu bewerten) nachvollziehbar machen (»Guck mal, Maryam will die Kugel rollen lassen, aber sie klemmt.«),
- Kinder in Kontakt bringen, auf Handlungen der anderen Kinder aufmerksam machen (linking-up) (»Schau mal, Wido nimmt jetzt den Magneten und probiert, ob er damit die Kugel anheben kann. Und du schaust, ob man sie abstoßen kann.«), die eigene persönliche Sichtweise, Absichten und Einstellungen sprachlich zum Ausdruck bringen und begründen (»Ich gehe jetzt mal in den Nachbarraum und hole Klebstoff, damit wir die Bilder aufkleben können.«),
- in Konfliktsituationen die inneren Einstellungen der Beteiligten, also Emotionen, Wünsche, Gedanken, Meinungen und Absichten benennen (»Okay, Vihan, du wolltest gern die Pfanne nehmen, damit du die Möhren braten kannst. Und du, Sina, wolltest sie haben, damit du das Dach auf deinem Haus abdecken kannst.«).
Pädagog*innen haben außerdem die Aufgabe,
- Grenzüberschreitungen zu erkennen, zu benennen und sich ihnen entgegenzustellen (»Nein, es ist nicht okay, zu sagen, jemand soll nicht mit am Tisch sitzen, weil er stinkt. Das geht gar nicht.«),
- Kinder, die Diskriminierungserlebnissen ausgesetzt sind, unmittelbar zu schützen und sich gegen Ausgrenzung und Diskriminierung unter Kindern eindeutig zu positionieren (vgl. Koordinierungsstelle 2019),
- mit Kindern über Vorurteile, Diskriminierung, Ausgrenzung und Solidarität nachzudenken - das heißt über das, was eigentlich fair und was unfair ist (»Ich frag mich manchmal: Wenn ich höre, wie ein anderer was Olles über meine Freundin sagt, ob ich ihr das weitersagen soll.«),
- Kinder zu ermutigen, sich aktiv und gemeinsam mit anderen für Gerechtigkeit einzusetzen und sich gegen einseitige oder diskriminierende Verhaltensweisen zur Wehr zu setzen, die gegen sie selbst oder gegen andere gerichtet sind.
2. Die Fähigkeit, selbst autonom zu handeln
Solidarität setzt aber auch die eigene Autonomie voraus, denn Solidarität ohne Autonomie ist Handeln aus Gehorsam oder Gruppenzwang. Solidarisch kann eine Handlung nur genannt werden, wenn sie freiwillig erfolgt. Nach der Self-Determination Theory (Ryan/ Deci 2000) haben Kinder von Anfang an das Bedürfnis, über ureigenste Angelegenheiten zu bestimmen. Sie streben nach Selbstregulation der eigenen Handlungen und wollen eigene Handlungsziele selbst festlegen. Während fremdreguliertes Handeln mit dem Gefühl von Druck, Einschränkung und Zwang einhergeht, wird selbstbestimmtes Handeln begleitet von Gefühlen der Ganzheit, Vitalität und Freiwilligkeit.
Späteres autonomes Handeln setzt auf dieses Bedürfnis auf, ist aber davon zu unterscheiden. Grob gesagt handelt es sich um die Fähigkeit, eigene Ziele auf der Basis dessen, was man begründet für gut, richtig und wichtig hält, zu bestimmen und auch unter herausfordernden Bedingungen an ihnen festzuhalten. Welzer und Pauen (2015) beschreiben diese Fähigkeit als eine natürliche Fähigkeit wie »Lesen, Sprechen, Rechnen und Schreiben«, deren Entwicklung im frühen Kindesalter beginnt und für deren Erwerb kulturelle Prozesse eine wichtige Rolle spielen. Stark beeinflusst wird die Entwicklung dieser Fähigkeit davon, ob die (pädagogische) Umwelt autonomes Denken praktiziert (Welzer/Pauen 2015, S. 175) - zum Beispiel, indem gemeinsam nachgedacht wird - und das soziale Umfeld das Bedürfnis nach Autonomie unterstützt (Deci/Ryan 1993) - zum Beispiel durch das Erzeugen von Selbstwirksamkeitserwartungen bei Kindern im Kita-Alltag. Hier konzentrieren wir uns auf den zweiten Punkt.
Zu den Aufgaben von pädagogischen Fachkräften gehört es daher, Kinder in ihrer Selbstwirksamkeitserwartung zu bestärken, indem sie
- Kinder zu eigenen Initiativen und Handlungen sowie zum Ausprobieren noch unbekannter Handlungen ermutigen (»Probier ruhig, die Soße selbst aufzufüllen. Ich bin ja da und kann dir helfen, wenn es nicht klappt.«),
- Situationen bewältigbar gestalten (zum Beispiel beim Essen kleine Schüsseln nutzen, damit auch junge Kinder sie sich einander ohne Probleme reichen können),
- Autonomiebedürfnisse von Kindern respektieren (zum Beispiel nicht zum Aufessen, Trinken oder Schlafen zwingen),
- angemessen assistieren. Dabei sind Assistenzhandlungen angemessen, wenn zuerst die Handlungsabsicht des Kindes beobachtet und in Worte gefasst (verbal gespiegelt) wird, dann eine Lösung (verbal) vorgeschlagen und ein Assistenzangebot gemacht wird und die pädagogische Fachkraft erst nach Zustimmung des Kindes ihm zur Hand geht (zum Beispiel einen Gegenstand reicht oder einen Bewegungsablauf des Kindes durch nonverbale Assistenz unterstützt). Unangemessen ist Assistenz dann, wenn sie ohne vorherige Zustimmung des Kindes geleistet oder von einem unangemessenen verbalen Kommentar begleitet wird. Aber auch dann, wenn die Fachkraft ohne Zustimmung des Kindes etwas tut, was das Kind allein tun will, und die Assistenzhandlung die Handlung eines Kindes unterbricht (Hildebrandt et al. 2021).
Wie häufig kommen solche solidaritätsförderlichen Impulse in Krippen vor?
Solidaritätsförderliche Handlungen im pädagogischen Alltag haben, wie hier dargestellt wurde, zwei zentrale Komponenten. Einmal geht es darum, Impulse zu geben, die die Kinder unterstützen, die Autonomie anderer Kinder wahrzunehmen. Besonders wichtig ist es dabei, Grenzüberschreitungen unter Kindern zu erkennen, zu benennen und sich ihnen entgegenzustellen. Zum anderen geht es darum, die Kinder in der Entwicklung ihrer eigenen Selbstwirksamkeitserwartung zu unterstützen. Denn Menschen, die solidarisch handeln, müssen die Bedürfnisse anderer Menschen erkennen und anerkennen und sie müssen in der Lage sein, auch unter schwierigen Bedingungen (zum Beispiel gegen den Gruppendruck) basierend auf dem, was sie selbst für richtig halten, zu handeln - also autonom.
In der Studie »Beteiligung von Kindern im Kita Alltag« (BiKA) haben wir in 89 Krippen deutschlandweit videografiert (Hildebrandt et al. 2021). In Bezug auf die Unterstützung der Entwicklung der Kompetenz, die Autonomie anderer anzuerkennen, haben wir gefunden, dass das Sprechen über die Innenwelt (Absichten, Wünsche, Bedürfnisse, Emotionen) in der Kommunikation mit Kindern vorkam, wenn auch seltener als wünschenswert. Beim Anschauen eines Buchs, das wir für das Sprechen über mentale Zustände entworfen haben, wurde von 40 Prozent der Fachkräfte in einer 20minütigen Buchanschausequenz wenigstens einmal ein mentaler Zustand benannt; 30 Prozent der Fachkräfte taten das in Spielsituationen und 19 Prozent in Essenssituationen.
Dass Fachkräfte Äußerungen eines Kindes für ein anderes Kind verständlich machten (»dolmetschen«), kam ebenfalls nicht häufig vor (Spielen: 17 Prozent), beim Essen fast nie (2 Prozent). Bei Konflikten während des Essens erhielten die Kinder in 73 Prozent der Fälle keine Unterstützung. In 40 Prozent der Konfliktsituationen beim Spiel bekamen die Kinder entweder keine Reaktion von der Fachkraft oder aber es wurde ihnen direkt eine Lösung vorgegeben. (Das waren 74 Prozent der Situationen, in denen die Fachkraft eine Reaktion zeigte.) Sehr gut ist, dass Fachkräfte Kinder kaum selbst diskriminierten oder beschämten. Allerdings duldeten sie in circa 50 Prozent der beobachteten Fälle Ausgrenzung und Diskriminierung unter Kindern. Was die Unterstützung der Selbstwirksamkeitserwartung betrifft, war insbesondere in der Essenssituation zu beobachten, dass Fachkräfte stark direktive oder negierende Handlungsanweisungen gaben (96,4 Prozent), den eigenen Willen gegen den Willen eines Kindes durchsetzten (66,7 Prozent), Dinge taten, die das Kind allein tun wollte oder konnte (50 Prozent), und nicht angemessen assistierten (in 98 Prozent der beobachteten Essenssituationen).
Deutlich wurde hier exemplarisch, dass in beiden Bereichen Handlungsbedarf besteht. Kinderrechtsbasiertes pädagogisches Handeln, das solidaritätsförderlich ist, muss noch stärker Gegenstand von Aus und Fortbildung von Pädagog*innen sein!
Prof. Dr. Frauke Hildebrandt
Lehrt im Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften an der Fachhochschule Potsdam.
Dr. Ramiro Glauer
Akademischer Mitarbeiter im Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften an der Fachhochschule Potsdam.
Anmerkung
1 Einige der genannten pädagogischen Handlungen stammen aus den für die BiKA-Studie entwickelten Manualen.